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Interkulturelle Öffnung und viel mehr

Hier wird der vielzitierte Kitt für die Gesellschaft angerührt: Der TuS Xanten und der Todtglüsinger SV verstehen „Integration“ umfassend. Portrait zweier Gewinner von Sternen des Sports.

DOSB Redaktion
DOSB Redaktion

27.02.2014

Es gibt Sportvereine und es gibt Sportvereine wie diese, wie den Todtglüsinger SV von 1930 und TuS Xanten 05/22: Sportvereine nämlich, die sich auch als soziale Akteure verstehen - und die, das ist entscheidend, dieses Selbstverständnis konsequent umsetzen. Tief und breit im lokalen Umfeld verankert, richten sie sich auch an all jene, die tendenziell schwerer Zugang zum Sport und seiner Gemeinschaft finden als der Durchschnitt, sei es aus finanziellen, kulturellen oder körperlichen Gründen. Bei der Verleihung des Großen Sterns des Sports, dem vom DOSB mit den Volksbanken und Raiffeisenbanken ausgeschriebenen Wettbewerb, wurden TSV und TuS kürzlich Zweiter respektive Dritter. Bezeichnend:  Opens external link in new windowFür keinen der beiden war es die erste Anerkennung dieser Art.

Hier das niedersächsische Dorf Todtglüsingen, Teil der Gemeinde Tostedt nahe der Lüneburger Heide; dort die nordrhein-westfälische Dom- und Kleinstadt Xanten nahe der niederländischen Grenze: Das ist die jeweilige Umgebung zweier Vereine, die Stützpunkte von „Integration durch Sport“ (IdS) sind und dem Programm alle Ehre machen – durch den Gewinn von Preisen, vor allem aber inhaltlich. Dadurch etwa, dass Menschen mit Migrationsgeschichte bei ihnen stärker repräsentiert (je über 15 Prozent) als in der Gemeinde beziehungsweise Stadt (je rund 13 Prozent). Oder dadurch, dass sie Zugewanderte in offiziellen Funktionen haben, etwa als Trainer, und Migrantinnen schon seit Jahren speziell ansprechen. Zugleich zeigen beide, dass interkulturelle Öffnung im besten Falle eben nicht isoliert stattfindet, sondern einer grundsätzlichen Haltung entspringt. Heinrich Gundlach, Vorsitzender des TuS Xanten, sagt: „Integration kann nicht irgendwo aufhören, sie umfasst alle sozialen Gruppen.“         

Gewachsenes Engagement

Der von ihm, einem pensionierten Lehrer, seit 35 Jahren geführte Verein für Leistungs- und Breitensport folgt dieser Haltung. Das bringt das Projekt zum Ausdruck, mit dem sich der TuS Xanten um die Sterne des Sports beworben hat. „Der integrative Sportverein – Integration durch Sport“ hat fast 25 Jahre auf dem Buckel und unzählige Angebote und Projekte hervorgebracht.

Wie in Todtglüsingen (siehe Opens external link in new windowInterview) ist das Ganze gewachsen, beginnend mit den Einwanderern  aus Osteuropa Anfang der 90er. „Viele von ihnen konnten nicht schwimmen“, sagt Gundlach, also habe man Schwimmkurse organisiert. Auch mit der späteren Bildung einer Boxgruppe reagierte die Führung auf gestiegene Nachfrage. Der Faustkampf steht auch Nichtmitgliedern offen – ebenso wie das langjährige Bauchtanzangebot des TuS, mit dem er viele Migrantinnen erreicht. Während die Tänzerinnen heute bei Festivals aufzutreten, gehört das Boxen wie die gleichfalls offenen Kickbox- und Taekwondo-Gruppen nun zur neu gegründeten Abteilung Kampfsport. Es ist die elfte des 2500 Mitglieder starken Vereins.   

Es gibt Parallelen zwischen Niederrhein und Niedersachsen. Wenn Eike Holtzhauer, Zweiter Vorsitzende des TSV, sagt: „Wir hören genau hin, um [...] Ideen aufzunehmen“, dann kann man sich das gut als Aussage Gundlachs vorstellen. Wie der TSV geht der TuS nicht nur auf die Bedürfnisse von Migranten, Menschen mit Behinderung oder sozial Schwachen ein. Er tauscht sich zudem mit allerlei Einrichtungen aus – das auch vom Programm IdS verfolgte Netzwerkprinzip treibt in Xanten bunte Blüten.

