Digitalisierung im Spitzensport – ohne geht nichts mehr
Höher, schneller, weiter – damit Spitzensportler ihre Ziele im Wettkampf erreichen, brauchen sie die richtige Technik. Dabei geht es sowohl um sportliche als auch um elektronische Technik.

08.06.2016

Im Spitzensport ist Datenaufnahme und -analyse ein alter Hut. Je nach Sportart, und mitunter schon seit Jahrzehnten, beschäftigen sich Trainingswissenschaftler damit, individuelle leistungsbegrenzende Faktoren zu analysieren, den besten Bewegungsablauf biomechanisch zu bestimmen oder durch Videoaufnahmen die Wettkampfgegner zu studieren. Lange Zeit begleitete dabei der technische Fortschritt die analogen Analyseverfahren. Aber diese Reihenfolge ist längst überholt. Mit der zunehmenden Digitalisierung in unserer Gesellschaft ist im Hochleistungssport ein neues, rasendes Zeitalter angebrochen.
„Umstellung von analog auf digital heißt für den Spitzensport vor allem: Informationen sind jederzeit verfügbar. Wir können auf Daten einfacher und schneller zugreifen und am besten direkt im Wettkampf weiter verarbeiten“, sagt Priv.-Doz. Dr. Dirk Büsch, Leiter des Fachbereichs Technik und Taktik am Institut für Angewandte Trainingswissenschaft (IAT) in Leipzig.
Mit der Gegner-App den Gegner im Griff
Dafür gibt es beispielsweise für die Sportarten Judo, Ringen und Boxen eine „Gegner-App“. Durch sie können Sportler und Trainer weltweit auf alle gegnerischen Daten zugreifen und die Inhalte selbst um Informationen ergänzen. Für Deutschland analysiert das IAT diese Daten und fügt sie in das System ein.
Wer mögliche Gegner – mit Hilfe der App – vor einem Wettkampf eingrenzen will, muss wissen, wie er diese Informationen für sich nutzt, um sich gut auf den gegnerischen Kampfstil vorzubereiten. Wenn am Wettkampftag die endgültigen Widersacher feststehen und es möglicherweise zu einem Überraschungsgegner kommt, ist es durch die App kurzfristig möglich, Infos abzurufen.
Für die Zweikampfsportarten sind dann u. a. folgende Fragen entscheidend: Mit welcher Technik hat der gegnerische Athlet die letzten Kämpfe gewonnen? Gibt es eine Auftaktbewegung, die die Technik ankündigt? Sind noch Schwächen erkennbar, die eine Angriffschance für den eigenen Sportler darstellen? Aus den Antworten lassen sich taktische und technische Vorgehensweisen ableiten, die schließlich für Sieg oder Niederlage mit entscheidend sind. Inzwischen dient die App als „Best Practice“ und soll auch für andere Sportarten aufgebaut werden.
Miniatur ist im Sport ganz groß
Ein weiterer Aspekt des digitalen Zeitalters sei die „Miniaturisierung“, so Büsch, „Daten werden mit geringem Aufwand in kleinen Systemen untergebracht.“ Vorbei ist die Zeit, in der sich schwer beladene Wissenschaftler mit aufwendigen Messgeräten und großen Videokameras den Weg durch die Wettkampfstätte bahnten und sich einen engen Platz für ihre Messungen erkämpfen mussten. Heute bestimmen handliche und leichte Geräte das Bild der vermessenden Profis. Wenngleich sie sich immer noch oft den Platz mit den Zuschauern auf der Tribüne teilen müssen. Aber: Mit ihren Geräten erfassen sie Daten sehr viel direkter und gezielter, als man es sich noch vor 20 Jahren je hätte vorstellen können.
Beim Badminton sind beispielsweise Hochgeschwindigkeitsaufnahmen möglich, weil Sensoren in Schläger und Griffe eingebaut werden können. Ein anderes Beispiel sind Sensorsysteme, die die Spieler eines Teams, etwa beim Handball, am Körper tragen. Die Sensoren erfassen jederzeit die Position der Spieler. Raum- und Zeit-Koordinaten bestimmen u. a. die durchschnittliche Spielgeschwindigkeit jedes einzelnen Athleten.
