Eine Frage der Haltung
„Willkommenskultur“ ist ein Schlagwort der Stunde – und das Thema einer vielbeachteten Studie der Bertelsmann-Stiftung. Was aber bedeutet der Begriff im und für den Sport und seine Vereine?

13.04.2015

Alle überregionalen Tageszeitungen berichteten darüber, und viele, viele andere Medien auch: Anfang März veröffentlichte die Bertelsmann-Stiftung die Ergebnisse einer von ihr bei TNS Emnid in Auftrag gegebenen Umfrage. Unter dem Titel „Willkommenskultur in Deutschland: Entwicklungen und Herausforderungen“ knüpft sie an eine nahezu identische Untersuchung von 2012 an und vergleicht die aktuellen Ergebnisse mit jenen von damals (siehe Kästen). So thematisiert sie nicht nur die Haltung der Bundesbürger in einer zentralen gesellschaftspolitischen Frage, sondern auch – siehe Titel – Entwicklungen an dieser Stelle. Zusätzlich brisant: Die Daten wurden im Januar erhoben, in der Hochphase der Pegida-Aufmärsche.
Statistik ist kein Beweis. Das schließt hochgerechnete Resultate repräsentativer Umfragen ein, zumal solcher zu einem großen, wenig scharfen Thema wie diesem. Und doch ergeben sich daraus Anhaltspunkte, die nicht nur für die Politik bedeutsam sind. Aus Sicht des Programms „Integration durch Sport“ (IdS) etwa wirft die Studie weiterführende Fragen auf: Was bedeutet „Willkommenskultur“ – grundsätzlich, aber auch im Sport? Woran lässt sie sich festmachen? Und wie entwickelt ist sie im organisierten Sport? Die Antworten auf diese Fragen bauen aufeinander auf.
• Was ist Willkommenskultur?
Jedenfalls kein klar umrahmter, kein wissenschaftlicher Begriff. Während Klaus Seiberth, Sportsoziologe an der Uni Tübingen, „Willkommenskultur“ als „neues Etikett der Integrationsdebatte“ bezeichnet, spricht sein Göttinger Kollege Michael Mutz von einem Schlagwort mit eher diffusem Inhalt: „Im Kontext von Zuwanderung steht der Begriff für eine offene, akzeptierende Haltung gegenüber Einwanderern. Unklar ist aber, an welchen Kriterien wir so eine Willkommenskultur festmachen wollen.“ Meint diese Kultur die Abwesenheit von Diskriminierung und ein Mindestmaß an Toleranz gegenüber Einwanderern? Oder doch mehr, etwa die Wertschätzung und Förderung von Vielfalt?
Die Bertelsmann-Stiftung scheint von Letzterem auszugehen. Im Prolog der Studie heißt es: „Willkommenskultur kann definiert werden als eine Haltung der Offenheit gegenüber Migranten, die auf Teilhabe und Inklusion zielt: Sie umfasst individuelle, organisatorische und gesamtgesellschaftliche Aspekte und manifestiert sich in bestimmten Regelungen und Praktiken.“ Dazu ist zu sagen, dass sich die Studie auf die gesellschaftlichen Ebene konzentriert; wie ausgeprägt hingegen die Willkommenskultur eines Unternehmens oder eines Sportvereins ist, hängt vor allem von individuellen und organisatorischen Aspekten ab. Im Übrigen: Gesellschaftspolitisch hält Mutz den Begriff allen Unschärfen zum Trotz für wichtig. Denn die Diskussion darüber, „ob wir in Deutschland eine Willkommenskultur haben“, sei bereits der „Ausdruck eines Umdenkens“. Über Jahrzehnte habe man in Sachen Integration allein die Einwanderer in der Verantwortung gesehen, heute denke man viel stärker an die Bedingungen in der Aufnahmegesellschaft. Tatsächlich kommt die Studie der Bertelsmann-Stiftung zum gleichen Schluss.
Tendenz zur Toleranz
Was die Studie der Bertelsmann-Stiftung zur Willkommenskultur ergeben hat: Thesen und Daten in Auswahl
These 1: Willkommenskultur in Deutschland wird positiver gesehenBegründung: 2015 waren mehr Befragte als 2012 der Meinung, dass Einwanderer willkommen seien.
