Von Gipfeln, Anerkennung und Rampenlicht
2012 ist vorbei – und wirkt nach, auch im Verhältnis von Integration und Sport. Ein Rückblick auf Kopftuch und Ringe, mit Bundespräsident und Kanzlerin.

11.01.2013

Integration durch Sport ist ein Thema an Schnittstellen: zwischen Sport, Politik und Gesellschaft. Auf allen drei Ebenen hat 2012 Einschnitte und Entwicklungen gesehen, die das gleichnamige Programm des DOSB beeinflussen, mehr oder weniger direkt, mehr oder weniger umfassend. Der folgende Jahresrückblick ist notwendigerweise beschränkt: auf konkrete Anlässe, die mit Integration und Sport zusammenhängen, sowie ihre Wirkung. Eine Auswahl, die schwer greifbare Themen bewusst ausklammert – Stichwort Leistungssteigerung durch Singen der Nationalhymne im Fußball.
31. Januar:
Zum Abschluss des 5. Integrationsgipfels stellen Bundeskanzlerin Angela Merkel und die zuständige Staatsministerin Maria Böhmer den Nationalen Aktionsplan Integration vor (siehe Meldung 02/2012). Er ersetzt den 2007 auf den Weg gebrachten Nationalen Integrationsplan und ist seit 2010 in zehn sogenannten Dialogforen erarbeitet worden, von denen eins den Sport thematisierte. Der Aktionsplan schreibt diesem Feld „großes“ Integrationspotenzial zu, speziell in der Ansprache von Jugendlichen und in Verbindung mit „Bildungs- und Lernangeboten“, wie sie auch das Programm IdS macht. Insgesamt sollen in der Integrationspolitik künftig verbindliche Vorgaben gelten, um – so zwei der gemeinsamen Ziele von Bund und Ländern – junge Menschen mit Migrationsgeschichte individueller zu fördern und den Anteil von Zugewanderten im öffentlichen Dienst zu erhöhen.
18. März:
Das Parlament wählt den neuen Bundespräsidenten: Joachim Gauck löst Christian Wulff an der Spitze des Staates ab; in der Folge wird er auch neuer Schirmherr des DOSB. Ende Mai befragt das Wochenblatt „Die Zeit“ Gauck zur vieldiskutierten Aussage seines Vorgängers, der Islam gehöre zu Deutschland. Er könne diesen Satz nicht übernehmen, beginnt die anschließend oft verkürzt wiedergegebene Antwort, „aber ich nehme seine Intention an“. Wulff habe die Bürger auffordern wollen, sich der Wirklichkeit zu öffnen, und die Wirklichkeit sei, „dass in diesem Lande viele Muslime leben". Er, Gauck, hätte „einfach gesagt, die Muslime, die hier leben, gehören zu Deutschland". Auch diese Aussage löst Reaktionen aus, aber die Debatte verläuft ruhiger als jene um Wulffs Äußerung.
1. April:
Es war auch Thema beim Integrationsgipfel: Das Anerkennungsgesetz wird wirksam. Nach Deutschland zugewanderte Menschen mit Berufsabschluss erhalten Rechtsanspruch auf ein Verfahren, das ihre Qualifikation mit dem deutschen Berufsbild abgleicht. Ist das Ergebnis negativ, bekommen sie Hinweis, welche Lücken sie schließen müssen. Was dem vielzitierten Fachkräftemangel (siehe auch „13. Dezember“) entgegenwirken soll, könnte zugleich die Arbeitsmarktintegration der Betroffenen erleichtern respektive beschleunigen – ein Ziel, das auch diverse IdS-Projekte verfolgen. Informationen zu dem Gesetz liefern das Onlineportal www.anerkennung-in-deutschland.de und eine Telefon-Hotline des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (+49 30 18 15 11 11).
