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Energie trifft Mammut

Teil 12 der Projektporträt-Serie stellt ein nordrhein-westfälisches Pilotprojekt vor, das die interkulturelle Öffnung lokaler Sportbünde fördert. Einer davon ist der KSB Ennepe-Ruhr.

DOSB Redaktion
DOSB Redaktion

26.11.2014

Muhammed Kocer (rechts) vom KSB Ennepe-Ruhr in Aktion beim Taekwondo (Quelle: LSB NRW/Thiel)
Muhammed Kocer (rechts) vom KSB Ennepe-Ruhr in Aktion beim Taekwondo (Quelle: LSB NRW/Thiel)

Wie viel Energie steckt im Menschen? Schwer zu sagen, aber bei Muhammed Kocer ist es eine Menge. Sonst könnte er diese Aufgabe nicht stemmen. Diese Aufgabe, die ihn, den Ehrenamtlichen, zum Projektplaner, Berater und Prozessmanager ebenso macht wie zum Übungsleiter und Referenten. Die ihn zwischen Arbeitsagenturen, Schulen, Vereinsheimen und sozialen Einrichtungen pendeln lässt und immer wieder zum Kreissportbund Ennepe-Ruhr (KSB) führt. Denn der hat ihm die Aufgabe übertragen. Kocer, Jahrgang 1976, ist die Schlüsselfigur eines lokalen Mammutprojekts, das der KSB, in dem 9 Stadtsportverbände und etwa 420 Vereine organisiert sind, unter der Überschrift „soziale Inklusion und gesellschaftliche Integration im und durch den Sport“ gestartet hat.

Es begann 2009. Damals fasste die Leitung des Programms „Integration durch Sport" (IdS) in Nordrhein-Westfalen einen Gedanken, den Siggi Blum, IdS-Mitarbeiter beim Landessportbund (LSB), so zusammenfasst: „Es wäre gut, außer den Stützpunktvereinen als Leuchttürme des Programms auch Stadt- und Kreissportbünde zu fördern. Das könnte die interkulturelle Öffnung des Sports in der Breite beschleunigen.“ Man begann Gespräche mit den KSB, erklärte ihnen, warum und wie das Thema anzugehen sei. Schließlich wählte der LSB 15 Kreise und kreisfreie Städte für ein (von der Landesregierung co-finanziertes) Pilotprojekt aus, darunter Ennepe-Ruhr. Der KSB stellte eine 400-Euro-Kraft mit koordinierender Funktion ein und kontaktierte Muhammed Kocer, in NRW als Vereinsgründer, Verbandsfunktionär, Taekwondotrainer, aber auch Integrationsexperte bekannt. Er leitet unter anderem Seminare der IdS-Reihe „Sport Interkulturell“.

Im Jahr 2011 nahm Kocer den Auftrag an und die Arbeit auf, die er mit dem KSB-Vorsitzenden Dirk Engelhard und Projektkoordinator Philipp Topp steuert. Sie haben ein Konzept erstellt, um Bewusstsein, aber auch Fakten zu schaffen. Es bezieht alle Arbeitsebenen des KSB ein: die Beratung und Förderung seiner Mitgliedsorganisationen ebenso wie die lokale Lobbyarbeit und den Austausch mit den 330.000 Bürgerinnen und Bürgern des Kreises (darunter etwa 20 Prozent mit Migrationsgeschichte). Es findet in Kooperationen und Projektarbeit Ausdruck, betrifft Außenkommunikation und (Aus-)Bildung, soll im Leistungssport wie beim Sportabzeichen sichtbar werden. Zusammengefasst: Der KSB will ein Kompetenzzentrum sozialer Integration und Inklusion werden, er will sich öffnen und auch viele andere.

Viele andere: Damit ist man bei Kocer angekommen, dem Mittler zwischen Kulturen, dem Hans Dampf mit türkischen Wurzeln. Natürlich ist er Teil des Teams, natürlich leisten viele KSB-Mitarbeiter einen Beitrag. Aber er ist der Praktiker, sein Wirken verdeutlicht das Mammuthafte. Bis Ende 2013 hatte Kocer zum Beispiel rund 50 Vereine auf das Thema interkulturelle Öffnung angesprochen. Immerhin 8 bis 10 hätten Maßnahmen ergriffen oder angekündigt, sagt er.