Kooperationen mit Kindergärten und Ganztagsschulen sind nur der Anfang. Hinzu kommen unter anderem Partnerschaften mit der Lebenshilfe (eine Wohngruppe behinderter Menschen trainiert im neuen Fitnessraum des TuS), mit der „Tafel“ (nutzt den Vereinsbus) oder der Bewährungshilfe: Gundlach erzählt vom aktuellen Beispiel zweier Heranwachsender, die ihre Fäuste nicht mehr außerhalb des Sports eingesetzt hätten, seit sie bei einem russischstämmigen, selbst jungen TuS-Trainer boxen. Seit Kurzem kooperiert sein Verein auch mit einer nahen „Fazenda“: Alkohol- und drogensüchtige junge Männer leben gemeinsam in einem ehemaligen Kloster, Resozialisierung ist das Ziel. In Xanten können sie Fußball spielen.

Besänftigung am Maulwurfshügel

Straffällige – ein Stichwort für Todtglüsingen. „Wer kümmert sich um die Ausrutscher? Betreuung von Jugendlichen im Freizeitarrest und bei Ableistung von Sozialstunden“, heißt die Initiative, mit der der TSV zu einem Stern des Sports aufstieg und auch das Lob des Landesinnenministers gewann. Anders als das Xantener Projekt fasst sie die sozial-integrative Arbeit des Vereins nicht zusammen, sondern zeigt beispielhaft, wie diese Arbeit funktioniert: hinhören, Ideen aufnehmen - siehe oben – und umsetzen.

Die Kooperation mit dem Amtsgericht Tostedt ging 2006 von einem damaligen Jugendrichter aus, sagt Eike Holtzhauer. Der hellwache 77-Jährige betreut das Projekt, das den TSV zur sanften Erziehungsanstalt macht: Der Freizeit- oder „Warnschussarrest“ reißt Verurteilte nicht aus der Schule oder Lehre heraus. In Tostedt bietet ihnen die Jugendgerichtshilfe zudem an, dem TSV zur Hand zu gehen, statt ein bis zwei Wochenenden in der Zelle zu sitzen. Samstagmorgens ruft Holtzhauer an, um zu fragen, ob sie wollen oder nicht. „Die meisten wollen. Dann hole ich sie ab – meistens sind es zwei –, fahre sie durchs Dorf und erkläre ihnen unseren Verein und unser Anliegen. Um halb Zehn fangen wir zu arbeiten an, etwa drei Stunden lang.“

Bei den Sozialstunden, der milderen Strafe, ist der bürokratische Ablauf geringer, die Arbeit aber die Gleiche: Maulwurfshügel auf dem Fußballplatz auseinanderhaken, im Vereinsgelände am Baggersee den Wald aufräumen oder Ausfallstraßen vom Müll befreien. So oder so dürfen die 15- bis 21-Jährigen sonntags in die Fitnesshalle – für manche ein erster Schritt in den Verein. „Einige wohnen zu weit weg, aber die aus der Umgebung kommen, haben wir oft für uns gewonnen, teils samt Freunden“, sagt Holtzhauer, der im Lauf der Jahre wohl etwa 300 junge Männer und ein paar Frauen kennengelernt hat.

Junge Menschen auf der Kippe: Das ist nur eine der Zielgruppen, die der Todtglüsinger SV ohne direkte Ansprache schwerlich für sich gewinnen würde. Man könnte viele weitere Beispiele nennen, den Kurs für bewegungsschwache Mädchen oder die Gorodki-Anlage, mit der der Vereine (nicht nur) Menschen aus der früheren Sowjetunion erreicht. Oder man fasst es einfach so zusammen: Der 7000 Mitglieder große Verein wächst weiter, ebenso wie der TuS Xanten. Wer alle Menschen anspricht, erreicht halt sehr viele.

Text: Nicolas Richter

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