Stützende Zahlen: Zustimmung der Befragten auf die Frage, ob Einwanderer in Deutschland willkommen geheißen werden...
… von staatlichen Stellen der Kommunen: 2015: 73% 2012: 64%
… durch die Bevölkerung: 2015: 59% 2012: 49%
These 2: Einwanderungsland Deutschland gewinnt an ReifeBegründung: Die Befragten erwarten zunehmend, dass sich Einwanderer mehr um ein gutes Zusammenleben bemühen sollten (2015: 97%; 2012: 88%). Zugleich fordern sie mehr Unterstützung für Einwanderer von staatlichen Stellen.
Stützende Zahlen (u.a.): 2015 bzw. 2012 waren 93% bzw. 84% der Meinung, dass zugewanderte Kinder von Anfang an eine Sprachförderung erhalten sollten.
• Was heißt Willkommenskultur im Sport?
Auf jeden Fall mehr als die Abwesenheit von Diskriminierung, da sind sich die Experten einig. Klaus Seiberth sagt, es sei seit den fünfziger Jahren ein „zentraler Anspruch des organisierten Sports, offen für alle Menschen zu sein – unabhängig von ethnischer Herkunft, Nationalität oder Religionszugehörigkeit.“ Seiner Ansicht nach kommt dieser Anspruch dem „aktuellen Verständnis von Willkommenskultur ziemlich nahe“ und wird von vielen Vereinen erfüllt, die „Integration längst zu ihrem Ziel gemacht“ hätten, etwa den Stützpunkten des Programms IdS.
Für Mutz entsteht Willkommenskultur dann, wenn die Sensibilität und interkulturelle Kompetenz Einzelner mit offenen Vereinsstrukturen einhergehen: „Es geht darum, die Voraussetzungen zu schaffen, dass Einwanderer die Sportangebote der Vereine überhaupt zur Kenntnis nehmen und nutzen“. In anderen Worten: Nicht nur die Tür aufmachen, wenn jemand anklopft, sondern sie selbst öffnen, die Draußenstehenden hereinbitten. In diesem Sinne ähnelt „Willkommenskultur“ dem Begriff der „interkulturellen Öffnung“ respektive Offenheit, den das Programm IdS verwendet. Laut Programmkonzeption ist diese Offenheit „unverzichtbarer Bestandteil der Integrationsarbeit“ und hat „den gleichberechtigten Zugang aller Bevölkerungsgruppen“ zum Sport als Ziel. Sie beinhaltet etwa „die Sensibilisierung der Sportler/innen und der haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“ auf allen Vereins- respektive Verbandsebenen und eine „stärkere Repräsentanz“ Zugewanderter in Haupt- wie Ehrenämtern.
• Woran lässt sich die Existenz einer Willkommenskultur in Sportorganisationen erkennen?
Ob interkulturelle Offenheit oder Willkommenskultur: Begriffe wie diese lassen sich höchstens teilweise konkret bestimmen. So spricht Mutz von „vielen kleinen Interaktionen und Begebenheiten“, in denen Menschen ein Gefühl vermittelt werde, „willkommen zu sein – und zwar nicht nur unter bestimmten Voraussetzungen“. Zugleich nennt er beispielhaft einige Organisationsmerkmale einer Willkommenskultur:
• Eine Ansprechperson für Integrationsfragen
• Mehrsprachige Informationen über die Sportangebote
• Kooperationen des Vereins mit Migrantenorganisationen
• Existenz – möglichst kostenfreier – Schnupperangebote, die keine sofortige Mitgliedschaft voraussetzen
• Bemühungen des Vereins, Übungsleiter(innen) mit Migrationshintergrund zu finden oder auszubilden
Seiberth sagt, Offenheit zeige sich darin, dass „Vielfalt als Chance und Bestanteil einer lebendigen Vereinskultur“ gesehen werde. Darüber hinaus betont er weniger die Kriterien, an denen sich diese Kultur festmache, als den „umfassenden Prozess“, den sie erfordert. Er müsse durch Menschen in Gang gebracht werden, die „eine gewisse Reputation im Verein haben und Integration und Interkulturalität zu ihrer Angelegenheit machen“. Im Folgenden geht es um Verbreitung und Sensibilisierung: „Niemand kann einem Sportverein das Thema Integration aufzwingen. Also muss ich die Mitglieder dafür gewinnen. Durch die Multiplikatoren kann sich das Thema ins Selbstverständnis eines Vereins einschreiben“, so Seiberth. Bis interkulturelle Offenheit dann äußerlich (etwa in der Satzung oder in Form spezifischer Angebote) und im Vereinsalltag sichtbar wird, brauche es Zeit – und externe Unterstützung. „Man sollte den Anschluss an Projekte und Programme suchen, die Erfahrung und Expertenwissen in dem Bereich gesammelt haben“.
