Der Sportmediziner als „Anwalt“ der Hochleistungssportler

 

 

Der Hochleistungssport ist schon längst in die Grenzbereiche menschlichen Leistungsvermögens eingedrungen.

 

In der Sendung „NachSpiel“ im Deutschlandradio Berlin erklärte der Leiter des Instituts für Kreislaufforschung und Sportmedizin an der Deutschen Sporthochschule in Köln, Prof. Hans-Georg Predel, es gebe für Spitzensportler natürliche Grenzen, die genetisch bestimmt seien. Predel sagte: „Es ist sehr offen, ob bestimmte Leistungen, die heute erbracht werden, noch innerhalb physiologischer Bandbreiten liegen oder ob diese Leistungen tatsächlich nur noch durch Manipulation von außen realisierbar sind. Das ist eine Grenzfrage, die zur Zeit wirklich vielfältig diskutiert wird.“

 

Eine andere Position nimmt der Sportmediziner Dr. Peter Lehnigk ein, leitender Sportarzt am Olympiastützpunkt Berlin, dem größten deutschen Leistungssportzentrum: „Es sind derzeitig noch keine absoluten Leistungsgrenzen in den einzelnen Disziplinen abzusehen. Es wird immer wieder Verbesserungen von Welt- und Olympiarekorden geben, die sich aber in ihrem Maß stark in Grenzen halten. Allerdings, ein 100-m-Lauf wird es niemals in fünf, sechs oder sieben Sekunden geben. Das halte ich für ausgeschlossen, das hält auch die Wissenschaft für ausgeschlossen.“

 

Dr. Clemens Prokop, Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) und Vizepräsident des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) für Deutschland, meinte hingegen, der große Boom im Rekordsystem des Spitzensports sei vorbei: „Wir erleben in vielen Disziplinen einen Rückgang der absoluten Leistung. Heute kann man Weltmeistertitel mit Leistungen bekommen, die vor vielen Jahren noch nicht einmal dazu gereicht hätten, unter die ersten sechs zu kommen.“ Der Vorschlag des DLV, alle Weltrekorde mit dem Jahr 2000 einzufrieren, um damit eine neue Ära des Sports nach außen hin deutlich zu machen, sei allerdings von den internationalen Gremien abgelehnt worden. Prokop sieht aber dennoch eine positive Wirkung: „Der Rückgang der absoluten Leistung in vielen Disziplinen zeigt, dass die Dopingbekämpfung greift. Und das macht Hoffnung, um auf diesem Weg auch weitergehen.“

 

Trainingswissenschaft, Bewegungslehre, Sportmedizin und Sportpsychologie haben in den letzten Jahrzehnten wichtige Voraussetzungen für eine stetige Steigerung sportlicher Höchstleistungen geliefert. Doch solche Versuche haben nach Meinung des Sportphilosophen Professor Elk Franke von der Humboldt-Universität zu Berlin im „technologischen Sport“ bedenkliche Formen angenommen. „Die Verbindung von Mensch und Technologie führt dazu, dass die individuelle Leistungsgrenze über eine zunächst kaum denkbare Form immer wieder hinaus geschoben wird“, erklärte Franke im Deutschlandradio Berlin. „Da die Überwindung von Leistungsgrenzen aber zum Handlungsprinzip gehört, sind Doping und Technologie im Sport nicht sportfremd, sondern gehören zum modernen Hochleistungssport dazu. Wir müssen gegenhalten mit dem Hinweis auf die natürlichen Leistungsgrenzen.“

 

In den Zeiten des „Kalten Krieges“ hatten sich Sportärzte in Ost und West dem ungehemmten Rekordstreben verschrieben. Sie waren in den vergangenen Jahrzehnten Erfüllungsgehilfen des Spitzensport-Betriebes. Doch inzwischen ist eine neue Generation von Medizinern aus dieser Systemtreue ausgebrochen. Heute begreift sich der verantwortungsbewusste Sportarzt eher als Interessensvertreter der Top-Athletinnen und Top-Athleten.

