Am Beetzsee arbeiten Birgit Fischers WSV-Kanuten am Neustart

Der zwölfte Teil der Serie Stars und ihre Vereine: Über ein herrliches Grundstück gleich neben der internationalen Regattastrecke am Großen Beetzsee kann der Wassersportverein Stahl Brandenburg (WSV) verfügen.

Birgit Fischer (Mitte) und Abteilungsleiterin Corinna Böhm (rechts) mit dem WSV-Nachwuchs im Rennkanu.
Birgit Fischer (Mitte) und Abteilungsleiterin Corinna Böhm (rechts) mit dem WSV-Nachwuchs im Rennkanu.

Die Bootsstege werden von sanften Wellen umspült. Die lang gestreckte Wiese, auf der anderen Seite von einem Bootshaus, den beiden Krafträumen und einer geräumigen Sporthalle begrenzt, räkelt sich im Licht der „blauen Stunde“. Vom Bootshaus werden von einem halbes Dutzend Kindern gerade ebenso viele Kajaks zum Wasser geschleppt. Trainingsalltag bei den kleinen WSV-Kanuten. „Unser großes Vorbild ist Birgit Fischer“, lautet der einhellige Tenor bei der 14-jährigen Antonia und ihren Trainingsfährten. An eben dieser Stelle wie sie kletterte vor mehr als 40 Jahren ein sechsjähriges Mädchen namens Birgit erstmals ins schmale Boot. Später brachte sie von sechs Olympischen Spielen zwischen 1980 in Moskau und 2004 in Athen acht Goldmedaillen mit nach Hause. „Am Anfang musste man Birgit ein Kissen unterlegen, damit sie über den Bootsrand sehen konnte“, sagt ihr erster Trainer Harald Brosig und erinnert sich an die heute 47-Jährige als äußerst fleißige und ehrgeizige Sportlerin, die schon sehr früh als Kind ihre ganze Gruppe mitgezogen habe.

„Ich wusste ja, wie dramatisch die Situation ist“

Das Wörtchen „mitziehen“ ist für den Mann, der am 24. April seinen 64. Geburtstag feiert, eine ausgezeichnete Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Zuletzt arbeitete er in einem Baumarkt in der knapp 75.000 Einwohner zählenden Stadt an der Havel. Nachdem er 2008 in Rente ging, gab er beim WSV im September vorigen Jahres sein Comeback und ist als ehrenamtlicher Übungsleiter tätig. „Jetzt habe ich ausreichend Zeit, um zu helfen. Ich wusste ja, wie dramatisch die Situation ist“, sagt Brosig. Vor dem Mauerfall hatte er hier mehr als 20 Jahre am Bezirksleistungszentrum der Kanuten gearbeitete. In den vergangenen Jahren sei es versäumt worden, sowohl genügend Nachwuchskanuten als auch qualifizierte Übungsleiter zu rekrutieren, stellt Brosig nüchtern fest und lässt den Blick über die kleine Schar seiner Schützlinge schweifen. „Die Infrastruktur ist vollkommen intakt. Wir haben hier sogar noch eine kleine Bootsbauer-Werkstatt aus DDR-Zeiten und genügend Material, um 20 Leute zu verkraften. Aber die jungen Kanuten fehlen und genau so gut ausgebildetes Personal, um mit ihnen raus auf den See zu fahren.“

