„Hertha-Niveau“ beim Sport für Kinder

Professor Werner Schmidt (Universität Duisburg-Essen) dokumentierte im zweiten Vortrag beim 24. Darmstädter Sport-Forum harte Daten und fand harte Worte zu den großen Mängeln im „Kindersport für Alle“.

Kinder brauchen Sport. Copyright: picture-alliance
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„Hertha-Niveau in der Bundesliga, das ist unser Niveau im Elementarbereich“, sagte er. Die Ergebnisse vieler Studien sind seit Jahren alarmierende Menetekel.

Der Leidensdruck, verstärkt in Großstädten, werde jedoch für die Kommunen, aber auch die Landespolitik immer größer. „Es wird etwas passieren“, sagte er. Dagegen reagierte die Bundesebene träge. „Frau Schavan, Frau von der Leyen und auch unsere Bundeskanzlerin sind sicher keine Sportfanatiker“, sagte Schmidt. Sport spiele hier eine unterbelichtete Rolle in der politischen Diskussion.

Wer Kinder frühzeitig begeistert - Nachwuchs aus Risikogruppen wird in Deutschland erst mit fünf, sechs erreicht - erzielt mit nachhaltiger Förderung für Leistungsschwache verblüffende Effekte. Neben Beweglichkeit und Konzentration verbessert sich Sprache. „Die stärksten Effekte haben wir bei den gehemmten Kindern.“ Sport ist neben der Schule der einzige Sektor, der alle Kinder erreicht, ohne Unterschied des Alters, Geschlechts und der Nationalität. „Zwei Drittel aller Kinder und Jugendlichen beschäftigen sich schwerpunktmäßig mit ihm.“ Lehrer und Übungsleiter sollten normative Vorstellungen vermeiden und Kinder so nehmen wie sie sind.

Erheblicher Modernisierungsdruck

„Deutschland hat erheblichen Modernisierungsdruck“. Auch diese These stützte der Essener Sportwissenschaftler mit Zahlen: Im Elementarbereich betreut eine Kindergärtnerin 24 (in Skandinavien sieben) Sprösslinge. Lediglich 11,2 Prozent Kindertagesplätze gibt es. In Skandinavien setzt Ganztagsbetreuung im zweiten Lebensjahr ein. Hierzulande werden viele Kinder erst im Alter von sechs Jahren angesprochen. „Da ist es im Grunde schon viel zu spät, da ist das Kind schon in den Bach gefallen. Es gibt bis jetzt noch kein Pflicht-Modul Bewegung Spiel und Sport.“

In den Grundschulen arbeiten 80 Prozent nicht ausgebildete Sportlehrer. Das Durchschnittsalter der Pädagogen beträgt 55 Jahre. Schmidt, Mitherausgeber und Autor des ersten und zweiten Deutschen Kinder- und Jugendsportberichtes: Kinder brauchen eine Stärkung ihrer Ressourcen, sie brauchen die Anerkennung in der Gruppe und sie brauchen die Anerkennung der Lehrer und Trainer.“

Im Sport erfahren sie am eigenen Körper, was sie dazu gelernt haben und bekommen soziale Anerkennung, was die Begeisterung weckt. Zweimal pro Woche Training, am Wochenende Wettkämpfe und drei Stunden Schulsport, lautet sein Rezept für das körperliche Wohlbefinden der Kleinen. Derzeit werden von drei etwa 2,2 Stunden Sport in Grundschulen gehalten – meist fachfremd. „Vier Jahre lang Häschen hüpf, ist eigentlich zu wenig als inhaltliches Angebot für die Grundschule.“

Risikofaktoren wie Übergewicht/Adipositas steigen bei Kindern zwischen sechs und zehn Jahren (von 9,1 auf 15,4 Prozent). 5,5 Prozent Kinder und 12,5 Prozent Jugendliche offenbaren  motorische Schwächen, ein Drittel Koordinationsschwächen. Kinder mit fünf Stunden Sitzunterricht verlieren in der letzten Stunde 40 Prozent ihrer Aufmerksamkeit. Kinder mit zwei großen Bewegungspausen (je 30 Minuten) sind zwölf Prozent konzentrierter. Kinder mit großen Bewegungspausen und einem Schulalltag der bewegt, gewinnen 52 Prozent mehr Konzentration.

Die Entwicklungsschere springt in den sozialen Brennpunkten auf. Alleinerziehende Frauen, Kinderreiche deutsche und Migranten-Familien sowie arbeitslose Haushalte bilden die größten Risikogruppen. Schmidt „Wer sich als Kind nicht bewegt hat, wird sich im Alter nicht bewegen. Physische Aktivität (Alltagsbewegung, täglich fünf bis sechs Kilometer) ist wertvoller als physische Fitness (Training). Bei Kindern verzeichnet Schmidt hier und den Senioren die größten Abnahmen. In den letzten 30 bis 40 Jahren hat der Straßenverkehr um 500 Prozent zugenommen. „Sieben Achtel der informellen Bewegungs- und Spielflächen sind dadurch verloren gegangen.“

Studienfach Kindergärtnerin

Kinder zieht es heutzutage früh in die Vereine . Sie sind aber auch schneller wieder draußen. Sie steigen häufig im Alter von drei, vier, fünf Jahren ein, mit sieben Jahren kulminiert die Mitglieder-quote. Dafür steigen sie im Jugendalter mit elf, zwölf Jahren wieder aus. Auf diese Koordinaten-Verschiebung wissen Clubs selten angemessene Antworten.

Schmidts Handlungsempfehlungen klangen simpel: Bewegungskindergärten sollten die Sprösslinge bereits im Alter von drei Jahren abholen. Qualifizierte Ausbildung der Betreuerinnen und Betreuer tut Not. Schmidt: „In Skandinavien ist Kindergärtnerin ein Studienfach.“ Die bewegte Grundschule gelte es flächendeckend einzurichten. Die Realität schaut anders aus Beispiel Nordrhein-Westfalen: Dort wurden von 9.500 Grundschulen in den letzten zehn Jahren erst 220 mit diesem Prädikat zertifiziert.

Abkehr von früher sportspezifischer Spezialisierung, dafür polysportiven (vielseitige) Grundausbildung hieß das vierte Credo des Sportpädagogen. Die Schweiz sammelt mit dieser Rückbesinnung gute Erfahrungen. Schmidt: „In Skandinavien ist es Kraft Kindersportgesetz verboten bis zwölf Jahre reguläre Wettkämpfe anzubieten.“ Er pochte zugleich auf Basislehrpläne für alle Sportfachverbände (Koordination, Bewegungsvielfalt, kleine einfach erlernbare Spiele). „Dieses Umsteuern wäre ohne große Investitionen möglich, damit relativ kostenneutral.“


  • Kinder brauchen Sport. Copyright: picture-alliance
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