Optimale Verbindung von Schule und Leistungssport

Albrecht Hummel, Prorektor und Inhaber der Professur für Sportpädagogik und -didaktik an der TU Chemnitz beantwortete im Interview Fragen zu den "Eliteschulen des Sports".

Schule und Leistungssport zu vereinbaren, ist oft gar nicht so einfach. Foto: picture-alliance
Schule und Leistungssport zu vereinbaren, ist oft gar nicht so einfach. Foto: picture-alliance

DOSB PRESSE: Was ist der praktische Ansatz für das „Brandenburger Modell“?

ALBRECHT HUMMEL: Der Kerngedanke besteht darin, für junge Leistungssportler eine optimale Verbindung von schulischer und leistungssportlicher Karriere zu finden. Ausgangspunkt waren Überlegungen in der Politik und im Sport des Landes Brandenburg, wie jungen Athleten eine spitzensportliche Karriere ermöglicht werden kann, ohne dass dies zu Lasten ihrer schulischen Bildungskarriere geht. Im Ergebnis entstand vereinfacht ausgedrückt ein Modell, das die bisherige Mischstruktur von Schule und Verein, das additive Nebeneinander von Schule und Leistungssport, aufhebt. Obwohl sich die Eliteschulen des Sports in Kooperation mit dem Landessportbund und dem Olympiastützpunkt in den 90er Jahren in Brandenburg zunehmend gefestigt hatten, gab es immer noch zu viele Reibungsverluste. Ihre Möglichkeiten im Sinne einer strukturellen Verkoppelung beider Systeme wurden noch nicht optimal ausgeschöpft. Auf der Grundlage dieser Erfahrungen und Einsichten wurde eine Arbeitsgemeinschaft „Systemumstellung“ gegründet, um weitere Verbesserung auf den Weg zu bringen. In dieser AG fanden sich Vertreter der Schulen, der Schulämter, des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport und natürlich des Landesport-bundes sowie des Olympiastützpunktes zusammen. Das Projekt wird von mehreren Sportwissenschaftlern begleitet, aber auch von der FG Nachwuchsleistungssport des Instituts für Angewandte Trainingswissenschaft in Leipzig aufmerksam begleitet und unterstützt.

DOSB PRESSE: Wie sehen die „Eliteschulen des Sports“ neuer Prägung aus?

HUMMEL: Sie funktionieren nach dem wissenschaftlichen Grundsatz der Inklusion im Sinne eines Inklusionsmodells. Das bedeutet: Leistungssportliche Inhalte werden vollständig in die Schule und das schulische Unterrichtsgeschehen einbezogen. Das leistungssportliche Training findet also vollständig im Kontext der Institution Schule statt, leistungssportliches Trainieren und Wettkämpfen werden somit Teil des schulpädagogischen Gesamtprozesses. Zugespitzt formuliert: Leistungssportliches Training wird als eine besondere Qualität von spezialbildendem Unterricht verstanden. Eine bestimmte leistungssportlich betriebene Disziplin wird somit zu einem Unterrichtsfach, grundsätzlich wie Deutsch oder Mathematik, oder übertragen auf die spezial-bildendende Ebene wie ein Fach Bühnentanz an der Palucca-Schule in Dresden oder ein Fach Jonglage an einer Spezialschule für Akrobaten in Berlin. Ziel ist es, ausgewählte olympische Sportarten und ihre künftigen Protagonisten auf der internationalen Bühne komplett in die Schule zu integrieren. Grundlage dafür ist das Schulgesetz des Landes Brandenburg. Das bildet den Rahmen und die rechtliche Grundlage für die eingerichteten Spezialschulen Sport in Potsdam, Frankfurt (Oder) und Cottbus. Diese Schulen verstehen sich als spezielle schulische Einrichtungen zur Förderung sportlicher Begabungen im Sinne der einschlägigen KMK-Empfehlungen.

DOSB PRESSE: Wie muss man sich das praktisch vorstellen?

