„Verhaltensdimensionen prägen sich früh aus“

Das Motorik-Modul (Testreihe) des Forschungszentrums für den Schulsport in Karlsruhe hat die schwunghafte Diskussion um Bewegungsmangel und -Defizite im Kindes- und Jugendalter belebt.

Bewegungsdefiziten muss frühzeitig entgegengewirkt werden. Copyright: picture-alliance
Bewegungsdefiziten muss frühzeitig entgegengewirkt werden. Copyright: picture-alliance

Die MOMO-Studie von Professor Klaus Bös liefert eine Vielzahl repräsentativer Daten, „das macht eigentlich diese Studie einmalig.“ Ergebnisse der Untersuchung zwischen 2001 und 2007 diskutierte der Sportwissenschaftler im Auftakt-Vortrag beim 24. Darmstädter Sport-Forum („Kinder und Jugend im Fokus der Sportwissenschaft “).

Alle zwei Jahre vermindert sich die Leistungsfähigkeit des Menschen um ein Prozent. Bös: „Verhaltensdimensionen prägen sich früh aus und bleiben in der Lebensspanne relativ stabil.“ Deshalb gilt es im Grundschulalter die funktionelle Reserve auf- und auszubauen: „Man muss relativ früh intervenieren.“ Die Befunde der Karlsruher Studie liefern andere Daten:

Zwischen 1975 und 2006 sank die Leistungsfähigkeit von Kindern. „Zehn Prozent ist eigentlich richtig viel, die uns da verloren gehen.“ Gerade im Grundschulalter, wo sich viele motorische Fähigkeiten leichter erlernen ließen, mangelt es an täglicher Bewegungszeit. Sportunterricht wird überwiegend fachfremd unterrichtet, bundesweit 70 bis 80 Prozent, schätzt Bös.

Bei der motorischen Leistungsfähigkeit erreichen 43 Prozent der Kinder mit der Rumpfbeuge nicht mehr ihre Fußsohle. 35 Prozent können nicht kontrolliert rückwärts laufen. Übergewicht ist ein Grund für die körperlichen Schwächen. Wobei Körpermasse im Bewegungsverhalten (Motorik) hinderlich ist. Bei Kraftübungen (Werfen) kann es Vorteile bescheren.

Auch das Elternhaus bestimmt Aktivität und Fitness. Bei Mädchen („ab zehn Jahren passiert fast nichts mehr“) oder Kindern mit Migrations-Hintergrund ist dies besonders auffällig. Bei vier bis 17 Jahre alten Jugendlichen sind Mitgliedschaften im Sportverein mit 45 Prozent in einem und 13 Prozent in mehreren Clubs quantitativ hoch.

Doch Bös verlangt Qualität: „Kinder sollten mindestens 60 Minuten bei mindestens moderater bis starker Intensität aktiv sein. „Das schaffen im Grundschulalter knapp ein Drittel, im Jugendalter lediglich zehn Prozent. Es ist nicht möglich, fehlende Alltagsaktivität durch eine Stunde Sport pro Woche zu kompensieren“, sagt er. Er schätzt, dass pro Sportstunde im Durchschnitt lediglich 10 bis 15 Minuten – in der Grundschule weniger - aktive Bewegungszeit bleibt. „Der Einfluss der Sportstunden auf körperliche Fitness ist relativ gering.

Über 50 Prozent der Jungen im Verein strengen sich zumindest noch an, bei den Mädchen sind es lediglich bis zu 30 Prozent. Bös fordert deshalb: „Nicht nur die Vielfalt betonen, sondern sich auch tatsächlich anstrengen, dass sie schwitzen.“ Sein Motorik-Modul und den von ihm entwickelten Deutschen Fitnesstest verteidigte er in der lebhaften Diskussion nach dem Vortrag. Deren Übungen seien nicht weltfremd, ignorierten weder den Kindheitsalltag noch die moderne Bewegungswelt der Jugend. Laufen und Springen bilden für Bös weiterhin die Basis für Beweglichkeit und Leistungsfähigkeit. „Diese grundmotorischen Fertigkeiten, das motorische Rüstzeug, sind schlechter geworden.“ Auch weil klassische Bewegungsformen schwieriger zu erlernen sind. „Trendsportarten lernen Sie viel, viel, viel schneller“, begegnete er dem Argument von Professor Franz Bockrath (TU Darmstadt), dem Organisator des Sport-Forums 2009:   „Jugendliche bewegen sich eigentlich nicht weniger, sondern anders.“ Die angesagten Bewegungswelten betonen Geschicklichkeit und Balance (Skatebord, Snowboard, Surfen, Erlebnisparcours, Klettern) und sind in Vereinsangeboten und im Schulalltag unterrepräsentiert.

Die Kinderwelt ist vielfältiger geworden, „die Indoorwelt attraktiver als die Outdoorwelt. „95 Prozent der zehn Jahre alten Kinder haben heute einen Computer, 35 Prozent einen Fernseher in ihrem Zimmer.“ Damit verschwindet die Grundbewegung aus dem Alltag. „Bewegung im Freien ist heute viel schwieriger geworden.“

Bös verlangt vom modernen Sportunterricht zumindest in den kritischen Jahren der Bewegungsunlust während der Pubertät (zehn bis zwölf Jahre) Kinder und ihre Wünsche stärker einzubeziehen und sie an der Unterrichtsgestaltung partizipieren zu lassen.

„Wir brauchen den Körper, weil wir mit dem Körper unsere Persönlichkeit ausdrücken“, heißt für ihn der Schlüssel zur persönlichen Leistungsfähigkeit. Bös löst sich hier vom engen Sportbegriff und rückt qualifizierte Bewegung und Beweglichkeit, gerade im Kindesalter, in den Vordergrund.

„Lebenslange Aktivität und Fitness sind unverzichtbar. Es geht um Vielfalt und Könnens-erfahrung. Kinder brauchen Bewegung, aber sie brauchen ganz sicher auch Sport.“ Die  Ganztagsschule, „in 20 Jahren überall Alltag“, begreift er als große Chance für den Sport. Hier muss sich stärkere Kooperation zwischen Schule und Verein entwickeln.


  • Bewegungsdefiziten muss frühzeitig entgegengewirkt werden. Copyright: picture-alliance
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