5. Juli:
Die Mitglieder des International Football Association Board (IFAB) erlauben das Tragen von Kopftüchern. Der Beschluss bestätigt eine im März getroffene Entscheidung, das mit Sicherheitsbedenken begründete Verbot aus dem Jahr 2007 vorläufig aufzuheben. Freilich läutet er nur eine bis 2014 laufende Testphase ein, von der man sich genaueren Aufschluss über Verletzungsrisiken erhofft. Das Verbot hatte vor allem zu Problemen mit Iran geführt, dessen Frauen-Auswahl 2011 sogar von einem Olympia-Qualifikationsspiel ausgeschlossen wurde, weil die von nationalen Funktionären vorgeschriebene Körper- und Kopfbedeckung gegen das Reglement verstieß. Während übrigens Frankreichs Fußballverband beim Verbot bleibt, waren Kopftücher auf deutschen Rasen- und Ascheplätzen schon bisher akzeptiert – eine Frage religiöser Neutralität beziehungsweise religiöser Toleranz. Dieser Aspekt prägt neben dem Sicherheitsthema die ganze Debatte. Laut Marlene Assmann, Iran-Expertin und Co-Autorin des Films „Football under cover“, wird darüber oft etwas Drittes übersehen: Der schlichte Wunsch der Frau, Fußball zu spielen. Unter welchen Umständen auch immer. (Siehe Interview 03/2012)
25. Juli bis 12 August:
Man sollte die Kraft von Symbolen nicht überschätzen - und nicht unterschätzen. Bei den Olympischen Spielen in London tritt eine kulturell gemischte Mannschaft unter dem Slogan „Wir für Deutschland“ an, allein die 24 im Ausland geborenen Athleten stehen für 18 verschiedene Herkunftsländer. Einige von ihnen treten mitten ins Rampenlicht. Die gebürtige Russin Kristina Vogel gewinnt mit ihrer Partnerin Miriam Welte Gold im Bahnradsprint, die nachträgliche Disqualifikation der Konkurrenz ermöglicht einen wahrnehmungsstarken Sieg. Der aus Polen zugewanderte Filip Adamski sitzt im Deutschland-Achter, der das spektakuläre olympische Finale, später auch die Mannschaftswahl bei „Sportler des Jahres“ gewinnt (siehe Interview 12/2012). Dort trifft er auf den hierzulande geborenen Turner Marcel Nguyen, Sohn eines vietamesisch-deutschen Paares. Der Turner schwingt sich zur neuen großen Nummer des Sports auf, gewinnt mit Silber die erste deutsche Mehrkampf-Medaille seit 1936, legt am Barren in gleicher Farbe nach. Bei der Gala in Baden-Baden wird er als Dritter geehrt, hinter Robert Harting und Sebastian Vettel.
13. Dezember:
Was ist zu tun, und wie viel? Das hängt in der Integrationsarbeit auch von Zahlen wie jenen ab, die kurz vor Weihnachten das Wirtschaftsforschungsinstitut Kiel Economics liefert, auf Basis einer Studie. Demnach wird sich die Zuwanderung nach Deutschland bis 2017 erheblich verstärken. Vor allem aufgrund des Zuzugs aus EU-Staaten sollen in den nächsten fünf Jahren insgesamt 2,2 Millionen Menschen mehr kommen als gehen. Bereits seit 2010 wächst der sogenannte Wanderungssaldo sprunghaft: Nachdem er im Jahrzehnt zuvor konstant gesunken und 2008 und 2009 unter null gefallen war, drehte er damals auf plus 127.000. Für 2012 erwartet Kiel Economics einen Zuwachs von 400.000 Menschen, 2014 sollen gar 506.000 mehr ein- als auswandern. Die Schulden- und Arbeitsmarktkrise in Ländern wie Spanien, Griechenland und Portugal oder auch Ungarn treibt unter anderem hochqualifizierte, junge Menschen nach Deutschland. Das könnte den hiesigen Fachkräftemangel und den Bevölkerungsrückgang bremsen (sowie die spätere Erholung in manchem Herkunftsland – Stichwort „Brain drain“: Verlust der Gehirne). Und es wird auf die Integrationsarbeit Einfluss nehmen. Wie genau, muss sich zeigen.
(Quelle: DOSB, Text: Nicolas Richter)