„Der Schutz des Kindes steht an erster Stelle“
Die Diplom-Pädagogin Birgit Lattschar diskutierte in Frankfurt Grenzüberschreitungen und sexuellen Missbrauch. Bisher gibt es wenige Fälle im Sport.

26.05.2010

In der anhaltenden öffentlichen Diskussion um Gewalt gegen und sexuellen Missbrauch von Kindern gerät auch der Sport auf den Prüfstand. Wenngleich bisher wenige Fälle bekannt wurden, sehen Fachleute die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in den 98.000 Vereinen als idealen Nährboden für Missbrauchsfälle.
Wo hört körperliche Nähe auf, wo beginnt die Grenzüberschreitung? Rolf Müller, Präsident des Landessportbundes Hessen (LSBH), steckte jüngst bei einem Informations-Forum in Frankfurt den Spannungsrahmen ab: „Wir sind in einem großen Zwiespalt mit der Sportbewegung. Sport lebt von der Körperlichkeit. Viele Sportarten leben davon, dass es zu Berührungen kommt. Wir müssen uns vor Hysterie hüten.“
Wo arten persönliches Interesse, übertriebene Aufmerksamkeit und körperliche Nähe in sexuelle Übergriffe, pädophile Kriminalität und Gewalt gegen Kinder und Jugendliche aus? Eine Frage, auf die selbst die Referentin des Abends, die im Kinderschutzdienst erfahrene Diplom-Pädagogin Birgit Lattschar (Dackenheim), schwer Antworten fand. Die Erkenntnisse besagen jedoch auch: Jedes vierte Mädchen und jeder zehnte Junge haben mit sexuellem Missbrauch Erfahrungen gemacht - speziell in Familien.
Vernachlässigte oder überzutrauliche Kinder sind besonders anfällig für Übergriffe. Kindeswohlgefährdung ist kein Problem unterer Schichten. Vernachlässigung, sexueller Missbrauch, seelische Gewalt (Liebesentzug, Mobbing) und körperliche Misshandlung (Prügel) kommen in den besten Kreisen vor. Birgit Lattschar: „Man kann Kinder schon gut terrorisieren.“ Symptome zeigen sich reichlich: Die äußerliche Erscheinung (Kleidung, Hygiene). Wohn- und Familiensituation (Alkohol, Drogen). Verletzungen/Selbstverletzungen. Emotionale Veränderung von Jugendlichen. Häufig ist dann Gefahr im Verzug, die rasches Einschreiten und Fachberatung verlangt. Andererseits geht es im Sportverein zugleich um den Schutz der Mitarbeiter. Lattschar: „Es gibt in der Kriminalität keinen schlimmeren Vorwurf. Damit kann man Leben zerstören.“ Gleiches gilt auch für die Schutzbefohlenen. „Sexuelle Bedrängung kann auch schon mal vom Jugendlichen ausgehen.“
Um Übergriffen und Vergehen an Kindern (Schutzbefohlenen) vorzubeugen, braucht es die feinfühlige Kultur des Hinsehens und nicht des Wegschauens - auch wenn der eigene Freund oder Trainerkollege betroffen ist. „Man muss soviel Sicherheit wie möglich reinbringen und soviel Fachlichkeit wie nötig“, rät Birgit Lattschar. Heißt: In begründeten Fällen und Verdachtsmomenten nicht selbst den Kriminalisten spielen sondern Berater hinzuziehen - Jugendamt, Kinderschutzbund, Wildwasser, Zartbitter, Weißer Ring. Der LSB Hessen hat jüngst beim Hauptausschuss ein Positionspapier verabschiedet, das den Tenor hat: Währet den Anfängen. Jede Form des Missbrauchs wird strafrechtlich verfolgt und angezeigt. Parallel wurde dazu eine Kooperation mit dem „Weißen Ring“, der bundesweiten Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer, vereinbart.
Vorbeugen lässt sich bereits in der Übungsleiter-Ausbildung. Die Sportjugend Hessen ist seit Mitte der neunziger Jahre mit Fortbildungen und Hilfestellungen auf dem Markt. Im LSBH wurde ein Kinderschutzbeauftragter bestellt. Die Vereinsberatung soll verstärkt werden. Denn die Zahl Ratsuchender wächst.
Dokumentiert sind im LSB Hessen kaum Missbrauchsfälle - Hauptgeschäftsführer Ralf Koch weiß in den letzten 26 Jahren von vier. Werner Schaefer, Leiter des Olympiastützpunktes Hessen Rhein-Main in Frankfurt, erinnert sich ein einen Vorfall, als eine Athletin einen Internatsschüler bedrängte. In seiner Karriere als Turntrainer ist ihm ein Fall in Rheinland-Pfalz bekannt. Dort vergingen sich ein Trainer und dessen Freundin an Schutzbefohlenen und saßen im Gefängnis. Ralf-Rainer Klatt, im LSBH Präsidiumsmitglied für Breitensport und Sportentwicklung, glaubt, „dass es so ganz so wenige sind, sehe ich nicht so.“ Scham, falsch verstandener Kollegen-Schutz oder Augenzudrücken nähren die Dunkelziffer.
Für die die Vereine stellt sich das Dilemma, wenn sie von den Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen zum Beispiel erweiterte Führungszeugnisse verlangen und diese mit Sanktionen konfrontieren, ob sich künftig noch genug Betreuer finden. Hauptamtliches Personal muss in Verbänden häufig Führungszeugnisse vorlegen.
Die Kinder stark und selbstbewusst erziehen. Aufklären, Grenzen bewusst machen, Risiken regelmäßig thematisieren, hilft im Kampf gegen Missbrauch und Gewalt. Kinderschutzbeauftragte in Vereinen und Verbänden, ein Ehrenkodex für Trainerinnen und Trainer, klare, verbindliche Regeln und Arbeitshilfen stärken und entwickeln „Fehlerkultur“ (Lattschar) und Offenheit. In der Praxis helfen schon gemischt geschlechtliche Betreuer bei Freizeiten und Trainingslagern. Sie sollten auch vom Alter her zu den Kinder- und Jugendgruppen passen.
Häufig geht Missbrauch von älteren Männern aus. Doch Birgit Lattschar registriert: „Die Gewalt bei Frauen nimmt zu.“ Der Großteil der Täter sind Männer - zwischen 85 und 90 Prozent, schätzt die Gutachterin. Dennoch ist künftig nicht jedes Matratzenlager bei Skifreizeiten oder auf Hütten tabu. Auch die Traditionen bei Vereinen für Freikörperkultur (Nacktbaden) sind nicht verwerflich - wenn Grenzen gewahrt bleiben. Laut einer Studie in der Schweiz sind Übergriffe im Fußball, Turnen, Schwimmen und Eiskunstlauf am häufigsten. Sportarten, bei den Körperkontakt alltäglich ist.
Pädophile suchen und nutzen geschickt Anonymität und Zwanglosigkeit in Sportvereinen. Sie erschleichen sich Vertrauen mit gezielter Aufmerksamkeit und Abhängigkeiten. Birgit Lattschar: „Die Verantwortung liegt bei den Tätern, und die sind nicht blöd. Es sind in der Regel die, von denen man es nicht glaubt.“ Aufmerksamkeit und Beobachtungen trügen nicht: „Die, die mit den Kindern arbeiten, denen rate ich immer, vertrauen Sie auf ihr Bauchgefühl.“ Die Diplom-Pädagogin unterstreicht: „Der Schutz des Kindes steht an erster Stelle.“ Dennoch sei ein Strafprozess nicht immer förderlich. Er verstärkt bisweilen die Traumatisierung des Kindes.