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„Inklusion ist kein Luxuszustand, sondern ein zutiefst demokratisches Grundprinzip“

Prof. Dr. Sina Eghbalpour ist eine gefragte Expertin zu Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen im Vereinssport. Im Interview spricht sie über aktuelle politische Entwicklungen und ihren Blick auf Diversity.

DOSB Redaktion
DOSB Redaktion

06.05.2025

  • Menschen verschiedenen Alters mit und ohne Behinderung treiben gemeinsam Sport in einer Halle.
    Für die Verbesserung von Teilhabemöglichkeiten im Sport braucht es mehr inklusive Sportangebote sowie Sportangebote ausschließlich für Menschen mit Beeinträchtigung.
  • Sina Eghbalbour sitz im Rollstuhl und hält mit beiden Händen ihren Promotionshut fest
    Prof. Sina Eghbalbour während ihrer Promotionsfeier

    DOSB: Seit 2017 arbeitest Du im Sport. Wie hat sich aus Deiner Sicht die Umsetzung der Inklusion im und durch Sport entwickelt?

    PROF. SINA EGHBALPOUR: Ich bin nach wie vor sehr stolz und dankbar, dass ich Teil der ersten Runde eures wegweisenden Projekts „Sport-Inklusionsmanager*innen“ (kurz: SIMs) sein durfte. Von Beginn an hatte ich den Eindruck, dass dieses Projekt weit mehr als ein kurzfristiger Impuls war - es hat in meinen Augen einen nachhaltigen Grundstein für Veränderung in der inklusiven Sportlandschaft gelegt. Die SIMs (und jetzt auch Event-Inklusionsmanager*innen, kurz: EVIs) haben in ihren jeweiligen Regionen nicht nur wertvolle Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit geleistet, sondern auch Samen gesät, aus denen vielerorts tragfähige Strukturen und wirkungsvolle Maßnahmen hervorgegangen sind.

    Gerade in Nordrhein-Westfalen war die Strahlkraft besonders deutlich zu spüren. Der Landesaktionsplan NRW zeigt, dass Inklusion im Sport auch politisch zunehmend als relevante Querschnittsaufgabe wahrgenommen wird. Ich habe das Gefühl, dass wir gemeinsam einen wichtigen Schritt nach vorne gemacht haben: Es gibt spürbar mehr inklusive Sportfeste, neue Sportangebote sowie vielfältige Aus- und Fortbildungsformate.

    Gleichwohl nehme ich die Entwicklung, besonders im Kontext der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK), als zu langsam wahr - vor allem im strukturellen Bereich. Mein großes Anliegen wäre es, dauerhafte Fachkraftstellen bei Stadt- und Kreissportbünden zu etablieren. Nur so können wir meiner Meinung nach das Thema Inklusion im Sport wirklich nachhaltig verankern, unabhängig von befristeten Projektstellen oder einzelnen Förderphasen.

    Es braucht für die Verbesserung von Teilhabemöglichkeiten im Sport erweiterte Handlungs- und Entscheidungsspielräume sowie eine Auswahlmenge an sowohl inklusiven Sportangeboten wie auch an Sportangeboten ausschließlich für Menschen mit Beeinträchtigung. Hierbei liegt der Fokus besonders auf dem Ziel, dass Menschen mit Beeinträchtigung eine Sportaktivität selbstbestimmt und in frei gewählten Kontexten ausüben können (§8 SGB IX Wunsch- und Wahlrecht).

    Interdisziplinär sowie im Zuge der UN-BRK betrachtet, bedeutet dies für die praxisnahen Handlungsebenen Folgendes; es bedarf Aktion und Reaktion auf mehreren Ebenen: auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene, auf der Ebene der politischen Strukturen, auf der Ebene der Sportvereine sowie auf der subjektzentrierten Ebene der Menschen mit Beeinträchtigung. Alle Ebenen sollten im Blick gehalten werden.

    • Porträt Sina Eghbalpour

      Es braucht für die Verbesserung von Teilhabemöglichkeiten im Sport erweiterte Handlungs- und Entscheidungsspielräume sowie eine Auswahlmenge an sowohl inklusiven Sportangeboten wie auch an Sportangeboten ausschließlich für Menschen mit Beeinträchtigung.

      Prof. Dr. Sina Eghbalpour
      Professorin an der Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen

      Wie siehst Du die aktuelle politische Entwicklung? Wie ist es um die Umsetzung der Inklusion in der Gesellschaft gestellt?

      Die aktuellen politischen Entwicklungen erfüllen mich mit großer Sorge. Jürgen Dusel hat es treffend formuliert: „Demokratie braucht Inklusion.“ Dieser Satz bringt auf den Punkt, dass Inklusion kein Luxuszustand ist, sondern ein zutiefst demokratisches Grundprinzip. Es geht um gleiche Rechte, gleiche Chancen und ein respektvolles Miteinander. Ich wünsche mir sehr, dass unsere Gesellschaft auch in Zukunft erkennt, wie sehr uns Vielfalt bereichert - und dass wir lernen, offen und vorbehaltlos aufeinander zuzugehen. Der eigentliche Kern von Inklusion sollte irgendwann gelebter Alltag sein - nicht Ausnahme, sondern Selbstverständlichkeit.

