Sport - Potenzial zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen

Im Interview nimmt der Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, zur Situation des Kinderschutzes im Sport Stellung.

Johannes-Wilhelm Rörig ist der unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Foto: Bundesregierung/Rieken
Johannes-Wilhelm Rörig ist der unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Foto: Bundesregierung/Rieken

Welche besonderen Möglichkeiten sehen Sie für den organisierten Sport als große zivilgesellschaftliche Organisation, den Schutz von Kindern vor sexuellen Übergriffen zu verbessern?

JOHANNES-WILHELM RÖRIG: Rund 7,5 Millionen Kinder und Jugendliche, das ist über die Hälfte aller Mädchen und Jungen in Deutschland, sind in Sportvereinen aktiv. Das macht die große gesellschaftliche Verantwortung deutlich, die der Sport im Bereich des Kinderschutzes hat. Der DOSB trägt diese Verantwortung und hat bereits sehr gute Handreichungen gegen sexuelle Gewalt entwickelt. Auch mit der aktiven Mitarbeit am Runden Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch“, der Erklärung der Mitgliederversammlung des DOSB vom 4. Dezember 2010 zum „Schutz vor sexualisierter Gewalt im Sport“ und der Unterzeichnung der „Vereinbarung zur Umsetzung der Empfehlungen des Runden Tisches Sexueller Kindesmissbrauch“ zwischen mir und dem DOSB-Präsidenten Dr. Thomas Bach am 19. April 2012 ist bereits auf oberster Verbandsebene ein sehr stabiles Fundament für das weitere Engagement zur Verbesserung des Schutzes der Kinder und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt im organisierten Sport geschaffen worden. Jetzt ist es wichtig, dass diese klare Haltung und Willensbekundung von allen Landessportbünden sowie den olympischen und nicht olympischen Sportarten mit aktiver Präventionsarbeit gefüllt wird und wirkungsvolle Schutzkonzepte in den Vereinen auch konsequent zur Anwendung kommen. Einige Landessportverbände und Sportverbände arbeiten bereits vorbildlich und nehmen ihre Verantwortung für den Schutz der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen ernsthaft wahr, andere sind nun gefordert nachzuziehen. Der hervorragende „Handlungsleitfaden für Sportvereine“ der Deutschen Sportjugend sollte als wichtige Unterstützung für jeden der 91.000 Sportvereine dienen.

Welche besonderen Risikosituationen sollte der organisierte Sport aus Ihrer Sicht beachten?

Zunächst: Sportliche Aktivitäten beinhalten ein wunderbares Potenzial zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen. Sport fördert die Persönlichkeitsentwicklung, im Sport lernen Kinder Fairness und Vertrauen und Verlässlichkeit im Miteinander. Aber: Es besteht auch ein besonderes Nähe- und Vertrauensverhältnis, das leicht ausgenutzt werden kann. Beispielsweise ist je nach Sportart Körperkontakt unerlässlich, eine besondere Nähe entsteht auch durch Turnierfahrten, gemeinsame Übernachtungen oder gemeinsames Umkleiden und Duschen. Täter können mit Kindern und Jugendlichen ein besonderes Vertrauensverhältnis aufbauen, das ihnen Gelegenheiten zu sexuellen Übergriffen und sexueller Gewalt eröffnen kann. Für den Sport ist es deshalb besonders wichtig, einen klaren Verhaltensleitfaden in Bezug auf Nähe und Distanz zu haben, um den Trainings- und Turnierbetrieb für alle transparent zu gestalten. Hier genau müssen die Schutzkonzepte der Vereine ansetzen. Problembewusstsein, eine gute Risikoanalyse und darauf aufbauend spezifische Präventionsmaßnahmen, offene Kommunikation und ein Klima der Aufmerksamkeit in jedem Verein sind eine gute Basis für einen wirksamen Schutz. Aber auch die Kinder und Jugendlichen müssen über sexuelle Gewalt aufgeklärt sein und wissen, wo ihre Grenzen sind und an wen sie sich im Verdachtsfall oder bei Übergriffen wenden können. Ein Basiswissen zu sexueller Gewalt in allen Vereinen ist wichtig, um sexualisierte Gewalt durch Haupt- und Ehrenamtliche zu verhindern, aber auch, damit es in diesem Themenfeld kompetente Trainerinnen und Trainer gibt, die vertrauensvolle Ansprechpersonen für die Mädchen und Jungen sein können, die sexuelle Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen oder im familiären Umfeld erfahren. Die Schutzkonzepte sollen Kinder und Jugendliche schützen und allen Akteuren Verhaltenssicherheit im Sport geben.

Der organisierte Sport sieht sich in der Öffentlichkeit bisweilen pauschal an den Pranger gestellt, als sicherer Hort für Täter oder „kontaminierter Boden“, in dem die Saat – gemeint ist hier der Schutz von Kindern – nicht aufgehen könne. Was halten Sie von solchen Äußerungen?

