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Neue Geschäftsgrundlage für den Spitzensport

Eberhard Gienger, DOSB-Vizepräsident Leistungssport, plädiert in Auswertung der Spiele von Peking und im Vorfeld von Vancouver 2010 und London 2012 dafür, den Blick im deutschen Leistungssport wieder verstärkt auf die elementaren Grundlagen zu richten.

DOSB Redaktion
DOSB Redaktion

03.12.2008

"Ich glaube, dass wir wieder zulegen können. Im Vorfeld von Peking wurden in der Trainingsgestaltung in einigen Sportarten Fehler gemacht, wie das Institut für Angewandte Trainingswissenschaft in Leipzig in seiner Analyse deutlich herausgearbeitet hat. Diese Informationen liegen vor, jetzt können die Sommersport-verbände reagieren und mit Blick auf London umstellen“, sagt der Reckweltmeister von 1974. „Wir brauchen mehr Trainings- und Wettkampfhärte, zum Teil muss mehr trainiert werden, wir müssen uns im täglichen Training an der Weltspitze und an den Besten orientieren. Die Verbände, die das beachten, haben auch ihre Erfolge", fügte der frühere Weltklasseturner und heutige CDU-Bundes-tagsabgeordnete hinzu und bezieht dabei die Sichtung, die Talentsuche, das Aufspüren von Talenten und deren Förderung in der Nachwuchsarbeit mit ein. Ohne diesen konzeptionellen Unterbau sei insgesamt kein Erfolg möglich. Ausdrücklich ermunterte der „Vize“ für Leistungssport im unmittelbaren Vorfeld der DOSB-Vollversammmlung am 6. Dezember in Rostock-Warnemünde alle Beteiligten am deutschen Spitzensportsystem, „verstärkt die Sicht auf die international erfolgreichen Nationen zu lenken und zu schauen, wie dort trainiert wird“. Wenn zum Beispiel in bestimmten Sportarten oder Disziplinen etwa die Trainingsumfänge höher seien als bei den deutschen Athleten, „dann sollte man das zur Kenntnis nehmen“. 

Sinnvoll sei es zudem, künftig internationale Wettkämpfe nicht mehr nur als Ereignis an sich überzubewerten, sondern ausgewählte Wettkämpfe viel gezielter und systematischer als Zwischenetappen auf dem Weg zu den nächsten Olympischen Spielen zu betrachten und als eine Art „Trainings begleitende Maßnahme“ in die Saisonabläufe einzubauen. Somit würden „Wettkampfhärte“ und „Langzeitwirkung“ stärker in den Vordergrund rücken. Überdies gelte der Blick nach außen für die international zu beobachtenden Tendenzen zur „Zentrenbildung“. Sprich: Die national hoffnungsvollsten Athleten und Medaillenanwärter an wenigen Standorten unter optimalen Bedingungen einschließlich der Nähe wissenschaftlicher Institute zu konzentrieren. Zwar warnt Gienger davor, ein solches System „mit aller Gewalt durchzudrücken“. Aber man sollte - nicht zuletzt aus Gründen der wirtschaftlichen Effizienz - „stärker darüber nachdenken“. Anschauungsunterricht diesbezüglich gibt es in der deutschen Sportlandschaft bereits. Mit den Gewichtebern zum Beispiel könnten andere Verbände unkompliziert und rasch in einen regen Erfahrungsaustausch treten. Die „Eisenmänner“ um ihren neuen Superstar Matthias Steiner haben längst sämtliche Kaderathleten in Leimen zusammengezogen und dort die Kräfte gebündelt, während von den Stützpunkten in Chemnitz, Frankfurt (Oder), Heidelberg und Suhl nur mehr „zugeliefert“ wird. „Ein solches System müssen natürlich nicht alle nachahmen. Jede Sportart hat ihre Besonderheiten und muss ihr System dementsprechend spezifisch gestalten. Für uns ist es eben dieses Modell, das uns professionelle Bedingungen garantiert. Und darum geht es schließlich, die professionellen Bedingungen sind das A und O“, berichtet Frank Mantek, bei den Gewichthebern Sportdirektor und Bundestrainer in Personalunion.