„Früher hätten wir das im Video nachmessen müssen“, sagt Büsch, „ein Zeitaufwand, der nun entfällt.“ Ganz klar ein Vorteil der Digitalisierung, denn Zeit ist im Spitzensport Mangelware. Am Ende stehen durch die Messungen so nicht nur die reinen Bewegungsaufnahmen bereit. Viele andere Parameter, die für die Leistungsdiagnostik wichtig sind, lassen sich leichter und genauer messen und verwerten. Beispielsweise die Spiel- und Laufgeschwindigkeit, Laufwege oder Spielzüge und deren Variationen.
Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden
Allerdings erfassen die Trainingswissenschaftler mit diesen Methoden auch riesige Datenmengen, von denen derzeit (noch) nicht alle Elemente für die Leistungssteuerung relevant sind. Und das ist eine der großen Herausforderungen des digitalen Zeitalters.
„Es entstehen Datenfriedhöfe ohne Ende. Was macht man mit dem ganzen Zeug? Wie reduzieren wir die Daten auf ein Maß, um in die Trainingsgestaltung einzusteigen, damit es die Trainer mit den Athleten umsetzen können?“, fragt Büsch. Und gibt selbst die Antwort: „Die Digitalisierung ist im Spitzensport Mittel zum Zweck. Wir müssen das filtern, worauf es ankommt und auch die Datenaufnahme darauf reduzieren. Wenn wir die Geschwindigkeit bei einer Sportart messen, müssen wir auch wissen, wofür das nötig ist.“
Deshalb ist es – im wissenschaftlichen Wettbewerb mit anderen Nationen – für die deutschen Forscher und Trainer kein Widerspruch, beim Vermessen und beim Datenaustausch länderübergreifend zusammenzuarbeiten. Denn wer Daten hat, muss erst einmal wissen, was er damit anfängt, um erfolgreich zu arbeiten.
„Bei Länderspielen fragen wir daher auch bei den anderen Nationen immer an, ob wir auch deren Spieler vermessen dürfen. Einige Nationen machen mit, wenn sie die Daten hinterher bekommen“, sagt Büsch. Welche Länder bei welchen Aufgabenstellungen mit Deutschland zusammenarbeiten, mag er jedoch nicht verraten. Und Bedenkenträger, die sich darum sorgen, dass andere Staaten mit ihrem technologischen Fortschritt an Deutschland vorbeiziehen, weist er darauf hin, differenziert auf die Sportarten zu blicken.
So sei zwar festzustellen, dass manche Länder Technologien einsetzten, die wir in Deutschland noch nicht nutzten. Aber es werde nicht geschaut, welche Dinge den Sportlern hinterher in der Praxis auch tatsächlich etwas einbrächten.
Ein Beispiel: Chinesische Trainingswissenschaftler können bereits ohne Sensoren die Geschwindigkeit des Tischtennisballs messen, die deutschen Forscher aber nicht. Dies, so Büsch, bedeute keinesfalls, dass wir bei dieser Entwicklung hinterher hinkten. „Denn für die Spieler ist das Wissen um die Geschwindigkeit des Balles im Anwendungskontext nicht direkt relevant“, erklärt er.
Digitaler Fortschritt – ein Leistungskriterium im Spitzensport
Andererseits wäre das sogenannte „markerlose“ Vermessen, ein enormer Gewinn für Deutschland. Denn: Die Bewegungseffizienz der Sportler könnte automatisch erkannt werden. Der Grund für eine schwache Leistung, beispielsweise ein minimal ungünstiger Abwurfwinkel bei einem Speerwurf, könnte sofort ermittelt werden. Das System würde mit seinen Berechnungen unmittelbar erfassen, was der Trainer mit bloßem Auge auf den Videobildern nicht sieht.
Hilfreich wären markerlose Systeme auch bei akrobatischen Sportarten und somit bei allen Disziplinen, in denen es um komplexe Bewegungen geht. Aber selbst, wenn solche Modelle noch Zukunftsmusik seien, so Büsch, gebe es auch in Deutschland interessante Entwicklungen, die noch nicht publiziert seien. Ganz ohne Geheimnisse geht es in der digitalen Sportwelt aber doch nicht, denn von den neuen Ansätzen mag er noch nichts erzählen.
