Die frischen Kräfte des Sports
Mitgestalten statt nur mitmachen: Das Programm IdS will mehr Migranten in offizielle Vereinsfunktionen bringen. Warum das so wichtig ist, und zwar für beide Seiten, zeigt die Praxis.

19.05.2015
Alle kennen das Thema, wenn auch nicht immer unter diesem Namen: die Förderung von „Teilhabe“ ist seit Jahren ein Schwerpunkt im Programm „Integration durch Sport“ (IdS). Dahinter verbirgt sich das Ziel, Menschen mit Migrationsgeschichte nicht nur zum aktiven Vereinssport zu bewegen – „Teilnahme“ im Sinne von IdS –, sondern auch dazu, gestaltende Funktionen zu übernehmen, sei es als Übungsleiterin, sei es im Vorstand. Leider ist das Thema immer noch aktuell, im Sport wie in allen anderen Gesellschaftsbereichen: Zugewanderte stehen viel seltener in offizieller Verantwortung, als es ihrem Bevölkerungsanteil entspricht. Zeit, dass sich das ändert, denn von einer kulturellen Integration auf dieser Ebene profitieren beide Seiten. Das zeigen drei Beispiele aus dem Programm IdS.
Abdullah Kocer: Das Zugpferd der Tigers
Vor einiger Zeit kam einer seiner Zöglinge von früher vorbei, ein heutiger Profiboxer. „Er hat gesagt, er vermisse mich und den Verein“, sagt Abdullah Kocer. Da hat „Apo“, wie sie ihn nennen, wieder gespürt, was sie hier in Salzgitter geschaffen haben seit 2008, er und Arne Wilzarski, sein Kumpel seit Grundschultagen und zweiter Vorsitzender des Boxclub Tigers. Damals hatten sich die beiden von ihrem früheren Verein gelöst, um selbst etwas aufzubauen: Binnen Monaten machten sie (und andere) aus dem ruinösen Inneren eines Fachwerkhauses eine Halle, in der zunächst 25 Mitglieder trainierten. Heute sind es rund 400, darunter 150 weibliche. Der BC wächst, anders als die meisten Sportvereine der niedersächsischen Industriestadt. Kocer, Sohn türkischer Eltern und berufstätige Vater zweier Kinder, nennt den Club „seine Lebensaufgabe“.
Er ist der Manager für fast alles: Boxtraining, Pressearbeit, das Konzeptionelle. Er hat eine Hip-Hop-Abteilung gegründet, um mehr Mädchen zu erreichen, denn er wollte einen nicht nur kulturell bunten Verein; er organisiert eine Hausaufgabenhilfe und Behördengänge ebenso wie große und kleine Ausflüge und vor jedem Weihnachten ein Fest der Kulturen; er pflegt die Patenschaften des BC für Flüchtlinge (40 von ihnen dürfen beitragsfrei mitttrainieren) ebenso wie die Kooperationen mit dem Programm „Integration durch Sport“ (IdS), der Jugendgerichtshilfe (straffällig Gewordene können „die Halle putzen oder sich bei uns im Training austoben und disziplinieren“, so Kocer) und der städtischen Integrationsstelle.
Letztere Kooperation läuft auf Hochtouren. In Salzgitter entsteht etwas Großes: ein Integrationsstützpunkt, in dem verschiedene Institutionen, vom Jugendamt bis zum Sportverein, zusammenarbeiten, um jungen Menschen (und ihren Eltern) Freizeit- und Hilfsangebote zu machen, in Sachen Schule oder Drogenprävention. Geld für den Umbau eines entsprechenden Gebäudes wurde bewilligt, nächstes Jahr zieht der BC vielleicht schon um. „Wir wollen eine Anlaufstelle bieten, über den Sport hinaus“, sagt Kocer. „Wie in einem Fitnesscenter, in das man geht, um etwas zu trinken und zu reden, nur familiärer.“ Fast wie jetzt also, nur größer. Das aktuelle Tiger-Heim steht sechs Tage pro Woche von 16 bis 21 Uhr offen, jedes Mitglied zahlt den gleichen Beitrag, für alle Sparten. So macht manche Hip Hopperin nach dem Tanz- noch Kickboxtraining – Sport ohne Grenzen.
Galina Forot: Sie lehrt und lernt
Zu Galina Forot, Übungsleiterin und Vorstandsmitglied beim SV Boxring 08 Lübben, fallen einem zwei schöne Worte ein: Tatendrang und Wissbegier. Durch Ersteren wurde sie zur Integrationsarbeiterin, sozusagen ruckzuck: Nachdem die gebürtige Russin 2006 mit ihrer Familie nach Brandenburg gekommen war, nahm sie im gleichen Jahr an Frauenprojekten von IdS Teil; schon im nächsten ließ sie sich zur Übungsleiterin für Inline-Skating ausbilden, um sofort darauf eine Frauengruppe zu übernehmen – Keimzelle der heutigen Inliner-Abteilung beim SV Boxring, dem sich die Gruppe, unterstützt durch das Programm, im März 2010 anschloss. Die Wissbegier zum Zweiten tritt zu Tage, wenn sie von ihrem Kurs für Flüchtlingskinder erzählt. Prinzipiell wird dort Deutsch gesprochen, aber die Teilnehmer haben sieben verschiedene Muttersprachen, und viele sind neu im Land. „Ich versuche es mit Englisch, aber das können auch nicht alle“, sagt Galina Forot. Also lerne sie Arabisch und Italienisch (das einige Flüchtlinge unterwegs lernten). „Ich will mit den Kindern reden und finde es normal, mehrere Sprachen zu sprechen. Das ist auch eine Entwicklung für mich: Ich lerne und lerne“, so die 41-Jährige.
