Das Gespräch mit Edgar Itt beginnt anders als geplant. Eigentlich soll es ums Sporttreiben im Alter gehen, doch die 400-Meter-Hürden-Ikone der 1980er- und 1990er-Jahre bleibt am Namen des Projektes „GeniAl“ hängen. Der habe ja viele Bezüge, sagt er gut gelaunt. Zum einen verweise das Wort auf „Generationen“, zum anderen auf „Gene“, spiele auf die Herkunft an, also sei man schnell bei den Themen Zuwanderung und Integration. Man könne da wirklich eine Menge reinpacken.
Und dann beginnt er unmittelbar reinzupacken, nämlich seine eigene (Sportler-)Geschichte, die eines Schwarzen Deutschen der ersten Generationen, und die des ersten Schwarzen Leichtathleten, der bei Olympischen Spielen eine Medaille für Deutschland holte. „Heutzutage sieht es ja ganz anders aus, bei der Leichtathletik-EM in München hatte jedes zweite oder dritte deutsche Teammitglied eine Zuwanderungsgeschichte“, sagt Edgar Itt, und man hört ihm an, bei aller Routine, mit der er über seine Biografie spricht, dass sich zwischen dem Gestern und diesem Heute eine deutliche persönliche Erfahrungskluft öffnet.
Da Edgar Itt von sich aus bei seiner Vergangenheit beginnt, greifen wir den Faden auf und sprechen über seine Erfahrungen, die er als Schwarzer Deutscher in diesem Land und im Sport gemacht hat. Ein Gespräch mit großem Spannungsbogen; über Rassismus, künstliche Kniegelenke und fehlende Leidenschaft bei der Ansprache älterer Menschen.
Herr Itt, wie haben Journalisten bei nationalen und internationalen Meisterschaften damals über Sie gesprochen?
So genau weiß ich das gar nicht mehr. Ich erinnere mich nur, dass es in den Kommentaren über mich oft hieß: „der Braungebrannte“. Wenn ich zusammen mit Harald Schmidt gelaufen bin, der die Sonne liebte und stets braun gebrannt war und meiner Hautfarbe nicht nachstand, dann sprachen die Reporter von den „Braungebrannten“. Da gäbe es heute einen Shitstorm.
Zu Recht!
Ja. Sonst war bei mir aber nur von Leistung die Rede.
Davon habe ich Sie in einem Videobeitrag sprechen hören: Sie erzählten, dass Sie das einzige Schwarze Kind unter 1.000 Schülern an Ihrer Schule waren. Und dass Sie aufgrund Ihrer Schnelligkeit einen Schutz vor Anfeindungen genossen haben.
Das stimmt …
… und zugleich haben Sie gesagt, dass Sie dem Schmerz immer davongelaufen seien. Dass er die Basis ihres Erfolges war. Das haben Sie mit einem Lächeln gesagt, obwohl es eine sehr traurige Geschichte ist.
Es war die einzige Möglichkeit für mich zu überleben. Zumindest in der Hälfte meines damaligen Lebens, das ich in der Schule verbracht habe. Ich konnte nur überleben, indem ich ein Statement setzte, und das ging allein über den Sport.
Man hat Sie über Leistung anerkannt, nicht als Menschen?
Ich würde es mal so sagen: Bei den Kindern, mit denen ich im Dorf aufgewachsen bin, in der Stadt, in Ortenberg, wo ich mittlerweile Ehrenbürger bin, da war ich einer von ihnen. Aber bei den Kindern aus anderen Ortschaften, die mich nicht kannten, da ging Anerkennung nur über Leistung. Es war die Zeit, als „Roots“ im Fernsehen lief (eine erfolgreiche US-Serie über eine afroamerikanische Familie zur Zeit der Sklaverei, 1978 im Deutschen Fernsehen ausgestrahlt, Anm. die Redaktion), da kam auch das Wort „Massa“ vor, für den weißen „Herrn“. Es gab Kinder, die von mir verlangten, dass ich sie mit diesem Wort ansprechen solle. Dem musste ich entgegentreten, und das habe ich mit dem Sport getan, in dem ich einfach besser war als sie. Und dann haben sie davon abgelassen.
Das sind krasse Erfahrungen. Sticht Ihre Schulzeit in der Hinsicht besonders negativ heraus?
