Brücken aus Papier
Olympia 2012, Deutschlands Redaktionen schauen nach London. Nicht alle aus gleicher Perspektive: „Ethnomedien“ verfolgen einen eigenen Ansatz, wie zwei Printbeispiele zeigen.

27.07.2012

Beim ersten Gespräch liegt London ein Stück voraus, Turgay Rasit weiß noch nicht, ob es klappen wird: ob sich die Idee, eine Beilage zu den Olympischen Spielen zu veröffentlichen, umsetzen lässt. Es braucht noch das „Evet“, das Ja aus Istanbul. Turgay Rasit ist Redaktionsleiter der Europa-Ausgabe von „Hürriyet“, jener auflagenstärksten Zeitung der Türkei, die von Dogan Media International publiziert wird. Sie erscheint außer in ihrer Heimat in 13 weiteren Ländern, in Gestalt besagter Europa-Ausgabe, die in Mörfelden bei Frankfurt am Main produziert wird – Deutschland ist für „Hürriyet“ der mit Abstand zweitwichtigste Markt des Kontinents.
Das Projekt Olympia-Beilage beschreibt ganz gut, wie man sich die Entstehung des von Chefredakteur Halit Çelikbudak und Rasit verantworteten Blatts vorstellen darf: Die türkische Zentralredaktion und die Kollegen in Deutschland kooperieren, wobei erstere das Gros der Inhalte (über zwei Drittel) liefert und auch wichtige Entscheidungen im Stammland fallen. Das Olympia-Special etwa wird am Ende abgenickt, was insofern bemerkenswert ist, als „Hürriyet“ Europa im Sport vorwiegend über Fußball berichtet – auf 75 bis 80 Prozent überschlägt Rasit den Anteil am Ressort – und viele olympische Sportarten in der Türkei besonders schweren Stand haben; möglicherweise bringt Istanbuls Bewerbung um die Spiele 2020 die Verhältnisse in Bewegung.
Heimspiel mit Medien
Das DOSB-Programm „Integration durch Sport“ nahm die Eröffnung der bundesweiten „Interkulturellen Woche“ zum Anlass für ein „Heimspiel“. So lautete der Titel eines Gesprächsforums, das am 21. September – dem „Tag der Integration“ des DOSB – in Potsdam stattfand. Führende Mitglieder von Migrantenorganisationen, Medienschaffende, andere Protagonisten aus dem Umfeld von Integration und Sport waren eingeladen, nach gemeinsamem Aufwärmen in zwei Teams zukunftsweisende Themen zu diskutieren: erstens wie sich Integration durch Sport weiter vorantreiben lässt, zweitens wie die Zusammenarbeit mit Migrantenorganisationen und Medien diesen Prozess unterstützen kann. Die Moderation übernahmen Coaches aus dem interkulturellen Improvisationstheater.
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„Hürriyet“ wird seit 1969 auch in Deutschland gedruckt, zuletzt in einer Auflage von etwa 76.000 Exemplaren. Für ihre Leser und Produzenten ist sie eine türkische Zeitung mit erweitertem Fokus. Im politisch-wissenschaftlichen Sprachgebrauch gilt sie als „Ethnomedium“ - ein Begriff, den etwa Gürsel Köksal, Leiter Kommunikation bei Dogan International, „irritierend“ findet, der aber schwer Ersatz findet. Er bezieht sich auf Zeitungen, Magazine, Radio- und TV-Sender sowie Internetangebote, die sich an eine bestimmte kulturelle Gruppe wenden, und zwar meist in der Sprache ihres Herkunftslandes.
Die Olympischen Spiele von London geben Anlass, darüber nachzudenken, aus welcher Perspektive diese Medien berichten und wie sich das im Sport manifestiert. Und vor allem darüber, welche Auswirkungen das auf kulturelle Integration hat.
Von wegen „Medienghetto“
Es gilt zu unterscheiden: Sogenannte Ethnomedien werden entweder in ihrem Herkunftsland oder von Mitgliedern ihrer kulturellen Gruppe in Deutschland produziert - „Hürriyet“ Europa ist ein Fall fürs Herkunftsland, die Wochenzeitung „Russkaja Germanija“ eines der wenigen dauerhaft funktionierenden Gegenbeispiele. 1996 von drei Einwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion gestartet, richtet sie sich an derengleichen. „Wir sehen uns als Zeitung von Leuten, die in Deutschland leben, aber ihre Wurzeln nicht vergessen haben“, sagt Goff – der Chef vom Dienst (CvD) des in Berlin herausgegebenen Blattes erscheint auch im Impressum ohne Vornamen.
„Russkaja Germanija“ nimmt einen russischen oder kasachischen, aber auch deutschen Blickwinkel ein. Und am häufigsten eine Mischung. „Wenn wir uns entscheiden müssen, porträtieren wir lieber einen Aussiedler, der als Sportler nach Deutschland gekommen ist, als einen russischen oder deutschen Athleten“, sagt Goff. Neben Fußball und Formel 1, Tennis und Boxen ist etwa Eishockey sportliches Topthema, und natürlich bildet London 2012 einen Schwerpunkt in „Russkaja Germanija“ und seinen drei Regionalausgaben – für Berlin, Bayern und Nordrhein-Westfalen. Statt zwei erscheinen aus Anlass der Spiele mindestens drei Sportseiten pro Ausgabe.