Sie macht vieles im Verein, aber die Flüchtlingsgruppe liegt ihr schon sehr am Herzen. Der Andrang ist gestiegen, Anfang 2015 bekam Lübben ein Übergangswohnheim. Galina Forot holt die etwa 30 Kids am Heim ab und läuft mit ihnen zur nahegelegenen Halle, wo sie, aufgeteilt auf drei Gruppen, selbst wählen dürfen, was heute gespielt wird. Die Sporthalle als Freiraum im ansonsten eng gerahmten Leben der Flüchtlinge.
Galina Forot leitet den Kurs mit zwei Nachwuchskräften, unter anderem ist ihre 15-jährige Tochter dabei. Auch ihre anderen vier Kinder sind oder waren beim Boxring engagiert. Sohn Alexander zum Beispiel, 13, tritt in diesem Jahr bei der Deutschen Meisterschaft an, im Boxen, der zu Beginn einzigen Disziplin im von Beginn an multikulturellen, inzwischen auch multisportlichen Verein. Seit der Aufnahme der Inlinerinnen hat sich der Verein stetig erweitert, er umfasst etwa auch Schwimmen und Gymnastik und zählt knapp 100 Mitglieder, männliche wie weibliche. Galina Forot, keine Frage, hat großen Anteil daran.
Nisar Tahir: Integration Schlag auf Schlag
Diese Geschichte ist schön und originell, Nisar Tahir musste sie schon oft erzählen, etwa dem ZDF und der Deutschen Welle: Wie sie und ihr ebenfalls aus Pakistan stammender Mann Muhammad die Idee hatten, Cricket, den in ihrer alten Heimat so beliebten Sport, den sie in der neuen nur im Fernsehen erlebten, ein bisschen populärer zu machen im Bremen. Wie sie eine Schule suchten und fanden, an der sie, Nisar, seit Anfang 2013 eine AG anbieten konnte. Wie gleich 17 Kinder kamen, von denen einige dachten, sie könnten bei ihr eine ruhige Kugel schieben, und zwar durch kleine Metalltore auf dem Rasen – Nisar erklärte ihnen, dass dies „Cricket“ sei, nicht „Crocket“, und dass sie durchaus rennen müssten, zudem Bälle werfen und schlagen. Wie sie neben den Kindern auch einige der Mütter an das Teamspiel heranführte – „sie sagten ,nein, nein', ich sagte ,doch, doch'“ – und schließlich mit ihrem Mann auf die SG Findorff zutrat, um dort mit Unterstützung des Deutschen Cricket-Verbandes und von IdS eine Cricket-Abteilung aufzubauen.
Heute zählt diese Abteilung etwa 60 Aktive in fünf Teams: südasiatische Studierende und andere Migranten, die minderjährigen Töchter der Tahirs neben einheimischen Hausfrauen. „Ich bin stolz auf die bunte Mischung“, sagt Nisar Tahir, die vielbeschäftigte Abteilungsleiterin und Managerin. Nicht nur darauf: Die erste Männermannschaft wurde 2014 Dritte der Deutschen Meisterschaften, im gleichen Jahr gewann das Projekt den „Entwicklungspreis“ des International Cricket Council ICC samt einer Prämie vom Feinsten: eine topmoderne Cricket-Anlage, seit April 2015 steht sie. Nicht nur deshalb fühlt sich Nisar Tahir heimischer denn je im Findorffer Großverein (circa 3000 Mitglieder). Vor einiger Zeit begann sie, unbegleitete Minderjährige, etwa aus Afghanistan, zum Cricket zu bewegen. Kürzlich wollte sie die Initiative ausweiten, zumal der Stadtteil ein neues Flüchtlingsheim bekommt. Bei der Jahreshauptversammlung der SG trug sie ihr Anliegen vor – „schweren Herzens“ ob des befürchteten Widerstands. Dann aber wurde nicht nur die von ihr erhoffte Gruppe gebildet, um Flüchtlinge zum Sport anzuregen und im Club zu empfangen; ihr Plädoyer für Offenheit fand großen Applaus und das persönliche Lob des Vorstands. „Ich habe festgestellt, „dass ich es hier mit ganz tollen Menschen zu tun habe“, sagt Nisar Tahir.
(Autor: Nicolas Richter)