HUMMEL: An den drei „Eliteschulen des Sports“ wird das skizzierte Inklusionsmodell seit dem Schuljahr 2008/2009 praktiziert. Es beschränkt sich derzeit auf die Sekundarstufe I, also auf insgesamt 1031 Schüler und 214 Lehrkräfte, die in diesen Klassenstufen unterrichten, wobei wir bisher nur längsschnittliche Erfahrungen mit jenen Schülern haben, die nach den Sommerferien in die Klassenstufe 9 wechseln werden. Die jungen Sportler sind an den drei Standorten in insgesamt 16 olympischen Sommersportarten zu Hause, wobei die Palette von Kanu und Rudern bis zum Modernen Fünfkampf reicht. Diese Sportarten werden grundsätzlich wie Unterrichts-fächer behandelt, die einer programmatischen Grundlage bedürfen, welche der pädagogischen Logik des Schulbetriebs Rechnung trägt. Das heißt, man braucht für diese spezialbildenden Unterrichtsfächer spezielle Lehrpläne. Das zu bewerkstelligen war und ist natürlich ein sehr schwieriger und aufwändiger Prozess. Denn es bedeutete für 16 olympische Sportarten schulinterne Lehrpläne zu entwickeln, die sowohl den Anforderungen des modernen Nachwuchsleistungssports Rechnung tragen als auch der pädagogischen Anforderungslogik der Institution Schule entsprechen. Auf der Grundlage dieser speziellen Lehrpläne wird in den ganztätig betriebenen Schulen trainiert, bei entsprechendem Bedarf auch zweimal täglich. Diesen Schulen ist jeweils ein Internat angeschlossen, in denen über 60 Prozent der Schüler wohnen.

DOSB PRESSE: Das klingt nach einem Bedarf an hochspezialisierten Sportlehrern?

HUMMEL: So ist es, anders geht es gar nicht. Diese sowohl schul- als auch trainingspädagogisch hochspezialisierten Sportlehrer sind tatsächlich so etwas wie die Schlüsselfiguren für das Gelingen des Inklusionsvorhabens. Solche Lehrpläne mitzugestalten, angemessen zu rezipieren und praktisch umzusetzen, das setzte eine hoch qualifizierte, spezielle Fachlehrerschaft voraus. An diesen drei Schulen arbeiten insgesamt 66 so genannte Lehrertrainer. Sie verfügen einerseits über eine Lehramtsbefähigung für diese Schulform und außerdem über eine sportartspezifische Trainerlizenz, am Anfang zumindest eine B-Lizenz. Die Lehrertrainer gehören in jeglicher Hinsicht zum Lehrerkollegium, sie sind Lehrer dieser Schule wie alle anderen Lehrer auch, jedoch mit einem besonderen Profil. Aus der Sicht der Schulämter handelt es sich um Fachlehrer mit einem speziellen fachlichen Profil

DOSB PRESSE: Wo liegt der praktische Nutzen des Modells?

HUMMEL: Die Absicht besteht darin, eine höhere Qualität des Trainings zu erreichen, Reibungs-verluste zu vermeiden und sportliche wie schulische Entwicklung der jungen Athleten praktisch aus einer Hand zu garantieren. Außerdem gibt es auf diese Weise Synergieeffekte zwischen allgemeinbildenden Unterricht und spezialbildendem Unterricht. Die Schüler haben es jetzt nicht mehr mit dem allgemeinbildenden Sportlehrer einerseits zu tun und andererseits mit einem Trainer, bei dem sie außerhalb der Schule trainieren. Die Schüler haben es jetzt mit einem Lehrertrainer zu tun, von dem die jungen Sportler auch über den schulischen Alltag betreut werden. Dem Lehrertrainer muss es gelingen, die Erfordernisse des allgemeinbildenden Schul-sports mit den Anforderungen des leistungssportlichen Trainings in einer Sportart in Einklang zu bringen. An diesen Anforderungen wird deutlich, dass es sich bei Lehrertrainern um ein schuli-sches Fachpersonal handelt, welches ein ganz besonderes Profil aufweist. Die Lehrertrainer sind in das pädagogische Gesamtkonzept der Schule eingebunden. Für sie ist damit auch eine berufliche und soziale Absicherung garantiert. Lehrertrainer gehört zum Kollegium der Schule, wie alle anderen Fachlehrer auch. Wenn pro Spezialschule Sport etwa 20 Lehrertrainer arbeiten, dann hat das natürlich nicht nur Einfluss auf die Qualität der Verknüpfung von allgemeinbildenden und spezialbildendem Sportunterricht, sondern auch auf das pädagogische Klima dieser Schulen insgesamt. Es wird von wissenschaftlichem Interesse sein, die Entwicklung dieses Schulklimas zu beobachten, insbesondere wie es gelingt, die Beziehungen zwischen den Lehrern für die allgemeinbildenden Fächer und den Lehrertrainern, die zirka ein Viertel des Lehrerkollegiums dieser Schulen ausmachen, produktiv für die weitere Profilierung dieser Schulen zu nutzen.