 

„Ein solcher Bewusstseinswandel ist zu beobachten“, sagte Professor Predel. „Allerdings wird in Einzelfällen oder auch systematisch eine falsch verstandene Leistungsmaximierung durchaus noch zum Aufgabenfeld der Sportmedizin gesehen.“ Predel plädierte dafür, die Sportmedizin „sollte sich ganz klar als Anwalt der Athleten sehen“: „Oft müssen Athleten auch vor sich selbst geschützt werden, die unter einem enormen Druck stehen und die in einem Bezugsfeld groß geworden sind, in dem die Rücksicht auf den eigenen Körper eher vernachlässigt wurde. Das heißt, hier muss der Sportmediziner ganz klar für den Patienten Stellung beziehen und sich im Zweifelsfall gegen die Interessen der Verbände und häufig auch der Trainer wenden. Das ist eine schwierige, aber sehr notwendige Aufgabe.“

 

„Im Hochleistungssport geht es nicht um Gesundheit, darum geht es im Breitensport“, erklärte der Sportpädagoge Professor Gerhard Treutlein von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. „Im Zweifelsfall wird für Leistung alles geopfert – auch die eigene Gesundheit und die eigene Zukunft.“ Die Sportärzte hätten eigentlich die Aufgabe, die Athleten zu informieren, zu warnen und sie vor sich selbst zu schützen. Treutlein: „Es kann nicht sein, dass es immer noch so viele Mediziner gibt, die meinen, ihre Aufgabe sei es, sich völlig im Dienst von einer zu steigernden Leistung zu engagieren. Aufgabe der Mediziner ist es, die Gesundheit der Athleten zu erhalten und zu fördern. Da wird meiner Meinung nach zu wenig getan.“

 

NOK-Präsident Dr. Klaus Steinbach, Orthopäde und ärztlicher Direktor einer Klinik im saarländischen Weiskirchen, hält die Belastungen für Spitzenathleten nicht für grundsätzlich bedenklich. „Man kann zwar keinen Persilschein für den Hoch- und Höchstleistungssport ausstellen“, sagte Steinbach, „aber es steht fest: Spitzensport ist unter guter medizinischer und ärztlicher Betreuung nicht gesundheitsschädigend. Körperliche Inaktivität bringt viel größere Gesundheitsschäden mit sich; dies belastet unser Gesundheitssystem viel stärker als die eine oder andere Sportverletzung.“

 

Auf Kritik stieß diese Äußerung beim Sportphilosophen Elk Franke. „Durch die Grenzsituation ist der Sport in einem Feld angesiedelt, wo es tatsächlich auch um die Frage des letzten Einsatzes, und das heißt um Lebenseinsatz geht“, sagte der Geisteswissenschaftler. „Wenn der Sport weiterhin glaubt, sich selbst zu kontrollieren, dann werden wir nur begrenzt tatsächliche Stoppregeln entwickeln können.“ Franke plädierte für „ein Greenpeace des Sports“, für eine Organisation, die das ungebremste Rekordstreben in Frage stellen sollte. „Der Sport braucht Gegenwind. Die Kritiker des Hochleistungssports heute sind keine Netzbeschmutzer, sondern sie sind nötig, damit in 20 Jahren noch ein jugendorientierter Hochleistungssport mit gutem Gewissen präsentiert werden kann.“

 

Für einen Bewusstseinswandel tritt auch DLV-Präsident Clemens Prokop ein: „Die Leistung soll immer die Summe aus der körperlichen Veranlagung, dem körperlichen Fleiß und der technischen Beherrschung einer Disziplin sein – und mehr nicht. Und wenn diese Grenzen bestehen, dann sind diese Grenzen zu akzeptieren, und dann sollten wir auch so ehrlich sein, uns in der Öffentlichkeit über dritte, vierte, fünfte Plätze ehrlich freuen und nicht immer nur auf den Sieger stieren.“

 

(Die Sendung „Spiel mit dem Leben – Der Spitzensport und die Medizin“ wurde am Sonntag, 14. März 2004 im Deutschlandradio Berlin ausgestrahlt. Das Manuskript zur Sendung ist im Internet nachzulesen unter www.dradio.de/dlr/sendungen/nachspiel).