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"Ernährungs- und Bewegungsverwahrlosung" bei Kindern nehmen zu

Alarm schlagen Kinderärzte und Sportpädagogen schon seit Jahren, aber reagiert und gehandelt haben nur die wenigsten politisch Verantwortlichen: Dass deutsche Kinder immer dicker, kränker und motorisch auffälliger werden, sind nun keine neuen Erkenntnisse.

DOSB Redaktion
DOSB Redaktion

09.10.2006

In den letzten Jahren sind viele Studien vorgelegt worden, die diese Thematik aufgriffen und den Zusammenhang zwischen gesunder Ernährung, Bewegung und ganzheitlicher Entwicklung von Kindern belegten. Auch die "Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ (Kiggs), die kürzlich vorgestellt wurde, zeigt einmal mehr gesunde Ernährung und Bwegung tun Not.

"Die Bombe tickt"

Zwar beruhigt Kiggs-Leiterin Bärbel-Maria Kurth vom Robert-Koch-Instiut (RKI) in Berlin: „Insgesamt ist der Gesundheitszustand besser als vermutet.“ Wer sich aber in die Zahlen vertieft, der versteht die Aussage des Kinderarztes Rolf Jütte, der sich täglich mit den Folgen von „Ernährungs- und Bewegungsverwahrlosung“ bei Kindern auseinandersetzen muss. „Die Bombe tickt - zusammengesetzt aus Chips, Hamburgern und Fritten, Computerspielen, Dauerfernsehen und mangelnder Bewegung.“ In einer Gesellschaft, die mit Diät- und Kochsendungen überfüttert wird, ist es schon paradox, dass ausgerechnet bei Kindern das Thema Ernährung und Bewegung besonders auch von Eltern vernachlässigt wird. 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen zwischen drei und 17 Jahren sind übergewichtig, 6,3 Prozent fettleibig. Je älter die Kinder werden, umso mehr Pfunde bringen die Übergewichtigen auf die Waage. Bei den Drei- bis Sechsjährigen sind es neun Prozent, bei den 14- bis 17jährigen schon 17 Prozent. Und Essstörungen nehmen weiter zu: 20 Prozent der Jungen und Mädchen leiden heute unter Magersucht oder Bulimie.

Rückwarts laufen wird zum Problem

Zwar geben 95 Prozent der bundesweit rund 18.000 befragten Kinder und Jugendlichen bis 17 Jahre an, sich wohl zu fühlen, wozu auch beispielsweise das tägliche Spielen im Freien gehört, was laut Studie 77 Prozent der Drei- bis Zehnjährigen tun. Über die Hälfte treibt mindestens einmal pro Woche Sport, und 58 Prozent sind Mitglied in einem Sportverein. Aber da ist dann die andere Seite: motorische Defizite. Rückwärts laufen ist ein Problem, rückwärts auf einem Balken balancieren wird für ein Drittel der Mädchen und Jungen zu  einer unlösbaren Aufgabe. Bei der Rumpfbeuge mit den Fingerspitzen die Füße zu berühren, das schaffen 43 Prozent nicht. Und: Koordinationsübungen werden zu einer Höchstschwierigkeit.

Gesunde Ernährung und Bewegung abhängig vom Bildungsniveau

Auch die Kiggs-Studie belegt, dass zwischen dem ökonomischen Standard sowie dem Bildungsniveau des Elternhauses und der Gesundheit der Kinder ein Zusammenhang besteht. Kinder aus sozial schwachen Familien haben häufiger Essstörungen und Übergewicht, treiben eher weniger Sport und zeigen häufiger psychische Auffälligkeiten.

Dagegen scheinen diese Kinder weniger anfällig für Allergien zu sein: Insgesamt sind Kinder aus gut situierten Elternhäusern häufiger daran erkrankt als Kinder mit sozial schwachem Hintergrund. 16,7 Prozent Kinder und Jugendlichen sind akut von Allergien betroffen, Jungen mit 18 Prozent häufiger als Mädchen (15,4). Je mehr Geschwister ein Kind hat und je früher es Kontakt mit anderen Kindern etwa in Betreuungseinrichtungen hat, desto seltener treten Allergien auf. Das Immunsystem wird trainiert.

Thema der deutschen EU-Ratspräsidentschaft

Staatssekretärin Caspers-Merk sah die Ergebnisse der Studie, die 2007 vollständig veröffentlicht werden soll, als „Frühwarnung“ und eine Art Leitfaden, wo Gesundheitsprävention ansetzen sollte. Bund und Länder müssten jetzt an einem Strang ziehen und in Kindergärten, Schulen, Vereinen ihre Angebote verbessern. Allein die mittelbaren Folgekosten bei „Adipositas“ (Fettleibigkeit) von Kindern auf das deutsche Gesundheitssystem werden auf zwölf Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. Wenn es ums Geld geht, werden Politiker wohl hellhörig. Vielleicht beeindrucken sie ja auch Folgeschäden, die  Fetteibigkeit auslösen kann: Hüft- und Gelenkschäden, Diabetes, Gallensteine, Fettleber, Nierenschäden.

Auch in der Europäischen Union sind die Verantwortlichen endlich wach geworden - aus vielen Ländern, besonders aus Südeuropa, kommen immer mehr alarmierende Meldungen, dass die Kinder dicker und kränker werden. Die Bundesregierung, so Caspers-Merk, werde das Thema „Ernährung und Bewegung“ auch zu einem Schwerpunkt der EU-Ratspräsidentschaft im nächsten Jahr machen. Die EU hat sich des Themas bereits angenommen. Sie unterstützt mit 15 Millionen Euro das Forschungsprojekt IDEFICS (Identification and prevention of dietary- and lifestyle-induced health effects in children and infants). Fünf Jahre lang sollen 20.000 Zwei- bis Zehnjährige in Kindergärten und Schulen europaweit in die Studie zum Thema Übergewicht einbezogen werden. Am Ende wollen die 50 beteiligten Wissenschaftler Richtlinien vorschlagen, die in die Praxis umgesetzt werden könnten.

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