      Gerade im Rückblick auf die Entwicklungen innerhalb der Teilhabe-Community wird deutlich, wie viele Rechte hart erkämpft wurden. Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention hat sich auch der politische Auftrag zur Verbesserung der Teilhabe - insbesondere auch im Sport - klar verschärft. Doch trotz über 16 Jahren UN-BRK und vieler Initiativen ist die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und im Sportsystem für viele Menschen mit Beeinträchtigung nach wie vor keine Realität.

      Im Hinblick auf den Sport ist eine enge und verlässliche Zusammenarbeit zwischen Sportvereinen, Menschen mit Beeinträchtigung und politischen Entscheidungsträger*innen unverzichtbar. Es braucht stabile räumliche, personelle und finanzielle Rahmenbedingungen - dauerhaft, nicht projektabhängig. Die Verzahnung von Sport und Politik muss stärker in den Fokus rücken, insbesondere in den Gremien. Ein zielführender Schritt wäre die Benennung lokaler Ansprechpersonen in politischen Ausschüssen, die als feste Schnittstellen für das Thema inklusiver Sport fungieren und klare Zielvorgaben erhalten. Ebenso entscheidend ist die konsequente Einbindung von Expert*innen in eigener Sache - denn ohne ihre Perspektiven bleibt Teilhabe unvollständig.

      Du bist eine Frau im Rollstuhl und hast eine Migrationsgeschichte drei von sieben Dimensionen von Diversity. Wie blickst Du auf Diversity und intersektionales Denken und Arbeiten?

      Ich würde sagen, dass mich meine Erfahrungen als Frau, als Rollstuhlfahrerin aber auch als stolze Tochter von einem Vater aus dem Iran geprägt und meinen Blick auf Vielfalt und Intersektionalität geschärft haben.

      Ich weiß eben aus dieser eigenen Erfahrung, dass es nicht „die eine“ Diskriminierung gibt, sondern dass sich verschiedene Benachteiligungen überschneiden und verstärken können. Es macht einen Unterschied, ob ich nur als Frau, nur als Mensch mit Beeinträchtigung oder nur als Person mit persischem Nachnamen wahrgenommen werde - oder eben in der Kombination all dieser Identitätsmerkmale. Dieses Zusammenspiel beeinflusst schon die Art und Weise, wie ich von der Gesellschaft gesehen werde.

      Für mich bedeutet intersektionales Denken vor allem: Menschen in ihrer Vielschichtigkeit wahrzunehmen und dabei nicht bei einer einzigen Perspektive stehen zu bleiben. Es geht darum, Strukturen zu hinterfragen, Barrieren zu erkennen - auch dort, wo sie vielleicht nicht sofort sichtbar sind - und Räume so zu gestalten, dass wirklich alle mitgedacht werden.

      In meiner Arbeit ist es mir wichtig, diese Perspektiven aktiv einzubringen. Intersektionalität darf kein theoretisches Konzept bleiben, sondern muss ganz praktisch spürbar sein - in Projekten, in Entscheidungsprozessen, in Repräsentation und in Sprache. Was wir brauchen, ist eine Haltung, die sicherstellt: Alle Menschen - mit all ihren Identitäten - werden gesehen, gehört und ernst genommen. Deshalb freue ich mich umso mehr, sagen zu können: Ich bin mit 31 Jahren als Frau mit Beeinträchtigung Professorin geworden. Und ich hoffe, dass mein Weg anderen Mut macht - besonders denen, die sich an der Schnittstelle mehrerer Diskriminierungserfahrungen bewegen. Denn Sichtbarkeit schafft immer Möglichkeiten!

      Aktuell ist dein Forschungsprojekt über den Einfluss der Paralympischen Spiele auf Menschen mit Behinderung und auf die gesellschaftliche Wahrnehmung dieser Menschen in aller Munde. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse und was kann der DOSB daraus für die Bewerbung um Paralympische und Olympische Spiele lernen?

      Da wir in unserer Methodik drei unterschiedliche Zielgruppen befragt haben: Para Atleth*innen, Bevölkerung sowie Teilhabe-Community, muss man die Ergebnisse diesbezüglich differenziert betrachten und entsprechend einordnen.

      Ich unterscheide zwischen einer Außenperspektive, also dem Blick der Bevölkerung, und einer Innenperspektive, also der Sicht der Para-Athlet*innen. Aus der Außenperspektive zeigt sich, dass die Paralympischen Spiele in der Bevölkerung sehr positiv wahrgenommen werden und viele Parasportler*innen als Vorbilder gelten. Es gibt von der Bevölkerung jedoch eine zu optimistische Einschätzung der tatsächlichen Herausforderungen, mit denen Menschen mit Beeinträchtigungen konfrontiert sind. Die Befragten ohne Beeinträchtigung überschätzen demnach die Teilhabemöglichkeiten und Barrieren der Menschen mit Beeinträchtigung im Sport. Das macht deutlich; wir brauchen weiterhin wichtige Sensibilisierung- und Aufklärungsarbeit!