Aber das ist nur das Naheliegende. Kocer spricht oft von „Kommunikation“ und „Netzwerken“, und wenn er in die Details geht, kann einem schwindlig werden. Er hat deutschen Trainern erklärt, warum sie nicht einfach die Hand türkischer Frauen ergreifen sollten, und türkischen Frauen, dass es nicht unhöflich ist, an verschlossene Türen zu klopfen, wenn sie mit ihrem Kind am vereinbarten Trainingsort ankommen. Er hat Eltern zu Vereinen begleitet und sie an Übungsleiter übergeben. Er hat mit dem Kinderschutzbund, mit Jugendämtern und Stiftungen gesprochen und mit fast allen Schulsozialarbeitern im Kreis.

Und er hat, allein 160 Stunden im Zug waren das, die Arbeitsagenturen des Kreises überzeugt, ihre Antragsformulare für das „Bildungs- und Teilhabepaket“ der Bundesregierung wenigstens zu vereinheitlichen. Das Paket fördert unter anderem die sportliche Aktivität von Kindern Zugewanderter und nicht nur in Ennepe-Ruhr gibt es ein Problem: Der Bedarf ist da, das Geld ist da, die Anträge fehlen. „Die Eltern scheinen das Angebot nicht zu kennen oder die Formulare nicht zu verstehen“, sagt Kocer.

Die Integrations-Serie - alle 2 Wochen

Von Rügen bis Reutlingen, von Kiel bis Nürnberg. Von Basketball über Gorodki bis Tanztheater. Von der kulturellen Öffnung Einzelner bis zu jener von Großvereinen. Et cetera, denn Vielfalt ist das Stichwort, wenn das Programm „Integration durch Sport“ ab sofort und an dieser Stelle zeigt, wie es eigentlich funktioniert, so ganz genau und rein praktisch. Das folgende Projektporträt ist der Beginn einer Serie auf www.integration-durch-sport.de: Alle zwei Wochen stellen wir insgesamt 16 Initiativen vor, für jedes Bundesland eines: Geschichten, von denen keine der anderen ähnelt und die doch ein großes Ganzes ergeben. Nämlich ein Mosaik von Möglichkeiten, wie der Sport Verbindungen zwischen Kulturen schaffen und wachsen lassen kann.

Das Bildungs- und Teilhabepaket ist sowieso ein Beispiel für die Entschlossenheit dieses Integrationsansatzes – und für die von IdS angestrebten Multiplikationseffekte. Die Eltern verstehen es nicht? Also erklärt man es ihnen, bei jeder sich bietenden Gelegenheit. In Witten hat der KSB mit der Diakonie des Deutschen Roten Kreuzes und dem Judoverein vor Ort einen
Gewaltpräventionskurs für „Problemklassen“ in drei Grundschulen organisiert. Er wurde von Info-Veranstaltungen für Eltern und Lehrer begleitet, um unter anderem das Bildungs- und Teilhabepaket zu erläutern, und zwar mehrsprachig. Ziel solcher Aktionen – es gab und gibt weitere – sei letztlich, „so viele Jungs und Mädchen wie möglich in die Sportvereine vor Ort zu bringen“, sagt Kocer. In Witten habe man je über 300 Kinder und Elternteile erreicht.

Der KSB will die Möglichkeiten von Integration durch Sport darstellen und erschließen – Kommunikation und Netzwerke. „Wir verfolgen ja das gleiche Ziel wie andere soziale Einrichtungen“, sagt Kocer. „Und wir haben 100.000 Mitglieder, die die anderen nicht haben. Die haben dafür die professionelle Struktur und das Personal.“ Wichtig: Der KSB sei in den Netzwerken nicht Bittsteller, sondern „gleichberechtigter Partner und teilweise sogar Mentor“.
Nämlich für solche Institutionen und Sozialarbeiter, die neu sind im Thema. Das Mitte 2013 eröffnete Kommunale Integrations-Zentrum (KIZ) der Kreisverwaltung etwa zählt zu den engsten, wichtigsten KSB-Partnern. Am Anfang der Kooperation, sagt Kocer, „hat sich das KIZ an uns gehalten statt umgekehrt“. Denn der KSB hatte Kontakte und praktische Erfahrung, die dem neuen, nicht-sportlichen Kompetenzzentrum noch fehlten.

(Quelle: DOSB-Presse, Ausgabe 48, Text: Nicolas Richter)

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