Der Blick in den Spiegel
Wie ist es, in anderen, manchmal sehr unvertrauten Ländern zu leben, zu trainieren? Eine nicht ganz ernsthafte Annäherung an das Lebensgefühl (in) der Fremde, am Beispiel von vier Größen des deutschen Sports.

19.04.2016

Per Mertesacker, 31 Jahre. Fußballprofi, Weltmeister 2014 und Hauptdarsteller im WM-Youtube-Hit „Eis, Eis, Tonne.“Lebt und spielt seit 2011 in London (FC Arsenal).
„Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man sich in einem fremden Land deutscher als je zuvor fühlt und unweigerlich zum Botschafter seines Landes wird. Auf der Insel werden zwar humorvolle Klischees gepflegt, aber die Engländer bringen uns auch unheimlichen Respekt entgegen. Die Wertschätzung für Deutschland ist höher, als ich angenommen hatte. Die Leute verbinden mit uns Kompetenz, sie denken an Wertarbeit und Verlässlichkeit. Dem will man natürlich gerecht werden und solide Leistung abliefern. Und man wird mit neuen Situationen konfrontiert, trifft andere Menschen. London ist ein Schmelztiegel der Kulturen, mit einer unheimlichen Vielfalt und einer Gelassenheit gegenüber anderen. Auch das lernt man hier: alles nicht so eng zu sehen.“
Nicolas Jacobi, 28 Jahre. Hockeytorwart, Olympiasieger 2012 und Mitglied des legendären Hockey-Feierteams auf der Heimfahrt der MS Deutschland von London nach Hamburg. Dreimaliger Teilnehmer an der Hockey India League. Lebt und spielt in Hamburg (UHC).
„Womit ich mich schwergetan habe, ist die fehlende Verbindlichkeit der Inder. Alle Menschen sind sehr höflich und sagen ungern ,Nein‘. Als Deutscher nimmt man das nichtgesagte ‚Nein‘ als ‚Ja‘. Aber so meinen sie es nicht. Im ersten Jahr habe ich nach mehreren größeren Missverständnissen vollkommen die Nerven verloren. Ich hatte das Gefühl, nichts klappt. Das ist natürlich Blödsinn, es klappt auf andere Weise. Man muss sich nur daran gewöhnen. Prägend habe ich die Armut in Indien erlebt. Dort hungern mehr Menschen als in ganz Afrika. Trotzdem habe ich nirgendwo offenere und begeistertere Menschen kennengelernt. Die drehen wirklich durch beim Hockey, sind total euphorisch und absolut friedlich.“
Jochen Wollmert, 51 Jahre. Tischtennisspieler, mehrmaliger Paralympischer Goldmedaillengewinner und interkulturell bewandert, über Kontinente hinweg. Weiß unter anderem, wie der Ball in Sri Lanka springt. Lebt in Wuppertal und spielt für Borussia Dortmund.
„Die Halle hatte ein Dach, aber keine Wände. Der Holzboden war löchrig und uneben. Die Tische neigten sich, je nach Standort, nach Norden oder Süden. Ich habe schon auf allen Kontinenten und unter den abenteuerlichsten Bedingungen Tischtennis gespielt, aber diese Episode in Sri Lanka ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Ich musste höllisch aufpassen, nicht umzuknicken, und durch die Hanglage der Tische waren die Bälle schwer zu kontrollieren. Meine Gegner waren die Top 10 der nichtbehinderten Tischtennisspieler Sri Lankas. Wir haben ernsthaft und ehrgeizig gegeneinander gespielt, doch das Ergebnis war am Ende zweitrangig – ich habe gewonnen. Zu spüren, wie happy die Leute waren, dass wir uns treffen und miteinander spielen konnten, gehört zu den schönsten Erfahrungen meiner Karriere.“
Ole Bischof, 36 Jahre. Judo-Olympiasieger 2008, DOSB-Vizepräsident Leistungssport und Liebhaber des Mutterlandes seines Sports – Japan. Hat zu Trainingszwecken viele Monate unter der aufgehenden Sonne verbracht. Lebt und arbeitet in Düsseldorf.
„Ich musste mich an die Reserviertheit der Japaner gewöhnen. Da ich sie meist im Trainingslager auf ihrer eigenen Judomatte kennenlernte, wurde ich zuerst streng beäugt. Meine Rolle war klar die des Rivalen, der ihnen den Rang streitig machen will. Hinzu kommt, dass sie den meisten Völkern kulturell überlegen sind. Von einem Fremden vor den Augen ihres Trainers im eigenen Dojo im Armhebel aufgeben zu müssen, kratzt also am Selbstverständnis. Aber das Konkurrenzdenken hat niemals das Wertegerüst verschoben: Disziplin, Kampfgeist, gegenseitiger Respekt standen über allem. Die Folge war, dass alle voneinander lernten und besser wurden. Wer sich abschottete, hatte diesen Lerneffekt nicht und kam nicht auf Weltniveau. Man muss eben manchmal dort hingehen, wo es wehtut. Wer das verstanden hat, wird toleranter.“
(Quelle: Sportdeutschland - Das Magazin 1/2016)