„Ohne Digitalisierung gelingt der Fortschritt im Spitzensport aber nicht. Digitalisierung ist ein Leistungskriterium und wird es künftig sein. Ohne die weiteren Möglichkeiten der Digitalisierung zu nutzen, werden wir den Anschluss verlieren“, sagt Büsch.
Ob diese Erkenntnis auch in die Reform des Spitzensports in Deutschland einfließt, wird sich am 19. Oktober zeigen. Dann nämlich soll im Sportausschuss des Deutschen Bundestages vorgestellt werden, was die Unternehmensberatung Kienbaum Management Consultants im Auftrag des Bundesministeriums des Innern (BMI) und des DOSB über den Zustand und den Bedarf des deutschen Spitzensports herausgefunden hat.
Dabei hat die Unternehmensberatung das sogenannte wissenschaftliche Verbundsystem Leistungssport (WVL) genau unter die Lupe genommen. Zum WVL gehören die Olympiastützpunkte, das IAT, das Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten sowie die Trainer- und Führungsakademie des DOSB, das Bundesinstitut für Sportwissenschaft, Hochschulen, Spitzenverbände und der DOSB selbst. Mit einigen Beteiligten dieser Institutionen wurden Experteninterviews geführt. Online-Fragebögen haben beispielsweise Trainer, Athleten, Wissenschaftler sowie Offizielle aus Spitzenverbänden erhalten.
Dirk Schimmelpfennig, Vorstand Leistungssport im DOSB, kann sich zu den Ergebnissen insgesamt zwar noch nicht äußern – die Arbeitsgruppen seien derzeit damit beschäftigt, die nun abgeschlossenen Befragungen auszuwerten. Aber er gehe, wie er sagt, davon aus, dass die Ergebnisse der Reform deutlich machen, „wie Wissenschaft noch effizienter in den Spitzensport eingebunden werden kann und dass eine Förderung für digitale Mittel als durchaus sinnvoll erscheine.“ Noch vor den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro wollen DOSB, das BMI, die Innenministerien der Länder und die Landessportbünde die gegenseitigen Vorstellungen zur Reform konkretisieren. „Damit alle beteiligten Partner die Reform auch erfolgreich Umsetzung können , müssen wir jetzt auch die jeweiligen Erfahrungen und Erwartungen berücksichtigen“, so das DOSB-Vorstandsmitglied.
Kommunikation als Basis
Schimmelpfennig sieht über wissenschaftliche Entwicklungen hinaus auch die Kommunikation als zentralen Punkt, damit sich der deutsche Spitzensport weiter entwickelt. „Wir müssen die Best-Practice-Beispiele schneller in andere Spitzenverbände tragen“, sagt er und meint damit auch den Aufbau des SALTO-Projekts, des großen Verbundprojektes unter der Leitung des DOSB. Es hat zum Ziel, die Qualität in der verbandlichen Aus-, Fort- und Weiterbildung mit einem strategisch angelegten Einsatz digitaler Medien zu verbessern. Im Zentrum dabei steht die Einrichtung eines Web 2.0-basierten DOSB-Bildungsportals.
Für den Leistungssport heißt das wesentliche Ziel auch, eine enge Zusammenarbeit zwischen Trainern und Spitzenverbänden zu fördern und ein gemeinsames Verständnis über Standards im Spitzensport zu entwickeln. Durch SALTO möchte Schimmelpfennig erreichen, dass von der Basis bis in den Spitzenbereich klar wird, welche Trainingsinhalte gegeben sein müssen, damit ein zielgerichteter, langfristiger und vor allem konsequenter Leistungsaufbau betrieben wird.
„Die Digitalisierung hilft dabei die Erwartungen darzustellen und die Synergien auszubauen“, so Schimmelpfennig. Bedenken, dass durch die digitalen Prozesse Arbeitsplätze wegfallen oder die neuen Technologien den Trainer von morgen überflüssig machen könnten, teilt er nicht. „„Die Trainer fungieren als Experten so komplex und im Mensch-zu-Mensch-Verhältnis von Trainer zu Athlet auch so persönlich, dass sie durch die digitale Systematik zu unterstützen, aber nicht zu ersetzen sind", meint Schimmelpfennig.
(Quelle: DOSB-Presse, Ausgabe 23/Yvonne Wagner)