Politisches Bekenntnis zum Leistungssport mit Folgen 

Giengers Anregungen fußen auf einer Erkenntnis, auf die bereits DOSB-Präsident Thomas Bach im Nachgang von Peking deutlich hingewiesen hat und die sich beim jüngsten Höhepunkt selbst geradezu aufdrängte. „Der internationale Wettbewerb im Leistungssport ist härter denn je“, unterstreicht Bach. Dies könne allein an zwei Zahlen festgemacht werden. Gewannen bei den Sommerspielen 2004 in Athen Akteure aus insgesamt 75 Ländern Medaillen, so waren es vier Jahre später – bei derselben Anzahl von Wettbewerben - Sportlerinnen und Sportler aus insgesamt 87 Ländern. Weltweit, so rechnet der Fecht-Olympiasieger von 1976 vor, werde aktuell so viel Geld in den Leistungssport investiert „wie nicht einmal zu Zeiten des Kalten Krieges“. Die Konsequenz liegt auf der Hand: Wer im Kräftemessen der führenden Sportnationen nicht abgehängt und nach hinten durchgereicht werden will, der muss noch größere Anstrengungen machen, der muss materiell aufrüsten und natürlich sein Know-how auf Vordermann bringen. 

Neues Vertragssystem mit Bonuseffekten 

Was die optimierte Steuerung des deutschen Leistungssports betrifft, so hat der Dachverband mit dem gerade zu Ende installierten System der Zielvereinbarungen zwischen DOSB sowie den Spitzenverbänden einerseits sowie mit dem BMI andererseits den bisher wohl größten Impuls geliefert.  Nahezu alle Verbände haben ihre individuellen Vereinbarungen mit dem DOSB getroffen. Insgesamt galt es für Bernhard Schwank, den  Leistungssport-Direktor des DOSB, Vereinbarungen mit allen 26 Spitzenverbänden in den olympischen Sportarten bzw. 40 olympischen Fachsparten auszuarbeiten. 

Mit den Wintersportlern wurde im Vorfeld der Spiele von Vancouver bereits im vergangenen Jahr verhandelt und abgeschlossen. Die Vereinbarungen mit dem Gros der Sommersportverbände folgten nach den so genannten internen „Meilensteingesprächen“ nach Peking und mit der Blickrichtung London 2012. Gelten sollen die sehr präzisen, nichtöffentlichen Kontrakte, in denen die Verbände im Detail ihre avisierten Medaillenziele für die nächsten Spiele festschreiben und im Gegenzug dargelegt ist, was ihnen dafür an personellen, materiellen und technischen Bedingungen zur Verfügung steht, fortan jeweils für einen olympischen Zyklus. Unter anderem sind in diese Verträge auch jene 88 Millionen Euro eingeflossen, die vom Bundesinnenministerium für Olympiastützpunkte, Fachverbände und Leistungssportpersonal 2009 zur Verfügung gestellt werden. „Wir unterscheiden zwischen Grundförderung und Projektförderung. Mit der Grundförderung kann ein Verband über den gesamten Olympiazyklus rechnen. Die Projektförderung ist eine Art Bonus, das könnte beispielsweise die zusätzliche Finanzierung für Trainingslager oder Trainer sein. Der Bonus soll ein Anreiz sein. Seine Verwendung hängt vom Erfolg ab. Läuft bei einem Verband gar nichts mehr, würden wir die Projektförderung zum Beispiel in Nachwuchsprogramme investieren. Vorteil dieses Systems ist, dass wir niemanden bestrafen wollen, aber gezielt investieren können“, schildert der DOSB-Vize-Präsident die Wirkungsweise des Instrumentariums.  