Im Kindergarten war alles gut. In der Grundschule fing es an, als Kinder aus anderen Orten dazukamen. Das ging bis zur vierten Klasse. Dann habe ich die Schule gewechselt. Ich wusste, nun muss ich mich schnell beweisen, ehe es wieder losgeht. Ich bin dann einfach schneller gelaufen als die Jungen in der zehnten Klasse. Dadurch war ich anerkannt.
Und im Sportverein?
Das war komplett anders, da habe ich besonders tolle, integre Menschen erlebt. Ich weiß natürlich nicht, was bei denen in den Köpfen abgegangen ist, im Verein oder bei den Wettkämpfen. Aber zu spüren war nichts. Und später war ich durch meine Leistungen, meine Medaillen für viele weiß.
Weil Sie gut waren, waren Sie weiß? Und Deutscher?
In den Köpfen mancher schon. Die haben gesagt, du gehörst ja nicht zu denen, und meinten damit andere People of Color.
Wie sind Sie zu Ihrem Vornamen Edgar gekommen? Er ist ungewöhnlich für Ihre Generation.
Er ist eine Mischung aus den Vornamen meines leiblichen Vaters. Später ist mir zudem aufgefallen, dass es ein Anagramm des Namens meiner Mutter ist: Gerda. Sie war eine sehr starke Frau, ohne sie hätten wir Kinder es nie geschafft. Ich habe sie nie schlafen gesehen. Sie war alleinerziehend, nachdem ihr Mann gestorben war. Wir hatten nur 180 Mark Waisenrente im Monat zur Verfügung. Zusätzliche harte Arbeit war deshalb unerlässlich.
Wer oder was hat Sie zum Sport gebracht?
Mein pensionierter Großvater war Turnriegenleiter. Im Sommer hat er Leichtathletik mit den Kindern gemacht, im Winter, wenn Schnee lag, ist man in die Halle zum Turnen gegangen. Er hat mich überallhin mitgenommen, meine Mutter arbeitete ja. Ich musste beschäftigt werden, wollte immer dabei sein. Ich war ein unruhiges Kind. Mein Großvater hat gesagt: Du kannst mitmachen, aber dann musst du das Gleiche schaffen wie die anderen, sonst hältst du den Laden auf. Also konnte ich schon mit vier, fünf Jahren, was die doppelt so alten Kinder konnten.
War Ihr Großvater eine Art Ersatzvater?
Ein bisschen, aber dass er so eine große Rolle für mich spielte, hatte noch einen anderen Grund. Kennen Sie die Geschichte der „Stolen Generation“ aus Australien?
Nein.
Es geht dabei um die Zeit der 1910er- bis 1960er-Jahre, um Aborigines-Kinder, meistens aus Beziehungen zwischen weißen Australiern und Ureinwohnern, die per Gerichtsbeschluss aus ihren Familien entfernt und in Heime gesteckt wurden, um ihnen damit vermeintlich die Integration in die weiße Gesellschaft zu erleichtern.
Eine unglaubliche Geschichte …
In Deutschland gab es nach dem Krieg viele sogenannte Mischlingskinder, Kinder aus Beziehungen zwischen Schwarzen US-Soldaten und deutschen Müttern. Ich gehörte dazu. Und auch hier wurden diese Kinder – bevorzugt von alleinerziehenden Müttern – in Heime gesteckt oder zu Familien in den USA geschickt. Ein Schandfleck der deutschen Geschichte, der kaum bekannt ist. Meine Mutter war in großer Sorge, dass auch ich weggeholt würde. Daher war mein Großvater immer an meiner Seite. Die Leute aus meiner Heimatstadt erzählten später, dass sie mich bis zu meiner Einschulung nie allein auf der Straße gesehen hätten.
Wenn Sie zu einer der ersten Generationen Schwarzer in Deutschland gehörten, hatten Sie trotzdem andere Schwarze Personen als Bezugspunkte in Ihrem Leben?
Ja, Jimmy Hartwig (deutscher Ex-Fußballprofi, Anm. die Redaktion) gehörte unter anderem dazu. Der hat eine große Rolle in meinem Leben gespielt. Wir kennen uns gut, haben uns öfter im Urlaub getroffen. Dann sprechen wir auch über unsere Rassismus-Erfahrungen.
Haben Sie die Dokumentation „Schwarze Adler“ gesehen?
