In Rowlings Bestsellern scheinen sich allerdings nur die Jungen, allen voran Harry Potter, dem Sport hinzugeben, „um endlich einmal den riesigen silbernen Quidditch-Pokal zu gewinnen“. Die Mädchen dagegen sind die fleißigen Schülerinnen, und Harrys Freundin Hermine ist morgens meist die Erste, die in der Bibliothek sitzt, um das Wahrsagen und andere Fächer zu studieren. Sieht es im realen Deutschland anders aus als in der englischen Zauberwelt?
Die Mädchen haben stark aufgeholt, aber noch lange nicht überholt
Einerseits: Die Mädchen haben im letzten halben Jahrhundert im Sport deutlich nachgezogen. Das lassen die Zeitreihenvergleiche – etwa anhand der Emnid- und Shell-Studien – erkennen: Im Vergleich zu den 1950er Jahren hat sich der Anteil der sportaktiven Mädchen mehr als verdoppelt: von 35 % (1954) auf 76 % (1999). Noch beeindruckender fällt in dieser Zeitspanne die Zuwanderung zu den Sportvereinen aus: 1954 gaben 9 % der Mädchen an, einem Sportverein anzugehören, seit den 1980er Jahren pendeln die Organisationsgrade um die 30-Prozent-Marke.
Andererseits: Auch heutzutage treiben noch mehr Jungen als Mädchen Sport, und der Anteil der Sportvereinsmitglieder unter den männlichen Jugendlichen übertrifft nach wie vor deutlich den der weiblichen Heranwachsenden. In Nordrhein-Westfalen beispielsweise liegt der Organisationsgrad der Jungen in Sportvereinen zwischen 55 % und 60 %, jener der Mädchen bleibt immerhin 10 bis 20 Prozentpunkte darunter: zwischen 40 % und 45 %. So die Ergebnisse der neueren Bielefelder und Paderborner Jugendsportsurveys.
Also: Die Differenzen zwischen der Sportbeteiligung der Jungen und der Mädchen sind erheblich geschrumpft, aber sie bestehen fort. Das gilt zumindest für die alten Bundesländer.
... und in Ostdeutschland?
Lassen sich diese Trends aber auch in den neuen Bundesländern ausmachen? Für Ostdeutschland gibt es bisher nur wenige solide Daten. Speziell für Brandenburg liegt nun eine vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft (BISp) und vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) geförderte aktuelle Untersuchung des Arbeitsbereichs Sportsoziologie/Sportanthropologie der Universität Potsdam über die Sportbeteiligung der Mädchen vor (Jürgen Baur, Ulrike Burrmann & Katharina Krysmanski: Sportpartizipation von Mädchen und jungen Frauen in ländlichen Regionen. Köln: Sport und Buch Strauß, 2002). Die Ergeb nisse konturieren ein Bild über den Sport der Jugendlichen, das in den Grundzügen jenem entspricht, das wir von den westdeutschen Heranwachsenden kennen. An manchen Stellen treten jedoch deutlich andere Konturen hervor.
Auch in Brandenburg sind zwar die Mädchen am Sport weniger interessiert als die Jungen, und insgesamt treiben sie auch weniger Sport. Aber für die weit überwiegende Mehrheit der Jungen und der Mädchen gehört die Beteiligung am Sport zu den alltäglichen Selbstverständlichkeiten. Auch unter den Mädchen sind die „Gelegenheitssportlerinnen“ in der Minderheit, und es gibt nur ganz wenige, die mit dem Sport „überhaupt nichts am Hut haben“. Insoweit dürfte sich das Bild in Ost- und Westdeutschland noch weitgehend gleichen.
Ost-westdeutsche Differenzen lassen sich also nicht im Sportinteresse und in der Sportbeteiligung der Jugendlichen allgemein ausmachen. Wohl aber treten Unterschiede dann in Erscheinung, wenn man die sozialen Kontexte in Betracht zieht, in denen sich die Jugendlichen sportlich engagieren. Deutlich weniger ostdeutsche als westdeutsche Jugendliche beteiligen sich am vereinsorganisierten Sport: Die Anteile der Sportvereinsjugendlichen liegen 10 bis 20 Prozentpunkte unter denen der Altersgleichen in Westdeutschland. Das gilt für die Mädchen wie für die Jungen. Darüber hinaus beschränken speziell viele der ostdeutschen Mädchen ihre Sportaktivitäten ausschließlich auf ein informelles Sporttreiben in der Clique oder auch ganz für sich allein.
Schwach entwickelte Sportinfrastruktur in Ostdeutschland
Der Brandenburgische Jugendsportsurvey gibt erstmals auch detaillierter Auskunft über die Ursachen jener auffälligen ost-westdeutschen Differenzen in der „Bevorzugung“ der Sport-Kontexte. Diese Ursachen liegen nicht in den unterschiedlich ausgeprägten Sportpräferenzen der Heranwachsenden. Es sind vielmehr in erster Linie die Sportinfrastrukturen, die den Rahmen abstecken, in dem sie sich am Sport beteiligen können. Anders: Die zu beobachtenden ost-westdeutschen Differenzen in der Sportbeteiligung der Mädchen und Jungen resultieren in erster Linie aus den nach wie vor unterschiedlichen Beteiligungschancen am Sport.
