Baku 2015 – Es war und ist richtig, an diesen Spielen teilzunehmen

Der DOSB-Vorstandsvorsitzende Michael Vesper hat für die Wochenzeitung „Die Zeit“ einen Beitrag zu den Europaspielen verfasst.

Der Sport ist nicht in der Lage, ein Gesellschaftssystem zu verändern. Und doch wirkt der Sport, auch in Baku. Foto: Getty Images for BEGOC
Der Sport ist nicht in der Lage, ein Gesellschaftssystem zu verändern. Und doch wirkt der Sport, auch in Baku. Foto: Getty Images for BEGOC

Er erschien in gekürzter Form in der Ausgabe vom 25. Juni 2015. Hier die Originalfassung: 

„Haben Sie nicht ein schlechtes Gewissen?“, fragte mich ein Sportjournalist vor kurzem zu Beginn eines langen Interviews zu den Europaspielen in Baku und begründete das damit, dass dort Menschen aus politischen Gründen im Gefängnis sitzen.

Ich war selbst lange genug Politiker, um zu wissen, wie sensibel es ist, an einem solchen Sportereignis teilzunehmen. Der Sport findet nicht außerhalb der politischen und gesellschaftlichen Realität statt, und er ist auch nicht unpolitisch. Im Gegenteil, der Sport bewegt die Menschen so sehr, er produziert so wirkmächtige Idole, dass er eine große gesellschaftliche und politische Verantwortung hat, national wie international. Der stellt er sich – auf Feldern wie der Integration und der Inklusion, dem Engagement gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit, der Stärkung ökologischer und wirtschaftlicher Nachhaltigkeit. Der Einsatz für die Menschenrechte ist selbstverständlicher Teil der Olympischen Charta und künftig auch der Gastgeberverträge für Olympische Spiele.

Im Sport hat jedes Land eine Stimme

Dennoch können Sport-Großereignisse nicht nur in Demokratien westlicher Prägung stattfinden: Der Sport ist eine globale Bewegung, bei der ähnlich wie in der Vollversammlung der UNO jedes Land eine Stimme hat. Darum werden weiterhin auch Länder, deren Gesellschaftssysteme wir ablehnen, solche Veranstaltungen ausrichten. Jedes Land, jede Regierung, die sich darum bewirbt, will so das eigene Bild nach innen und nach außen stärken. Aber man handelt sich damit zwangsläufig auch die andere Seite der Medaille ein: nämlich eine deutlich erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit, das Interesse internationaler Medien an den Zuständen im Land. Die Folge sind dann wie vor Peking 2008 und Sotschi 2014 heftige Debatten, wie wir sie auch jetzt um Aserbeidschan erleben: Gegenwärtig beschäftigen sich (Sport-) Journalisten und Politiker in Deutschland in nie gekannter Intensität mit den Zuständen in diesem Land. Am Tag der Eröffnung der Europaspiele, am 12. Juni, beschloss der Deutsche Bundestag sogar eine Entschließung, um die „Einhaltung der Menschenrechte in Aserbeidschan“ einzufordern. Warum eigentlich nur hier? Haben die Menschenrechte in den übrigen Ländern des Südkaukasus einen besseren Stand?

Um die anfängliche Gewissensfrage zu beantworten, muss man zweierlei auseinanderhalten: einerseits die politische Lage selbst und andererseits die Rolle des Sports und der 265 deutschen Athletinnen und Athleten.

Unser Gastgeberland ist ein Land zwischen den Kontinenten. Geografisch gehört es eher zu Asien, politisch rechnet es sich Europa zu. Zwischen Russland im Norden und dem Iran im Süden sucht Aserbeidschan – ein schiitisches, aber säkulares Land, in dem auch christliche und jüdische Minderheiten ohne Verfolgung leben – den Anschluss Richtung Westen. Auch darum bot es sich nach vergeblichen Olympia-Bewerbungen als Austragungsort an, als das Europäische Olympische Komitee (EOC) die Europaspiele schuf.

Die Probleme Aserbaidschans hinsichtlich der Einhaltung der Menschenrechte sind offensichtlich, sie sind besorgniserregend. Ich habe darüber im Vorfeld der Spiele viele Gespräche geführt – mit Menschenrechtsgruppen, Regierungsvertretern, Menschenrechtsbeauftragten. Wir haben mit unserer Kritik nicht hinter dem Berg gehalten und natürlich auch die Mannschaft informiert.

Aber, und da sind wir auf der zweiten Ebene, kann man von unserer Mannschaft wirklich erwarten, dass sie dieses Thema in den Mittelpunkt ihres Aufenthaltes in Aserbaidschan stellt? Ich denke nicht.