Gienger verhehlt nicht, dass es darauf ankommen wird, die Zielvereinbarungen kontinuierlich im Auge zu behalten und bei veränderten Bedingungen ständig nachzujustieren und die Kontrolle von Erfolg bzw. Misserfolg natürlich erst recht am Ende eines jeden olympischen Zyklus vorzunehmen und nach den Ursachen zu forschen. „Das erfordert von Seiten des DOSB einen intensiven Austausch mit den Verbänden. Die Verbände sollen wissen, dass der DOSB gemeinsam mit ihnen am Erfolg arbeitet und uns nicht als Oberlehrer empfinden, der ihnen zusätzliche Pflichten aufdrückt.“ Zustande gekommen sei das komplizierte, vielfältige Vertragswerk nur, weil sich die Partner kooperativ und konstruktiv verhielten. Einer der Hauptgründe dafür: Zu Beginn der neuen „Ära Zielvereinbarung“ geht es keinem einzigen Verband finanziell schlechter als zuvor. Das sei laut Gienger jedoch kein garantierter Dauerzustand. Nach der ersten olympischen Abrechnung werde sich bei jedem Verband herausstellen, ob Boni erwirtschaftet wurden oder ob die sportlichen Ziele verfehlt und die bisherige Finanzierung noch tragbar sei. Sollte sich etwa herausstellen, dass eine Sportart kaum noch Kaderathleten mit olympischen Qualitäten in ihren Reihe habe, müssten die Fördersummen eben in den Nachwuchsbereich als „Investitionen in die Zukunft“ fließen. Gibt es nicht einmal dafür ein ausreichendes Konzept, dann müsste man vollkommen neue Überlegungen anstellen.“ 

Verbesserte Rahmenbedingungen durch die Politik 

Voraussetzung für eine erfolgreiche, praktikable Zukunft des neuen Steuerungssystems ist, dass allen Bemühungen ein gesellschaftliches Bekenntnis zum Leistungssport zugrunde liegt und dieses Fundament über Olympiaden hinweg berechenbar und tragfähig bleibt. Was die deutsche Regierung betrifft, so gibt es daran nach den Aussagen von Bundeskanzlerin Angela Merkel kürzlich beim Empfang für die deutschen Olympioniken keinerlei Zweifel. Die Kanzlerin legte bei dieser Gelegenheit ein klares Bekenntnis zum Leistungsgedanken sowie zur international erfolgreichen Rolle des deutschen Sports ab. In dem Spannungsfeld, ob Deutschland einen Spitzensport will, der „weltweit bestehen kann oder ob wir die Dinge einfach irgendwie laufen lassen“, hat sich ebenso Peter Danckert, der Vorsitzende des Sportausschusses im Deutschen Bundestag, festgelegt: „Wir müssen zumindest den Versuch unternehmen, vorne mit dabei zu sein. Wir wollen den internationalen Spitzensport“, gab der SPD-Politiker jüngst in Berlin seine persönliche Auffassung kund, ging mit den Äußerungen der Kanzlerin konform und verband damit zugleich einer weitere folgerichtige Konsequenz: Wer im Weltkonzert möglichst hörbar mitmischen will, der müsse sich natürlich fragen lassen, ob er bereit sei „genügend finanzielle Mittel dafür bereit zu stellen“. 

Die Reaktion ist bekannt. Die Politik hat es nicht beim bloßen Lippenbekenntnis bewenden lassen, sondern Tatsachen und mithin verbesserte Rahmenbedingungen geschaffen. Die Mittel des Bundesinnenministeriums (BMI) für den Leistungssport werden 2009 um 15 Millionen Euro auf zirka 142 Millionen Euro steigen. Insgesamt wird die Sportförderung aus Steuermitteln dann über alle Ministerien hinweg rund 230 Millionen Euro betragen, wenngleich Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble Ende Oktober beim „Fest der Begegnung“ in Düsseldorf jedermann zu verstehen gab: „Im Alleingang kann der Staat den Bedarf eines international erfolgreichen Spitzensportsystems nicht decken.“ Man wolle „keinen kompletten Staatssport“, sondern ein „freiheitliches System“ mit vielen Facetten. 

„Ungeklärte verfassungsrechtliche Grundlage für Sportförderung 

Die staatlichen Fördersummen fließen derzeit, wie Dankert zu bedenken gibt, vor dem Hintergrund einer weiterhin „ungeklärten verfassungsrechtlichen Grundlage für die Sportförderung“. Weil der Sport noch immer nicht im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankert ist, stützen sich die Fördersummen derzeit einzig auf die „gesellschaftlichen Verantwortung“ der politisch Handelnden. Mit anderen Worten: Die Sportförderung ist vom guten Willen der politisch Verantwortlichen abhängig. Eine Basis, die keineswegs ausreicht und schon gar nicht zeitgemäß ist: Der Zustand könnte leicht verändert werden, wenn der gesellschaftliche bedeutsame Bereich namens Sport endlich seinen Platz im Grundgesetz findet. 