Also führt der Pensionär bei den Rennkanuten das Kommando zunächst einmal allein und ist emsig auf Suche nach potentiellen Assistenten. Abteilungsleiterin Corinna Böhm, die in ihrer Jugend noch selbst mit der großen Birgit Fischer im Boot saß und es immerhin 1986 bis zur Teilnahme an der Junioren-EM brachte, kann den Part einer Übungsleiterin nicht übernehmen. Ihr Job bei der Verwaltung in der Stadt, nach der ein ganzes Bundesland benannt ist, und ihr 14 Jahre alter Sohn Johannes begrenzen ihr Zeitbudget deutlich, sagt die 42-Jährige. Auch Mario Schink, der Vereinsvorsitzende und dereinst beim SC Neubrandenburg als Kajak-Fahrer auf Leistungssportkurs, kommt nicht in Frage. Der 40 Jahre alte Anwalt ist als Trainer der beiden Drachenboot-Besatzungen ausreichend gefordert. Die Hoffnungen ruhen derzeit auf Tobias Kühnert, einem früheren Kampfsportler, der voriges Jahr ins Kanu umsieg und sogar einen Bootsführerschein besitzt. Der 20-Jährige wäre ideal, um von Brosig in die Geheimnisse einer der erfolgreichsten deutschen Olympiasportarten eingeweiht und als designierter Nachfolger aufgebaut zu werden. Leider scheint es mit ihm kein happy-end zu geben. Nach dem Abitur rufe im nächsten Jahr die Bundeswehr. Wohin es ihn anschließend verschlägt, sei völlig offen, lässt  Tobias wissen und greift zum Megaphon.

Zeltlager auf dem Trainingsgelände als Motivationshilfe

Der „Lautsprecher“ ist auf dem Wasser so unentbehrlich wie die beiden Motorboote, die dem Verein aus Vorwendezeiten erhalten geblieben sind. Insgesamt sieben der 30 PS starken und eigens für diesen Zweck entwickelten Begleitboote habe es zu DDR-Zeiten hier gegeben, erinnert sich Brosig. Bei Sichtungen hätten sich manchmal 120 Grundschüler auf dem Gelände getummelt. Am täglichen Training unter Aufsicht von einem halben Dutzend gut ausgebildeten Trainern nahmen regelmäßig zwischen 30 und 50 Mädchen und Jungen teil. Je nach Altersklasse waren sie in drei oder vier Gruppen aufgeteilt und wurden von ebenso vielen Erwachsenen auf den Trainingsfahrten beleitet. Momentan müssen keine Gruppen gebildet werden, obwohl unterschiedliches Alter und unterschiedliches Niveau der Paddel-Eleven das ratsam erscheinen lassen. Das Leistungsgefälle bei den Kids ist teilweise beträchtlich, so dass sich auf dem Wasser schnell große Abstände zwischen den einzelnen Booten bilden und der Betreuer seine Flottille, wiewohl sie sehr klein ist, mit Argusaugen beobachten muss. Dreimal pro Woche wird trainiert. Schnell haben Antonia (14), Markus (14), Peter (12), die beiden ebenfalls zwölfjährigen Pauls, Gregor und Jonas (beide 11) erkannt, dass Brosig „sehr viel Wert auf Technik“ legt. Ohne saubere Technik und die nötigen Muskeln mache es wenig Sinn, weite Strecken im Boot zurückzulegen, so die schlichte Logik.

Mit der Rekord-Olympiasiegerin an fünf Grundschulen auf Talentsuche

Im vergangenen Jahr in den Sommerferien hielt die Gruppe zuhause erstmals ein kleines Trainingslager ab, übernachtet wurde auf dem WSV-Gelände in Zelten. Anlässlich des Camps hatte die erfolgreichste deutsche Olympionikin höchstpersönlich vorbei geschaut. Birgit Fischer hatte einige ihrer Medaillen mitgebracht, und die Diplom-Sportlehrerin plauderte mit dem Nachwuchs darüber, wie man im Rennkajak möglichst schnell vorwärts kommt. Ein großes Erlebnis für die Kids, die 2009 ein ähnliches Zeltlager liebend gern wieder aufschlagen würden. Gut möglich, dass bis dahin einige Neue beim WSV begrüßt werden können. Weil der Verein gern mehr Kinder für den Kanurennsport begeistern möchte, ist für den 17. Mai ein „Tag der offenen Tür“ geplant. Im Rahmen dieser Aktion wird Birgit Fischer, die nach wie vor eng mit ihrem Ur-Verein verbunden ist, in fünf Grundschulen Brandenburgs für ihre Sportart werben.