Tendenz zur Toleranz
Was die Studie der Bertelsmann-Stiftung zur Willkommenskultur ergeben hat: Thesen und Daten in AuswahlThese 3: Bevölkerung bleibt hin- und hergerissen in ihrer Haltung gegenüber Zuwanderung
Begründung: Eine Mehrheit der Befragten sieht nach wie vor klare Vorteile, aber auch Probleme in Verbindung mit Zuwanderung. Beispiele:
Stützende Zahlen (u.a.): 2015 bzw. 2012 waren 68% bzw. 71% der Meinung, dass Zuwanderung für die Ansiedlung internationaler Firmen wichtig ist.
Sowohl 2015 als auch 2012 waren 64% der Meinung, dass Zuwanderung zu einer Mehrbelastung für den Sozialstaat führe.
These 4: In Ostdeutschland wächst die Skepsis gegenüber ZuwanderungBegründung: In der Bewertung der Willkommenskultur entwickeln sich Ost- und Westdeutsche auseinander. Im Osten wird die Haltung gegenüber Zuwanderung kritischer eingeschätzt.
Stützende Zahlen (u.a.): Zustimmung auf die Frage, ob Einwanderer in der Bevölkerung willkommen geheißen werden:
2015: Ost: 44% 2012: Ost: 51%
West: 63% West: 49%(Quelle: „Willkommenskultur in Deutschland: Entwicklungen und Herausforderungen“. Studie des Instituts TNS Emnid im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung, Januar 2015)
• Wie entwickelt ist eine Willkommenskultur im organisierten Sport?
Am Ende ist Willkommenskultur eine Frage der Haltung. „Es gibt viele Ansatzpunkte, aber man muss sich bemühen“, sagt Mutz. „Man“, das sind die einzelnen Mitglieder, möglichst viele davon. Weswegen man laut Seiberth „nicht davon ausgehen sollte, dass Sportvereine Wunder vollbringen können, denn Menschen verhalten sich im Verein nicht entscheidend anders als in ihrem Alltag“. Sprich: Es gibt offene und weniger offene Vereine, weil es offene und weniger offene Menschen gibt.
Das betont auch Mutz, der die Gesamtlage tendenziell kritisch einschätzt. Mangels empirischer Untersuchungen verweist der Göttinger Sportsoziologe auf die Sportentwicklungsberichte des DOSB, denen zufolge weniger als 10 Prozent der Vereine aktiv versuchten, Einwanderer als Mitglieder zu gewinnen. Viele andere agieren laut Mutz nach dem Motto: „Einwanderer können ja mitmachen, aber sie müssen sich anpassen.“ Freilich verweist auch er auf die „wirklich guten Ansätze der IdS-Stützpunktvereine, die aktiv auf Migrantinnen und Migranten zugehen“. Im Übrigen geht es ja nicht nur um die Vereine. Ganz offensichtlich ist das Bemühen des organisierten Sports um die Verbreitung einer Willkommenskultur über die Jahre intensiver geworden. Ausdruck dessen sind etwa die jüngsten Beschlüsse mehrerer Landessportbünde (und -ministerien), erhebliche Mittel bereitzustellen, um die Integration von Flüchtlingen in und durch den Sport zu fördern.
(Autor: Nicolas Richter)