Deutschlands Kinder im Sport: besser als ihr Ruf

„Erster Deutscher Kinder- und Jugendsportbericht“ gibt Aufschluss

 

Deutschlands Kinder und Jugendliche haben keinen guten Ruf, wenn es um ihre Sportlichkeit geht.

Das Urteil „schlapp und unsportlich“ klingt noch fast freundlich im Vergleich zu einem Schlagwort wie „fett, faul und fernsehsüchtig“. Schlüssige Beweise für diese Behauptungen sind jedoch nicht leicht zu finden. Denn es gibt zwar viele einzelne wissenschaftliche Untersuchungen zu Fragen der sportlichen Betätigung von Kindern und Jugendlichen, aber keine umfassende Dokumentation des heute vorhandenen Wissens dazu.

Die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung hat daher im Herbst 2001 den „Ersten Deutschen Kinder- und Jugendsportbericht“ in Auftrag gegeben, den sie jetzt der Öffentlichkeit vorstellte. Der Bericht ist insofern eine Premiere, als er über die bisher vorliegenden kleinteiligen Einzelstudien hinaus erstmals eine Gesamtschau des Kinder- und Jugendsports in allen seinen Facetten bietet. Er fasst auf rund 450 Seiten das gegenwärtig bekannte Wissen zur Sport- und Bewegungswelt von Kindern und Jugendlichen zusammen und zeigt Forschungslücken sowie Handlungsmöglichkeiten für Politik, Verbände, Vereine, Lehrer und Eltern auf.

29 Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen behandeln in 20 Kapiteln eine Vielzahl von Themen, die auch über den Sport im engeren Sinne hinausgehen. Es geht um Gesundheit, körperliche und geistige Entwicklung, gesellschaftliche Einbindung des Kinder- und Jugendsports sowie um Leistungs- und Spitzensport bei Kindern und Jugendlichen.

Berthold Beitz, der Kuratoriumsvorsitzende der Stiftung, überreichte die Studie im Rahmen einer Pressekonferenz an den für Sport zuständigen Bundesinnenminister Otto Schily, Nordrhein-Westfalens Minister für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport, Michael Vesper, und an den Präsidenten des Deutschen Sportbundes, Manfred von Richthofen. Mit dem Bericht, so Beitz, werde der Kinder- und Jugendsport neu ins Blickfeld gerückt. „Ich wünsche mir, dass die Arbeit der Wissenschaftler praktische Früchte tragen wird, damit Fehlentwicklungen in Zukunft vorgebeugt werden kann.“

„Der Bericht leistet eine differenzierte Analyse der Situation des Kinder- und Jugendsports in Deutschland und bietet Vorschläge für dessen Verbesserung und Weiterentwicklung“, so Bundesinnenminister Otto Schily während der Präsentation. „Ich bin den Initiatoren - allen voran dem Auftraggeber, der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach Stiftung – für
die Erstellung des ´Ersten Kinder- und Jugendsportberichts` sehr dankbar. Damit liegt erstmals eine Dokumentation vor, die die Bedeutung des Sports für die körperliche und soziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in seiner gesamten Vielfalt darstellt und auswertet.“

Landessportminister Michael Vesper versicherte: „Die Politik wird die Ergebnisse der Studie ernst nehmen und bei ihren künftigen Initiativen auch berücksichtigen. Ich wünsche mir, dass der Bericht mit derselben Ernsthaftigkeit in der Öffentlichkeit diskutiert wird, wie es bei der PISA-Studie geschehen ist.“

Der Sport, sagte DSB-Präsident Manfred von Richthofen, sei ein Erlebnisfeld für Kinder und Jugendliche, das durch nichts zu ersetzen sei. Also müssten auch seine Rahmenbedingungen höchsten Ansprüchen genügen und optimale Voraussetzungen für zeitgemäße und zukunftsweisende Jugendarbeit schaffen. Eine Forderung, die auch die Deutsche Sportjugend mit Nachdruck unterstreicht.

Die drei Herausgeber des Berichts, die Professoren Dr. Werner Schmidt (Universität Duisburg-Essen), Dr. Wolf-Dietrich Brettschneider (Universität Paderborn) und Dr. Ilse Hartmann-Tews (Deutsche Sporthochschule Köln), widerlegten bei ihrer Präsentation der zentralen Studienergebnisse einige weit verbreitete Vorurteile, so auch das Schlagwort von den „fetten, faulen und fernsehsüchtigen“ Heranwachsenden. Rund 80 Prozent aller Kinder und Jugendlichen treiben Sport, so die Wissenschaftler, und für die allermeisten ist es die wichtigste Freizeitbeschäftigung.

Unangefochtene Nr. 1 unter den Jugendorganisationen ist der Sportverein. Gleichzeitig ist ein deutlicher Rückgang in der körperlichen und motorischen Leistungsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen gegenüber Gleichaltrigen vor 30 Jahren nachweisbar. Wichtig ist daher, dass die Sportvereine ihre Möglichkeiten besser nutzen, durch gut ausgebildete Übungsleiter und Trainer dieser Entwicklung gegenzusteuern. Aber auch die Politik ist auf allen Ebenen gefordert, kinderfreundlichere Städte zu schaffen und dem Sport auch im Schulunterricht wieder eine höhere Priorität einzuräumen.

Wie Sport die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen fördert, kann die Wissenschaft allerdings zur Zeit nicht eindeutig sagen. Die vorliegenden Ergebnisse zu dieser Frage sind in vielen Bereichen als ambivalent einzustufen. Unbestreitbar wichtig sind aber das Lebensalter und die Intensität, mit der eine Sportart betrieben wird. Die Unsicherheiten auf Seiten der Wissenschaft haben dazu geführt, dass es weder verbindliche Standards in der Bewegungserziehung noch gesicherte Konzepte für gesundheitsorientierten Sport im Verein und in der Schule gibt. Hier gebe es noch viel zu tun, betonen die Herausgeber des Berichts.

In vielen öffentlichen Diskussionen wird auf die Fähigkeit des Sports hingewiesen, Kinder aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten und kulturellen Traditionen zu integrieren. Der Bericht setzt hier Fragezeichen. Im deutschen Kinder- und Jugendsport gibt es ein starkes soziales Gefälle und deutliche geschlechtsbezogene Unterschiede: Jungen treiben mehr Sport als Mädchen, Gymnasiasten mehr als Hauptschüler und deutsche Kinder mehr als Migrantenkinder. Es hat zwar zahlreiche Initiativen und Projekte gegeben, dies zu ändern. Die Möglichkeiten, die der Sport bietet, werden aber bei weitem nicht ausgeschöpft.

Aus den Ergebnissen des Ersten Deutschen Kinder- und Jugendsportberichts, so die Herausgeber, ergebe sich die wesentliche Forderung nach noch besser ausgebildeten Übungsleitern, Trainern, Erzieherinnen und Lehrern für alle Schulformen. Die Ausbildung müsse stärker als bisher die sportliche Früherziehung, die Arbeit mit gesellschaftlichen Randgruppen sowie gesundheitsorientierte Bewegungs- und Sportpädagogik berücksichtigen. Die Politik sei gefordert, die Interessen von Kindern und Jugendlichen in die Stadtentwicklung einzubeziehen. Die Erschließung wohnnaher Spiel- und Bewegungsräume stärke die Vorbeugung von Bewegungsmangel und Koordinationsschwächen und leiste einen unverzichtbaren Beitrag für die gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.