Rainer Geißler hat klare Hinweise: Zeitungen wie „Hürriyet“ und „Russkaja Germanija“, türkische TV-Sender wie TRT, polnische, italienische oder griechische Off- und Onlinemedien befördern Integration eher als sie zu bremsen. Der emeritierte Siegener Soziologe ist einer von wenigen in Deutschland, die sich wissenschaftlich mit „Ethnomedien“ befasst haben, unter anderem im Rahmen eines 2001 gestarteten Forschungsprojektes. „Die Medienghettothese ist widerlegt“, sagt er; diese These ging davon aus, dass etwa Nutzer türkischsprachiger Medien ihrer Herkunftskultur verhaftet blieben. Geißler stellt richtig: „Ethnomedien bilden wichtige Brücken zur Herkunftskultur, gerade für türkische Zuwanderer. Aber die meisten ihrer Konsumenten nutzen zusätzlich deutsche Medien.“ Auch eine 2007 vorgestellte Studie von ARD/ZDF kam zu dem Schluss, dass es keine medialen Parallelgesellschaften gebe. Einwanderer seien auch mit deutschen Medien gut erreichbar - und ihre Neuauflage aus dem Jahr 2011 zeigte gar einen klaren Trend zu deutschsprachigen Angeboten, auch in der Internetnutzung.
Das Sowohl-als-auch ist laut Geißler insofern von Bedeutung, als bikulturelle Personen „allgemein besser integriert sind als solche Einwanderer, die sich assimilieren oder segregieren“. Die doppelte Mediennutzung ist dabei Ausdruck eines Prozesses, den alle Studien zum Thema bestätigen: „Ethnomedien“ werden von älteren Menschen häufiger genutzt als von jüngeren, die eher zu deutschen Medien neigen. Wobei etwa die Leserschaft von „Hürriyet“ aktuell zu gut 60 Prozent aus 20-49-Jährigen besteht – Vergreisung sieht anders aus.
Die Nutzung von Medien der Herkunftskultur kann Integration fördern - aber wirkt deren Berichterstattung auf Annäherung der Kulturen hin? Nach Geißlers Forschungen nehmen etwa die Nutzer türkischsprachiger Medien diese nicht selten als segregativ wahr, ebenso allerdings wie deutsche Zeitungen und Sender. Der Soziologe selbst bescheinigt besonders den deutschen Redaktionen den Blick in den vergangenen Jahren geweitet zu haben. Bei den türkischen erkennt er keine so breite Tendenz, aber doch immer wieder Bemühungen. „Hürriyet“ etwa startete anlässlich der Fußball-EM 2008 eine Gemeinschaftsaktion mit „Bild“, und die seit Jahren laufende internationale Kampagne der Zeitung „Gegen häusliche Gewalt“ wurde unter anderem mit dem Berliner „Hauptstadtpreis für Integration und Toleranz“ gewürdigt.
Sport hat zwei Seiten
In der Sportberichterstattung liefert „Hürriyet“, dessen rund 500.000 Leser überwiegend türkische Staatsbürger sind, in erster Linie Nachrichten aus der Heimat. Das vierseitige Olympiaspecial etwa befasst sich vorwiegend mit London und den Athleten, die dort im Zeichen des Halbmonds starten. Mitglieder der Deutschen Olympiamannschaft wären laut Rasit ein Thema, wenn es welche mit türkischen Wurzeln gäbe. Dafür erzählt die Beilage kurz die Geschichte von Halet Cameel aus Berlin, die sich anlässlich der ebendort stattfindenden Olympischen Spiele 1936 der Aufforderung Hitlers entzog, für Deutschland zu starten. Stattdessen wurde sie die erste Fechterin, die die Türkei bei Olympia vertrat. Im Fußball schreibt „Hürriyet“ ausführlich über die Süper Lig, aber ebenso über die anderen großen Ligen inklusive der Bundesliga. Die Innenministerkonferenz zur Sicherheit in deutschen Stadien landete kürzlich im Blatt, und laut Turgay Rasit sind auch Rassismus und Integration im Fußball regelmäßig Thema.
„Russkaja Germanija“ ist ausdrücklich auf kulturelle Annäherung aus. „Es ist unsere gewichtigste Aufgabe, unseren Lesern zu helfen, sich hier zurechtzufinden und zu integrieren“, sagt Goff über die Wochenzeitung, die von etwa 60 festen Redakteuren produziert wird und eine aktuelle Auflage von 63.500 Exemplaren hat. „Wir haben keine Angst Leser zu verlieren, wenn sie irgendwann mehr deutsche Zeitungen lesen.“ Das deckt sich mit Erkenntnissen des Siegener Forschungsprojekts, demnach Spätaussiedler die integrative Sichtweise von „Russkaja Germanija“ und anderer auf sie zugeschnittenen Medien betonen. Auch über integrativ arbeitende Sportvereine berichtet der Titel gern und immer wieder, wobei das Problem laut Goff in deren lokaler Bedeutung liegt – die ganze Ausbreitung des Programms „Integration durch Sport“ kannte der CvD bisher nicht.
(Quelle: DOSB / Nicolas Richter)