DOSB PRESSE: Welches ist Ihr Part als Wissenschaftler?

HUMMEL: Ziel ist unter anderem, eine Dokumentation zu erstellen, die zeigen soll, wie sich die Schüler unter den neuen Bedingungen individuell entwickeln. Das ist eine große Herausforderung für die Wissenschaft, weil es sich bei diesen Schulen um hochkomplexe Systeme und eine Langzeitstudie handelt. Erste belastbare Ergebnisse sind nach dem ersten Durchlauf der komplet-ten Sekundarstufe I zu erwarten. Es zeichnet sich jetzt schon ab, dass die verschiedenen Sportarten unterschiedlich von diesem Modell profitieren werden. Eventuell stellt sich auch heraus, dass für ganz bestimmte Disziplinen dieses Modell nicht geeignet ist. Auch wird sehr interessant sein zu beobachten, wie die Schüler vielleicht den Wechselkorridor innerhalb ihrer Schule nutzen und sich von einer Sportart, in der sie ursprünglich als hoffnungsvolles Talent galten, nach etwaigen Stagnationen abwenden und sich zu einer anderen Sportart hinwenden. Immerhin würde der junge Sportler damit sein gewohntes Umfeld behalten. Diese Wechsel-möglichkeiten gibt es allerdings nur, wenn an einer Spezialschule mehrere Sportarten gefördert werden. Sie muss also auch über eine bestimmte Größe verfügen. Nur dann, wenn eine bestimmte Zahl von Athleten dort lernen, lohnt es sich zum Beispiel für Olympiastützpunkte in der Umgebung, dort umfassende psychologische oder medizinische Unterstützung zu leisten.

DOSB PRESSE: Könnte das Modell auf andere Bundesländer übertragen werden?

HUMMEL: In der wissenschaftlichen Diskussion wie auch in der breiten gesellschaftlichen Öffentlichkeit gibt es dazu unterschiedliche Positionen: Die Befürworter sagen: Wir brauchen diese Eliteschulen für den Sport unbedingt. Dazu gäbe es letztlich keine vernünftige Alternative. Andere meinen, solche Spezialschulen sind nicht zwingend notwendig, denn die traditionelle additive Verbindung von Schule und Verein biete auch brauchbare Lösungen. Damit ist natürlich auch die Grundsatzfrage verbunden, ob und in welcher Weise unsere moderne Zivilgesellschaft den Spitzensport überhaupt will. Wer die staatliche Förderung des Spitzensports grundsätzlich ablehnt, der kann sich auch dem Thema „Eliteschulen des Sports“ im Grunde genommen nicht konstruktiv nähern. Prinzipiell wüsste ich nicht, warum das, was in Brandenburg praktiziert wird und möglich ist, nicht auch auf Baden-Württemberg, Bayern oder Schleswig-Holstein übertragen werden könnte. Für eine solche institutionelle Lösung zur Verbindung von Schule und Leistungssport braucht es selbstverständlich den schul- und sportpolitischen Willen und das Bemühen, die finanziellen Mittel für derartige Vorhaben zu konzentrieren.