Von derartigen Äußerungen und einem Generalverdacht gegen den organisierten Sport halte ich gar nichts. Wir wissen heute, dass sexuelle Gewalt in jeder Einrichtung und jeder Familie vorkommen kann. Es geht deshalb nicht um einen Generalverdacht gegen den Sport, sondern darum, dass der Schutz vor sexueller Gewalt ein unerlässlicher Qualitätsstandard in Einrichtungen wird. Es muss vom organisierten Sport, von Verbänden und Vereinen, über alle Verantwortungsebenen hinweg sicher gestellt werden, dass potenzielle Täter und Täterinnen durch ein klares und unmissverständliches Leitbild der Verantwortlichen abgeschreckt und Verdachtsfällen sexualisierter Gewalt ernsthaft und sachgerecht nachgegangen wird. Wichtig erscheint mir insbesondere, dass alle hauptberuflich und ehrenamtlich Tätigen in Sportvereinen und –verbänden einen Ehrenkodex unterzeichnen und für sie gute vereinsinterne, oder auch externe Qualifizierungen angeboten und durchgeführt werden. Diese Standards müssen für den Sport ebenso wie für alle anderen Orte gelten, an denen sich junge Menschen aufhalten.

Welche Möglichkeiten sehen Sie als Unabhängiger Beauftragter, die Entwicklung einer Kultur der Aufmerksamkeit für das Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen in den Sportorganisationen zu unterstützen?

Für den Herbst dieses Jahres plane ich eine bundesweite Öffentlichkeitskampagne, die sich beispielsweise auch an die Leitungen von Kindertagesstätten, Schulen, Kirchengemeinden und auch Sportvereinen wendet und diese auffordert, ihr Engagement zur Anwendung von Konzepten zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt in der tagtäglichen Praxis umzusetzen und ein sichtbares Zeichen gegen sexuelle Gewalt zu setzen. Zugleich sollen Eltern durch die Kampagne ermutigt werden, von Einrichtungen die (Weiter-)Entwicklung und Anwendung von Schutzkonzepten aktiv anzufragen bzw. einzufordern Tatsächlich bestehende Hemmnisse und Hürden in der Kommunikation zwischen Vereinsleitungen und Eltern, die sich allein schon aus der Thematik „Sexualität“ ergeben, müssen dringend abgebaut werden. Prävention darf nicht an falsch verstandener Scham oder Peinlichkeit scheitern. Ich setze sehr auf eine starke Unterstützung des organisierten Sports für diese wichtige Kampagne. Bekannte Spitzensportler könnten wichtige Botschafter für die Einführung und Anwendung der Schutzkonzepte sein.

Im kürzlich gegründeten Fachbeirat, der Ihre Arbeit, vor allem das Monitoring der Umsetzung der Empfehlungen des Runden Tisches, begleiten soll, ist der DOSB nicht vertreten. Warum?

Der DOSB ist durch die Vereinbarung vom 19. April 2012 ein besonders wichtiger Kooperationspartner für mich für die Jahre 2012 und 2013. Eine gegenseitige Unterstützung und partnerschaftliche Zusammenarbeit ist zugesagt. In dem von mir berufenen Fachbeirat sind insbesondere Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Beratung und Kinder- und Opferschutz vertreten. Zudem habe ich vier Betroffene sexualisierter Gewalt zu Mitgliedern berufen. Im Fachbeirat werden Schwerpunktthemen, wie die Frage der umfassenden, unabhängigen und systematischen Aufarbeitung von sexueller Gewalt in Deutschland, erforderliche Veränderungen im Strafrecht und bei den Hilfen für Betroffene sexueller Gewalt besprochen. Der Fachbeirat bereitet gemeinsam mit mir einen öffentlichen Diskurs zu diesen Themen für das kommende Jahr vor.

Der Schutz von Kindern und Jugendlichen gegen sexuelle Gewalt wurde in den letzten beiden Jahren in fast allen gesellschaftlichen Bereichen geführt. Es wurden Unzulänglichkeiten aufgedeckt und relevante Entwicklungen verstärkt oder in Gang gesetzt. Wie sollten Kinder und Jugendliche in unserer Gesellschaft im Lichte dieser Diskussion aufwachsen?

Die Verantwortung liegt eindeutig nicht bei den Kindern und Jugendlichen, sondern natürlich bei den Erwachsenen. Diese müssen vertrauensvolle Ansprechpersonen sein und dafür Sorge tragen, dass Kinder altersgemäß aufgeklärt werden, auch über sexuelle Gewalt. Kinder sollten die Kinderrechte kennen, lernen, auch nein sagen zu dürfen, und wissen, dass es gute und schlechte Geheimnisse gibt und Hilfe holen kein Verrat ist. Es ist wichtig, dass Kinder sprachfähig werden zu der Thematik – hierzu gehört aber erst einmal, die Gesellschaft über-haupt sprachfähig zu machen und das Thema weiter aus der Tabuzone zu holen, unaufgeregt und sachlich. Die im Herbst 2012 startende bundesweite Kampagne soll genau zu dieser notwendigen Sensibilisierung und Herstellung einer guten Kommunikationskultur beitragen.

(Quelle: DOSB-Presse, Ausgabe 22)


  • Johannes-Wilhelm Rörig ist der unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Foto: Bundesregierung/Rieken
    Johannes-Wilhelm Rörig ist der unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Foto: Bundesregierung/Rieken