Das über weite Strecken ländlich strukturierte Brandenburg kann dafür als Beispiel stehen: Im Unterschied zu den wenigen städtischen Regionen finden die Jugendlichen auf dem Land nur ein sehr begrenztes Sportangebot in ihrer näheren und weiteren Wohnumgebung vor. Schon die Jugendlichen müssen oft zeitaufwendig „pendeln“, um zu einem Sportverein zu kommen. Fitness-Studios, Hallenbäder oder gar Tennis-Center sind in erster Linie „städtische” Sporteinrichtungen. Den Jungen und Mädchen bleibt also oft gar nichts anderes übrig, als sich in ihren Wohnorten Wege, Straßen und Plätze als „Sportgelegenheiten“ anzueignen, um dort Fußball oder Basketball zu spielen, sich mit dem Rad oder mit dem Skateboard zu vergnügen, wenn sie auf sportliche Aktivitäten nicht verzichten wollen.
„Zugangsbarrieren“ zu den Sportvereinen
Damit wird zugleich klar: Die Zugangsbarrieren zu den Sportvereinen liegen für die ostdeutschen Jugendlichen deutlich höher als für die Heranwachsenden in Westdeutschland. Aber auch das hat nichts mit irgend einer subjektiven Distanz der ostdeutschen Jugendlichen zum vereinsorganisierten Sport zu tun. Das hängt vielmehr damit zusammen, dass Sportvereine vielerorts nur schwerlich erreichbar sind. Wiederum am Beispiel Brandenburg: Im ganzen Land sind Sportvereine eher dünn gesiedelt, so dass die Jugendlichen – und das gilt wiederum besonders in den vielen ländlichen Regionen – oft in Nachbargemeinden pendeln müssen, wenn sie sich einem Sportverein anschließen wollen. Die vielen Kleinst- und Kleinvereine – über 90 % aller brandenburgischen Vereine zählen dazu – haben aus verständlichen Gründen nur ein sehr begrenztes Sportprogramm, wobei der Fußball bei Weitem dominiert. Damit sind die Wahlmöglichkeiten der Jugendlichen eng begrenzt, und vielfach stehen sie vor der Alternative: entweder im Verein Fußball spielen oder lieber doch mit der Clique etwas anderes ausprobieren, wenn sich dazu irgend eine Gelegenheit ergibt.
Speziell die Mädchen finden sich in dieser Vereinslandschaft besonders schwer zurecht. In den Sportvereinen kommen sie noch weniger zum Zug als die Jungen. Nur jeder zweite (!) Sportverein auf dem Land führt überhaupt Mädchen als Mitglieder. Und viele Mädchen werden der einzig verbleibenden Alternative des Vereins wenig abgewinnen können: Fußball und sonst gar nichts.
Die sportliche Benachteiligung der ostdeutschen Mädchen
Die in dem Berichtsband dargelegten Befunde zur Sportinfrastruktur und Vereinslandschaft in Brandenburg – wobei Brandenburg durchaus als Beispiel für Ostdeutschland genommen werden darf – dokumentieren die begrenzten Beteiligungschancen der Mädchen am Sport sehr eindrücklich. Sie müssen sich mit Benachteiligungen in mehrfacher Hinsicht zurecht finden:
Vor dem Hintergrund einer in Ostdeutschland im Vergleich zu den alten Bundesländern noch wenig entwickelten Sportinfrastruktur sind die ostdeutschen Mädchen ebenso wie die Jungen gegenüber den Gleichaltrigen in Westdeutschland benachteiligt. Diese Benachteiligung verstärkt sich noch einmal für diejenigen Jugendlichen, die in den weiten ländlichen Regionen aufwachsen, wo die Sportinfrastruktur im Vergleich zu den Städten noch weniger „erschlossen“ ist. Und schließlich sind die Mädchen gerade dort gegenüber den Jungen abermals im Nachteil, weil sich die Sportvereine, vielerorts die einzigen „Sporteinrichtungen“ überhaupt, mit ihrer Jugendarbeit in erster Linie an die männlichen Jugendlichen richten.
Auf die jugend- und sportpolitische Agenda: Förderung der Mädchenarbeit
Die Förderung der „Mädchenarbeit“ im ostdeutschen Sport – und dies vor allem auch in den ländlichen Regionen Ostdeutschlands – muss deshalb auf der Agenda der Jugend- und Sportpolitik ganz weit oben platziert werden. Gerade in jenen Regionen mit schwacher Sportinfrastruktur, wo Heranwachsende nur wenige Sportgelegenheiten finden, müssen – neben dem Schulsport – vor allem auch die Sportvereine so etwas wie eine „sportliche Grundversorgung“ gewährleisten. Darauf haben dann aber auch die Mädchen einen Anspruch. Die Sportvereine müssen sich ihnen mehr öffnen, als das bisher der Fall ist. (Der Berichtsband gibt im Übrigen eine ganze Reihe von Hinweisen, wie das geschehen könnte.)
Aber auch die Jugendpolitik auf der Ebene der Kommunen, Landkreise und Länder kann sich ihrer Verantwortung nicht entziehen. Denn im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) steht geschrieben: „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.“ Das Recht auf Förderung der Kompetenz im Sport – also in jenem Lebensbereich, dem die Jugendlichen selbst einen so hohen Stellenwert beimessen – ist darin zweifellos eingeschlossen. Auch den ostdeutschen Mädchen wird man dieses Recht nicht absprechen wollen.