Der Film „Schwarze Adler“ ist eine sehenswerte Dokumentation über Rassismus im Fußball, unter anderem kommen zu Wort: Jimmy Hartwig, Gerald Asamoah, Steffi Jones, Erwin Kostedde, Otto Addo und Patrick Owomoyela. Die Doku ist bis zum 31. Mai 2023 in der ZDF-Mediathek abrufbar.
Plötzlich beginnt das Gespräch zu stocken, Edgar Itt wird leiser, hat hörbar mit seinen Emotionen zu kämpfen. Das Gespräch verstummt für einige Augenblicke. Dann pustet er durch.
… ich erinnere mich gerade daran, wie Jimmy erzählte, dass der Jupp Derwall (von 1978 bis 1984 Fußball-Bundestrainer, Anm. die Redaktion) ihn nicht in die Nationalmannschaft berufen hat, weil er keinen Schwarzen in der Mannschaft haben wollte. Ich bin froh, dass ich in einer Sportart wie Leichtathletik unterwegs war. Wenn du schnell bist, bist du schnell, dann kommt man nicht an dir vorbei. Die Leistung ist objektiv bewertbar, anders als im Handball, Fußball oder Turnen.
Das ist aber nicht der Grund, weshalb Sie beim Laufen gelandet sind?
Nein, ich habe viele Sportarten ausprobiert: Tischtennis, Fußball, ich habe im Handball Bezirksliga gespielt und mit meinem Tennisschläger aus Holz die Söhne reicher Eltern besiegt. Und ich bin im Schach sogar mal gegen den Großmeister Kramnik angetreten. Viele Talente, aber fürs Laufen besaß ich das größte.
Im Vorfeld des Gesprächs habe ich mich gefragt, ob Sie die 400 Meter noch unter einer Minute schaffen. Dann habe ich gelesen, dass Sie in einem Knie eine Teilprothese haben.
Ja, ich habe einen sogenannten Schlitten. Meine vielen Verletzungen haben zu Arthrose geführt, deshalb musste ich auch meine Karriere frühzeitig beenden. Vor zehn Jahren wäre ich noch Altersweltrekord gelaufen, die 400 Meter in einer 48er-Zeit, die 400 Meter Hürden in knappen 52 Sekunden.
Was können Sie sportlich machen?
Ich mache jeden Tag Gesundheitssport, altersgerecht. Ich gehe an den Crosstrainer, das schont meine Knie, beansprucht aber das Herz-Kreislauf-System. Ich mache viel Muskellängentraining, mit dem „Five-Konzept“. Dann gehe ich an elektronische Kraftgeräte und versuche wieder einmal die Woche zu joggen. Ich trainiere jeden Tag zwischen 45 und 90 Minuten und kann behaupten, für mein Alter weit überdurchschnittlich fit zu sein.
Sie können mit der Prothese joggen?
Einmal die Woche geht das, wenn ich es kontrolliert mache. Aufgrund einer O-Bein-Korrektur musste ich das Gehen und das Laufen wieder richtig lernen. Dabei haben mir die „Laufschule“ und das „Skillcourt-Training“ von Movement Concepts geholfen, deren Botschafter ich auch bin.
Wie sind die Erfahrungen mit Ihrer Generation, den Mittfünfzigern? Welche Rolle spielt der Sport?
In dieser Altersgruppe wird Bewegung enorm vernachlässigt. Mir fällt es besonders auf, wenn ich mit Menschen ins Gespräch komme und wir beim Thema Sport landen. Dann kommt oft die Antwort: „Sie sind ja noch so jung. Da geht das noch.“ Und dann frage ich, wie alt sie sind, und es stellt sich heraus, dass die fünf bis zehn Jahre jünger sind als ich. Allerdings geht es nicht nur um Sport, sondern auch um Ernährung und Gehirntraining. Als Mentalcoach muss ich darauf achten, dass mein Gedächtnis intakt bleibt.
Das klingt alles sehr diszipliniert.
Es kommt darauf, wie man seine Prioritäten setzt. Viele Menschen lassen sich gehen. Sie machen erst was, wenn es wehtut. Und sobald es besser wird, hören sie wieder auf. Das Bewusstsein für einen gesunden Lebenswandel, der den Veränderungen des Alters Rechnung trägt, ist einfach nicht da.
Wie ist es bei den jungen Menschen?