Auch wenn dieser überfällige Eintrag noch immer fehlt, tut das der staatlichen Förderung glücklicherweise keinen Abbruch. Im Gegenteil. Und so schlussfolgert Danckert logisch, dass Jene, die sich ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung bewusst sind und diese zu Gunsten des Spitzensports wahrnehmen, im Gegenzug auch das Anrecht haben, zu wissen was mit dem Geld geschehe und ob es zweckdienlich eingesetzt werde. Diese Art der Kontrolle verletzte keineswegs das Prinzip der „Autonomie des Sports“, sondern sei selbstverständlich Teil der gesellschaftlichen Debatte über den Sport. Entsprechend dürfe die Politik vom DOSB eine „handfeste und selbstkritische Analyse“ der Ergebnisse von Peking erwarten, merkte der Sportpolitiker an und sprach von einer „mageren Bilanz“, die eine „handfeste und selbstkritische Analyse“ nach sich ziehen müssen. Bis jetzt werde seines Erachtens zu „halbherzig agiert, das gelte übrigens auch für die Sportler selbst. 

Druckfrische DOSB-Broschüre mit aktuellem Leistungsindex 

Zuvor hatte bereits Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble darauf aufmerksam gemacht, dass man „nicht nur auf Goldmedaillen achten“ sollte oder es beim Medaillenvergleich zwischen Athen 2004 (insgesamt 49, davon 13 Mal Gold) und Peking (41, davon 16 Mal Gold) bewenden lassen könne. Mehr als zuvor rückt in der detalierten Bilanz jenes Moment in den Mittelpunkt, wie es bei der Nominierung deutscher Olympiamannschaften im Kriterium der „begründeten Endkampf-chance“ für jeden einzelnen Teilnehmer relativ präzise ins Spiel gebracht wurde. Auch DOSB-Präsident Thomas Bach hatte bereits unmittelbar vor dem Abflug eines Großteils der deutschen Mannschaft ausgeführt, welches der Maßstab sein sollte. „Ich hoffe für jeden von Ihnen, dass er am Tag des olympischen Wettkampfes seine persönliche Bestleistung bringt, die er sich von sich verspricht. Denn das ist das Maß der Zufriedenheit für jeden Athleten. Wenn er das bringt, was er glaubt, das er in sich hat, dann ist er zufrieden, unabhängig oder relativ unabhängig von der Platzierung“, hatte Bach auf dem 1. Deutschen Olympischen Sportkongress Ende Juli an die Adresse der deutschen Starter gesagt. 

Worte, an die Schäuble indirekt erinnerte, als er ausführte, dass „zu denken geben muss, wenn eine große der Zahl der Athleten ihre Saisonbestleistung bei den Olympischen Spielen nicht erreichten oder klar verfehlten“. Dass es bei den Endkampfteilnahmen einen „regelrechten Einbruch“ gegeben habe, lasse darauf schließen, dass es „offensichtlich Fehler in der Trainings-steuerung gegeben“ habe. Analytische Geradlinigkeit des für den Sport verantwortlichen Ministers, die das Nervensystem des deutschen Sports berührt. Insofern wird es spannend sein zu lesen, was die DOSB-Auswertungsbroschüre, die am kommenden Wochenende in Rostock-Warnemünde druckfrisch vorliegt und im Kern sowohl einen relativen Leistungsindex mit internationalem Vergleichsdaten als auch einen absoluten Leistungsindex in Relation zu allen Ergebnissen der deutschen Fachverbände seit Barcelona 1992 beinhaltet. Insbesondere dürften die Bezüge zwischen dem offiziellen Nominierungskriterium und den tatsächlich erreichten Endkampfplätzen in den einzelnen Sportarten sehr aufschlussreich sein. Insgesamt kamen deutsche Athleten bei 110 der insgesamt 302 ausgetragenen Entscheidungen in Peking auf einem der ersten acht Plätze ein. Wird der zehnte Platz noch als „Endkampfteilnahme“ herangezogen, wurde das Nominierungsziel in 143 Wettbewerben erreicht.

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