Bildung ohne Bewegung bleibt Stückwerk

Wenn sich das Kalenderjahr seinem Ende zuneigt, ist allenthalben die Zeit der Bilanzen, Bewertungen und Ausblicke gekommen. Um das "Europäische Jahr der Erziehung durch Sport 2004" (EJES) zu resümieren, hatten sich die dafür in Deutschland verantwortlichen Koordinatoren, die Deutsche Sportjugend (dsj) und das politisch verantwortliche Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), für eine Nationale Abschlussveranstaltung in Köln entschieden.

Positive Erfahrungen im „Europäischen Jahr der Erziehung durch Sport“

 

Sowohl beim Empfang im Deutschen Sport- und Olympiamuseum als auch bei einer Konferenz mit Workshops an der Deutschen Sporthochschule (DSHS) waren die Meinungen aus Reihen der EJES-Partner aus Politik und Sport weitgehend einheitlich: Das Europa-Jahr habe die Erwartungen erfüllt.

 

„Deutschland hat diesmal gut abgeschnitten. Das ist ja nicht bei allen Vergleichen so.“ Ulrich Kasparick, Parlamentarischer Staatssekretär im BMBF, machte mit dem unvermeidbaren PISA-Schlenker gleich deutlich, wie er das EJES bewertet. Mit Blick auf die aus EU-Mitteln geförderten Projekte und die vielen weiteren ohne Unterstützung aus Brüssel durchgeführten Aktionen sagte Kasparick: „Es ist ein Fundament gelegt worden, das man sich vielfältiger gar nicht vorstellen kann.“

 

Deutschland ist EJES-Spitzenreiter

 

In der Tat kann sich die Bilanz des EJES in Deutschland sehen lassen: Mit den 21 geförderten Projekten, bei denen jeweils Sport- und Bildungseinrichtungen kooperierten, einer deutschen Beteiligung an zehn europäischen Projekten und einer Fördersumme von insgesamt 650.000 Euro ist die Bundesrepublik gewissermaßen der EJES-Spitzenreiter in der Europäischen Union. Mit den Eigenmitteln der Projektorganisatoren wurden 2004 sogar 1,65 Millionen Euro in die Erziehung durch Sport investiert. Doch damit soll es nicht getan sein.

 

Ingo Weiss, als dsj-Vorsitzender der „Frontmann“ des organisierten Sports in Erziehungsfragen, machte bei der Talkrunde im Sport- und Olympiamuseum deutlich: „Viele Programme wurden durch das EJES angeschoben, aber jetzt stehen wir in der Verantwortung. Jedes Jahr sollte ein Jahr der Erziehung durch Sport sein.“ Eine der entscheidenden Aufgaben werde sein, pflichtete ihm DSB-Generalsekretär Dr. Andreas Eichler bei, „die beispielhaften Projekte fortzuführen und langfristig wirksam werden zu lassen“. Ein Ansatz ist dabei die Ganztagsschuloffensive der Bundesregierung. BMBF-Vertreter Kasparick sagte, die Arbeit der Sportvereine sei „gar nicht hoch genug einzuschätzen“, und es habe sich gezeigt, dass erfolgreiche Ganztagsschulprojekte in der Mehrheit auch gute Beziehungen zu Sportvereinen pflegten. Dass das Gute weiter vorangetrieben werden müsse, darin waren sich alle Sprecherinnen und Sprecher einig, auch die Stellvertretende Generalsekretärin der Kultusministerkonferenz, Dr. Angelika Hüfner („Das EJES hat neue Bewegung in die Schule gebracht, aber die Bewegung darf nicht zu Ende gehen“), und die Europaabgeordnete Doris Pack („Wir sollten den Sport viel mehr nutzen, um den europäischen Gedanken zu fördern“).