„Man muss sich etwas einfallen lassen. Es ist schwierig, junge Kanuten zu finden“, gesteht der Vereinsvorsitzende Mario Schink und hofft auf die magnetisierende Wirkung der Ausnahme-athletin Birgit Fischer. Brosig sieht der Offensive wohlwollend entgegen. Gleichzeitig gibt er zu bedenken, dass viele Interessenten zwar mit Booten und Schwimmwesten ausgerüstet, jedoch nicht ausreichend betreut werden könnten. Den Neuaufbau langsam gestalten, Balance heißt die Devise - wie draußen auf dem See. Es gilt, Einsteiger sukzessive heranzuführen und parallel dazu das nötige Personal. Für Letzteres sind eventuelle Kooperationen mit der Eliteschule des Sports im nahen Potsdam für Schink ebenso vorstellbar wie mit den anderen beiden Vereinen in der „Wasserstadt Brandenburg“, die junge Rennkanuten in ihren Reihen haben. Dem WSV-Chef schwebt außerdem ein „zentrales Training“ für Talente aus den verschiedenen Vereinen vor, die dasselbe Leistungsvermögen aufweisen.

Drachenboote sind bei den Erwachsenen der Renner

Derzeit würden mögliche Synergie-Effekte vor Ort noch zu wenig genutzt, um möglichst vielen Talenten von Brandenburg aus den Weg auf die Eliteschule in der Landeshauptstadt und damit womöglich zu einer internationalen Karriere zu ebnen. Schinks Junior Gregor hat den Aufnahmetest gerade bestanden, der 11-Jährige möchte 2011 nach Potsdam wechseln. Der gleichaltrige Jonas konnte beim Vorpaddeln in Potsdam noch nicht überzeugen. „Es gibt bestimmt noch mehr Chancen für mich“, sagt der Steppke mit Blick auf weitere Tests in den nächsten Jahren. Auch Corinna Böhm ist zuversichtlich, dass Brosig demnächst noch manches WSV-Talent für die Eliteschule fit macht. „Natürlich sollen die Kinder ihren Spaß am Kanurennsport haben, aber zugleich soll der nötige Ehrgeiz nicht fehlen“, formuliert die Abteilungsleiterin die Ansprüche. Je mehr Talente sich für die Eliteschule empfehlen, desto höher sei dort das Einstiegsniveau.

Die frühere Leistungssportlerin ihrerseits hat sich inzwischen leidenschaftlich dem Drachenbootsport verschrieben. Zusammen mit der Sparte Wasserwandern ist dies heute die größte Sparte in dem 270 Mitglieder zählenden Verein. Im Gegensatz zu den Heranwachsenden finden Frauen und Männer zunehmend Gefallen am Schweiß treibenden Wassersport, berichtet Mario Schink vom „Gegentrend“ in Birgit Fischers Fahrwasser. Während der Nachwuchs vom anstrengenden Rennkanu-Sport anscheinend eher abgeschreckt werde, würden es die Erwachsenen mehr und mehr genießen, im Boot gemeinsam ihre Kräfte zu mobilisieren. Bei den rund 60 WSV-Akteuren ist bereits der sportliche Wettkampf darüber entbrannt, wer im Boot sitzen darf. Die junge Sportart, deren Durchbruch mit dem 1. Internationalen Drachenboot-Rennen in 1976 in Hong Kong begann, hat am und auf dem Beetzsee in jüngster Zeit eine rasante Entwicklung genommen. Von der 4. Drachenboot-WM 2008 im polnischen Poznan brachten die WSV-Starter insgesamt fünf Medaillen mit nach Hause. Drei von ihnen saßen in Weltmeister-Booten, zwei gewannen Silber.

Eine Serie von Andreas Müller


  • Birgit Fischer (Mitte) und Abteilungsleiterin Corinna Böhm (rechts) mit dem WSV-Nachwuchs im Rennkanu.
    Birgit Fischer (Mitte) und Abteilungsleiterin Corinna Böhm (rechts) mit dem WSV-Nachwuchs im Rennkanu.