      Die Innenperspektive der Para-Athletinnen zeigt, dass sie sich nicht ausreichend wahrgenommen fühlen und nach wie vor eine klare Hierarchisierung zwischen den Olympischen und den Paralympischen Spielen existiert. Viele von ihnen sehen sich in erster Linie als Leistungssportler*innen und nicht vorrangig als Menschen mit Beeinträchtigung - so möchten sie auch wahrgenommen werden. Die Berichterstattung über die Paralympischen Spiele hat sich zwar deutlich verbessert (knapp 30 Millionen Menschen verfolgten die Wettkämpfe im Fernsehen ARD/ZDF und mehr als 2,5 Millionen sahen sie live vor Ort), zeigt aber in den Ergebnissen, dass die Berichterstattung noch lange nicht gleichwertig mit der Berichterstattung über die Olympischen Spiele ist, was die Paralympionik*innen scharf kritisieren.

      Die Studie verdeutlicht zudem eindrucksvoll, wie der Sport das subjektive Wohlbefinden von Para-Athlet*innen stärkt und ihre Beeinträchtigungen in den Hintergrund treten lässt. In meinen Augen wird hier die transformative Kraft des Sports besonders deutlich. Sport im Allgemeinen - und die Paralympischen Spiele im Besonderen - besitzen das Potenzial, stereotype gesellschaftliche Vorstellungen zu hinterfragen und Inklusion aktiv voranzutreiben.

      Das bedeutet: Die zunehmende Professionalisierung des Parasports macht es erforderlich, paralympische Stützpunkte auszubauen, die Training auf internationalem Top-Niveau ermöglichen und zudem den Zugang für den paralympischen Nachwuchs zu fördern. Zudem muss der organisierte Sport auf unterschiedliche Weise gestärkt und weiterentwickelt werden, um die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigung zu gewährleisten – beginnend mit dem Ausbau inklusiver Angebote und barrierefreier Sportstätten - und das sowohl im Breiten- als auch im Leistungssport. Die alarmierende Zahl, dass 11% der befragten Sportler*innen den Zugang zu Sponsoren positiv bewerten, zeigt auch, dass Athlet*innen mit Beeinträchtigung als gleichwertige Förder- und Sponsoringpartner*innen zu betrachten sind und der Parasport dem olympischen Sport gleichzustellen ist.

      Was würdest Du dem DOSB gerne mitgeben?

      Dem DOSB würde ich mitgeben, dass es dringend notwendig ist, die Inklusion im Sport weiter voranzutreiben – nicht nur im Leistungssport, sondern vor allem im Breitensport. Es braucht gezielte Unterstützung für Para-Athlet*innen, etwa durch besseren Zugang zu finanziellen Ressourcen wie Sponsoring sowie durch eine verbesserte Trainingsinfrastruktur. Gleichzeitig sollte der DOSB die Sichtbarkeit von Menschen mit Beeinträchtigungen weiter stärken und gleichberechtigte Teilhabemöglichkeiten fördern. Es geht nicht ausschließlich darum, Barrieren abzubauen, sondern auch die gesellschaftliche Wahrnehmung nachhaltig zu verändern - Inklusion muss als selbstverständlicher Bestandteil des Sports verstanden werden.

      Setzt eure erfolgreichen Initiativen wie das Projekt der Sport-Inklusionsmanager*innen fort und stellt sicher, dass eure Gremien und Strukturen durch Expert*innen in eigener Sache mitgestaltet werden. Arbeitet partizipativ und schafft Räume für Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungsformen, um ihre Perspektiven wirksam einzubinden. Denn: Ohne Breite keine Spitze - und ohne Spitze keine Breite. Bleibt auf allen Ebenen ein verlässlicher Motor für Inklusion, auch wenn politische oder wirtschaftliche Herausforderungen zunehmen.

      An dieser Stelle möchte ich aber auch noch von Herzen ein Danke mitgeben - ohne das SIMs-Projekt wäre mein Weg nicht derselbe gewesen. Es hat maßgeblich dazu beigetragen, dass ich heute da stehe, wo ich bin!

      Zur Person:

      Prof. Dr. Sina Eghbalpour, Jahrgang 1992, war nach ihrem Studium der Sozialen Arbeit 2017 und 2018 zunächst im DOSB-Projekt „Sport-Inklusionsmanager*in“ beim Stadtsportbund Aachen tätig. Nach Ablauf der Projektphase wurde sie dort übernommen und hat sich einen Namen mit vielfältigen Maßnahmen zur Umsetzung der Inklusion in Aachen gemacht. Ihre Promotion zu Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen im Vereinssport und ihr Wissen im Bereich Inklusion machen sie heute zu einer gefragten Expertin. 2024 wurde sie als Professorin an die Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen berufen und hat mit ihrem aktuellen Forschungsprojekt die Wirkungen der Paralympischen Spiele 2024 auf die Wahrnehmung der Menschen mit Behinderungen für die Aktion Mensch untersucht.

      Zum Instagram-Profil von Prof. Dr. Sina Enghbalpour

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