Menschrechtsfrage nicht vergessen

Deutschland pflegt und vertieft seine Beziehungen zu Aserbaidschan, ohne die Menschenrechtsfrage zu vergessen. Außenminister Steinmeier war im vergangenen Oktober dort, Bundeskanzlerin Angela Merkel empfing Staatspräsident Aliyev im Januar in Berlin. In der anschließenden gemeinsamen Pressekonferenz sprach sie von Aserbeidschan als einem „Partner von wachsender Bedeutung“, bevor sie auch die Menschenrechte erwähnte.

Seit 2001 ist Aserbeidschan Mitglied des Europarates, dessen wichtigste Aufgabe es ist, für die Einhaltung der Menschenrechte und demokratischer Grundsätze in Europa einzutreten und deren Entwicklung in Transformationsländern zu fördern. Im vergangenen Jahr war Aserbeidschan sogar Vorsitzland.

Im Europaparlament nahm ich kurz vor den Spielen an einer öffentlichen Anhörung über „Großsportveranstaltungen und Menschenrechte“ teil. Einige Abgeordnete forderten uns auf, nur dann zu den Wettkämpfen anzutreten, wenn zuvor die politischen Gefangenen freigelassen worden wären. Eine scheinheilige Forderung, verhandelt doch die Europäische Kommission mit dem „strategischen Partner“ Aserbeidschan über die Umsetzung eines Energieabkommens. Auf meine Frage, warum diese Verhandlungen nicht unter die uns vorgeschlagene Bedingung gestellt und bis zur Freilassung der politischen Gefangenen ausgesetzt werden, erhielt ich keine Antwort. Und so funktioniert Politik auch nicht. Wer will, dass sich die Menschenrechtslage in Aserbeidschan verbessert, darf keine Brücken abbrechen, sondern muss behutsam und mit langem Atem dazu ermutigen, den Weg der Reformen zu gehen.

Erstaunlich ist, dass in der Debatte die völkerrechtswidrige Besetzung von sieben Provinzen Aserbeidschans durch Armenien komplett ausgeblendet wird. Der UN-Sicherheitsrat hat Armenien in mehreren Resolutionen zum Rückzug aufgefordert, ohne Erfolg. Umso höher ist zu gewichten, dass auch Armenien eine Mannschaft nach Baku entsandt hat, selbst wenn das Publikum buht und pfeift.

Sport wirkt

Der Sport ist nicht in der Lage, ein Gesellschaftssystem zu verändern – und er kann auch politische Gefangene nicht befreien. Und doch wirkt der Sport. „Sport hat die Macht, Menschen zu inspirieren und zusammenzuführen“, hat Nelson Mandela gesagt. Das tut er Tag für Tag – auch in Baku. Dort leben Ukrainer und Russen, Aserbeidschaner und Armenier, Kosovaren und Serben in einem Athletendorf, essen zusammen in einer Mensa und treten nach den gleichen Regeln in den sportlichen Wettkampf. Das ist in einer von Konflikten geprägten Welt ein hohes Gut.

Es war und ist richtig, an diesen Spielen teilzunehmen und seine Kritik auszusprechen, ohne auf die Pauke zu hauen und öffentliche Showacts zu veranstalten. Mir ist mehrfach von Betroffenen empfohlen worden, eher den leiseren Weg interner Aktivitäten zu gehen. Auch deutsche NGOs unterstützen Menschenrechtsgruppen im Land, und das wird nun nicht leichter. Nicht jede öffentliche Aktion nützt den Menschen, denen sie helfen will.

Sportler können den Wandel in einem Gastgeberland nicht erzwingen, aber sie können Beispiel geben. Ja, unsere Athleten sind Botschafter unseres Landes, unserer Kultur und unseres Wertesystems. Sie sind mündige Bürger und wirken dadurch, dass sie da sind, sich austauschen. Sie stehen für Toleranz und Freiheit, Fairness und Miteinander. Sie sind gegen Menschenrechtsverletzungen und für die Freilassung politischer Gefangener. Sie sind Vertreter und Verteidiger des demokratischen Rechtsstaates. Und sie müssen kein schlechtes Gewissen haben, dass sie in Aserbeidschan bei den ersten Europaspielen antreten.

(Quelle: DOSB-Presse, Ausgabe 27-30)


  • Der Sport ist nicht in der Lage, ein Gesellschaftssystem zu verändern. Und doch wirkt der Sport, auch in Baku. Foto: Getty Images for BEGOC
    Der Sport ist nicht in der Lage, ein Gesellschaftssystem zu verändern. Und doch wirkt der Sport, auch in Baku. Foto: Getty Images for BEGOC