DOSB PRESSE: Das heißt, die Länderparlamente und Fachministerien müssten entscheiden, ob sie Eliteschulen von der Art Brandenburgs wollen?

HUMMEL: Es liegt in der Natur der föderalen Ordnung in Deutschland, welche das Schulsystem in die Hoheit der Länder legt. Es setzt also entsprechende politische Entscheidungen in den Ländern voraus, um solche Vorhaben zu legitimieren. Nur unter dieser Voraussetzung kann entsprechend in den Nachwuchsleistungssport investiert werden. Denn natürlich ist klar, dass dieses Modell einer sportlichen Begabungsförderung in den Schulen einen pädagogischen Mehraufwand bedeutet. Einen Mehraufwand, wie er ebenfalls hinsichtlich der Begabungs-förderung in den Bereichen Mathematik, Sprachen, Musik oder bei Spezialeinrichtungen für Behinderte notwendig ist. Wer sich zum Leistungssport und Spitzensport bekennt, der muss auch Verantwortung übernehmen, weil Karrieren in diesem Begabungsförderungsbereich stärker mit Risiken behaftet sind. Mit dem Risiko, ob trotz allen Bemühens einem Schüler eine sportliche Karriere gelingt, kann der Sportler selbst oder sein Elternhaus nicht allein gelassen werden. Das hat etwas zu tun mit präventiver pädagogischer Verantwortungsethik. Deshalb haben beim Thema „duale Karriere“ über die Schulen hinaus die Politik, die Wirtschaft, die Universitäten und auch der Mittelstand eine gesteigerte Verantwortung.

DOSB PRESSE: Sie meinen damit gut funktionierende Instrumente jenseits und im Anschluss an die Eliteschule des Sports?

HUMMEL: Unbedingt, denn für die Weiterführung einer erfolgreichen Leistungssportkarriere nach dem Abschluss an einer Eliteschule des Sports bedarf es weit besserer Verbindungsmöglichkeiten von Spitzensport und Studium, als wir sie heute haben. Meines Erachtens sind diese Versäumnisse der Universitäten und Hochschulen ein Grund dafür, weshalb sich so viele junge Athleten nach ihrer Schulzeit vorrangig unter das Dach der Sportgruppen von Bundeswehr und Bundespolizei begeben. Es gibt zwar inzwischen über 85 Partnerhochschulen des Spitzensports, aber die jeweiligen Studienangebote müssten noch viel spezieller auf die Anforderungen und Bedingungen der Kaderathleten zugeschnitten werden. Wir haben bei uns an der TU Chemnitz für jeden Kaderathleten, der an einer unserer Fakultäten studiert, ein recht aufwändiges, jedoch wirkungsvolles individuelles Tutorensystem eingerichtet. Aber selbst diese Lösung ist noch suboptimal. Die Entscheidung bezüglich der Fortsetzung einer leistungssportlichen Laufbahn darf nicht zum inneren Konflikt des Athleten führen, dass er sich bei einer positiven Entscheidung für den Spitzensport den Weg zu einer gesicherten bürgerlichen Existenz verbaut. Noch gibt es zu viele Fälle, in denen dieser Übergang nicht gelingt. Noch ist die Quote der Abbrecher im Dilemma zwischen sportlicher und beruflicher Karriere zu hoch. Wenn wir alle Juniorenweltmeister und Top-Athleten aus dem Juniorenbereich über die Schulzeit hinaus weiter optimal fördern könnten, dann wäre der deutsche Sport sicher weit erfolgreicher. In unserer Langzeitstudie in Cottbus, Frankfurt (Oder) und Potsdam wird es auch wichtig sein zu beobachten, welche Auswirkungen für die spätere berufliche Karriere der Sportler dieses Modell haben wird.


  • Schule und Leistungssport zu vereinbaren, ist oft gar nicht so einfach. Foto: picture-alliance
    Schule und Leistungssport zu vereinbaren, ist oft gar nicht so einfach. Foto: picture-alliance