Wenn Sie die Generation meines Sohnes nehmen, der ist acht Jahre alt, und bis fünfzehn Jahre hochgehen, dann wird es die erste Generation sein, die im Schnitt nicht mehr das Lebensalter der Eltern erreichen wird. Trotz der großen Fortschritte in der Medizin.
Wie erklären Sie sich das?
Mangelnde Bewegung, und genauso wichtig: mangelnde kognitive Fähigkeiten. Zum Beispiel das Abschätzen der Geschwindigkeit eines Fahrzeugs im Straßenverkehr. Das wird nicht mehr trainiert. Wenn du einem Kind heute einen Ball zuwirfst, hast du Angst, dass es sich beim Fangen die Nase bricht. Sie wissen nicht, wie sie ihre Hände koordinieren sollen. Diese Fähigkeiten werden nicht mehr trainiert.
Und warum spielt Fitness trotzdem so eine große Rolle in der Gesellschaft?
Wo soll ich anfangen? Gut auszusehen, heißt noch lange nicht, fit zu sein. In der heutigen Gesellschaft ist es wichtiger, dass der Schein stimmt, aber Fitness ist mehr, als gut auszusehen. Der andere Punkt ist: Die Pandemie hat gezeigt, welch geringen Stellenwert der Sport besitzt, als Vereine und Fitnessclubs mit Bordellen gleichgesetzt und geschlossen wurden. Sport wird von der Politik als nicht systemrelevant begriffen, das ist ein großes Problem.
Was vermissen Sie in der Ansprache von älteren Menschen?
In der Kommunikation fehlen mir die Begriffe „Schmerz“ und „Leidenschaft“. Etwa so: Wenn du so weitermachst, wirst du in zehn Jahren diese und jene Unternehmung nicht mehr machen können– das ist der Schmerz. Und bei der Leidenschaft würde ich an das appellieren, was den meisten Menschen im hohen Alter wichtig ist. Möchtest du deine Enkelkinder aufwachsen sehen und sie aktiv, sowohl körperlich als auch mental, in ihrem Leben begleiten? Dann tue mehr, als nur jeden Tag Kreuzworträtsel zu lösen. Dafür brauchst du keine neuen Gehirnzellen. Jeden Tag sterben 50 bis 100.000 Gehirnzellen. Wir haben rund 100 Milliarden, da kann man sich ausrechnen, wie viele Zellen übrig bleiben, wenn sie vernachlässigt werden. Man muss die Zusammenhänge zwischen Muskelmasse, Intelligenz und Abwehrkräften besser aufzeigen.
Sie kennen die deutsche Vereinslandschaft, ist die dafür gewappnet?
Schwer zu sagen. Ohne das Ehrenamt, ohne die Leidenschaft der Menschen im Sportverein hätte ich meine Erfolge nicht feiern können. Aber das Ehrenamt stirbt. Und die, die noch engagiert sind, haben keine Zeit, sich mit den Erkenntnissen der modernen Wissenschaft auseinanderzusetzen.
Interview: Marcus Meyer
Der Olympionike
Edgar Itt wurde 1967 als Sohn eines US-Soldaten und einer deutschen Mutter geboren und wuchs im hessischen Ortenberg unweit von Frankfurt am Main auf. In den 1980er- und 1990er-Jahren gehörte er national wie international zu den besten 400-Meter-Läufern, startete zusammen mit Harald Schmid für den TV Gelnhausen. Edgar Itt war Deutscher Meister, Europacup-Sieger und zweimaliger EM-Silbermedaillengewinner mit der 4-mal-400-Meter-Staffel. Sein größter Triumph: die Bronzemedaille bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul, ebenfalls in der Staffel. Nach seiner Sportkarriere, die er aufgrund von Verletzungen schon mit 28 Jahren beenden musste, machte er an der Frankfurter Uni seinen Diplom-Kaufmann. Edgar Itt wohnt mittlerweile in Schweinfurt und ist seit mehr als 20 Jahren als selbstständiger Coach, Motivationstrainer, Keynote-Speaker und Mentaltrainer für Unternehmen, Einzelpersonen und im Spitzensport tätig. Dazu zählt auch der gesamte Frauen-Sprintkader (zu dem auch Gina Lückenkemper gehört, die mit der 4-mal-100-Meter-Staffel der Frauen dieses Jahr bei der EM in München Gold gewann), der vor zwei Jahren für drei Tage zu einem Intensiv-Seminar bei ihm war, um das „Projekt Gold“ auch mental zu verwirklichen.