 

Etwas differenzierter mit der „Erziehung durch Sport“ setzten sich Experten bei der unter dem Motto „Wie sieht die bewegte Zukunft aus?“ veranstalteten Konferenz an der DSHS auseinander. Der Sportwissenschaftler und Psychologe Professor Rainer Dollase von der Universität Bielefeld hielt bereits bei der Formulierung „Erziehung durch Sport“ inne. „Erziehung will gelernt sein“, so seine Kernaussage. Der Sport sei nicht per se erzieherisch wirksam, sondern Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher, Trainerinnen und Trainer müssten durch eine entsprechende Aus- und Weiterbildung erst in die Lage versetzt werden, die erzieherischen Potenziale des Sports nutzen zu können. Dollase würde deswegen lieber von der „Erziehung im Sport“ sprechen. Ungeachtet aller Definitionsfragen stehe der Sport vor der Bewährungsprobe: „Dadurch, dass die familiäre Erziehungsfunktion immer mehr geschwächt wird, muss man in Zukunft davon ausgehen, dass Erziehung viel mehr in sozialen Räumen stattfindet.“ Zudem befinde sich die erzieherische Ausbildung in Deutschland, weil praxisfern, auf einem „historischen Tiefstand“. Eine Erziehung durch Sport finde sicherlich statt, gleichwohl fordert Dollase den Sport auf, „Mindeststandards in der Erziehung zu setzen und diese nicht nur aufzuschreiben, sondern auch vorzuleben“.

 

Auf den nötigen „Transfer von wissenschaftlichen Erkenntnissen in die tägliche erzieherische Praxis“ wies DSHS-Rektor Professor Walter Tokarski hin. Der Aufbau von Netzwerken, mit deren Hilfe die Erkenntnisse der Erziehungswissenschaft, der Sportwissenschaft und der Sportpraxis miteinander verbunden werden können, sei von besonderer Bedeutung für eine positive bewegte Zukunft, so Tokarski.

 

„Seit PISA ist Bildung in Bewegung geraten. Gibt es in Zukunft auch mehr Bildung durch Bewegung?“

 

Kritische Worte fand Dr. Walfried König, Minsterialrat a.D. und Mitglied der Nationalen EJES-Jury, der eine übermäßige EU-Bürokratie bei der Projektantragstellung feststellte und monierte, dass europaweit nur rund die Hälfte der 12,1 von der EU in das Jahr investierten Millionen auch tatsächlich in Projekte geflossen sei. Die Hoffnung auf eine weitere und nachhaltige Förderung des Sports aus den europäischen Töpfen unterstrich Tilo Friedmann, der Leiter des EU-Büros des deutschen Sports in Brüssel. Sobald der europäische Verfassungsentwurf, in dem nun erstmals der Sport in Form von Artikel III-282 Eingang gefunden hat, ratifiziert sei, könne der Sport partizipieren. Friedmann geht davon aus, dass der Sportartikel ab 2008 greift und vorbereitende Maßnahmen ab 2006 in Angriff genommen werden können.

 

Nach 14 praxisbezogenen Workshops, in denen Experten aus Wissenschaft und Praxis einen Querschnitt durch sportliche Erziehungsthemen anboten, beschäftigten sich in einer abschließenden Expertenrunde Wissenschaftler mit „Zukunftsszenarien zur Rolle der Erziehung durch Sport“. Der Osnabrücker Erziehungsfachmann Professor Christian Wopp skizzierte dabei unter anderem ein „Negativ- und ein Positivszenario“ für die deutschen Sportvereine. Während auf der Negativseite etwa der Verlust staatlicher Zuschüsse, nachlassende Ehrenamtlichkeit und erhöhte Mitgliedsbeiträge stehen könnten, malte Wopp sein Positiv-Szenario mit engen Kooperationen mit sozialen Einrichtungen, wodurch Sportvereine zu Kommunal- respektive Stadtteilzentren würden, oder der Mitbestimmung bei Schul-Themen und -Projekten. Gleichwohl befürchtet Wopp, dass sein Negativ-Szenario realistischer sei als das Positivszenario. Die in Fragen der Bewegungserziehung renommierte Osnabrücker Professorin Renate Zimmer forderte, dass eine Erziehung durch Sport früher beginnen müsse als in der Schule. Zimmer fragte: „Seit PISA ist Bildung in Bewegung geraten. Gibt es in Zukunft auch mehr Bildung durch Bewegung?“ Dafür jedenfalls müssten die im EJES begonnenen Partnerschaften zwischen Bildung und Sport nachhaltig gesichert werden. Zumindest in Köln waren sich Politik und Sport einig, und immer wieder klangen der Wille und die Hoffnung an, die positiven Ansätze des EJES in das „Internationale Jahr des Sports“ der Vereinten Nationen 2005 zu übertragen. DSB-Generalsekretär Dr. Andreas Eichler gab sich jedenfalls zuversichtlich, „dass viele Brücken gebaut werden können“.