Die deutsche Sport-Vereinigung als Unvollendete

30 Jahre Mauerfall bedeuten auch 30 Jahre wiedervereinigtes Sportdeutschland. In einer dreiteiligen Serie gibt Autor Günter Deister einen Überblick.

Bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona läuft das gesamtdeutsche Team nach der Wiedervereinigung ein. Foto: picture-alliance
Bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona läuft das gesamtdeutsche Team nach der Wiedervereinigung ein. Foto: picture-alliance

Englands Premierministerin Margaret Thatcher war dagegen, und zunächst auch Frankreichs Präsident François Mitterrand. Zu tief wurzelte die Furcht, ein Schuld beladenes, wiedervereinigtes Deutschland könnte verlorene Dominanz in Europa zurückgewinnen. Ein besonderes Alarmsignal zum Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 sendete der Mann der „New York Times“ mit seiner Einschätzung aus: „Die Vereinigung ist unaufhaltsam, und sie kommt schnell. Und dann könnt ihr Deutschen euch auch über den Sport freuen. Ihr werdet die Nummer eins werden.“ Das wiederum hatte seine politische Entsprechung. Helmut Kohl sagte „blühenden Landschaften“ voraus und Willy Brandt prophezeite: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“

Von der amerikanischen Prognose stimmte nur die erste Hälfte, trotz hinhaltendem und schließlich überwundenem Widerstand aus London und Paris. Die zweite Hälfte erwies sich als Irrtum. Dreißig Jahren nach Mauerfall ist unbestritten, dass Kohls und Brandts Verheißungen mehr Wunsch waren als Wirklichkeit. Die jüngsten Wahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen enthalten den Kern einer dramatischen Unzufriedenheit mit dem Erreichten, der auch den Sport der neuen Bundesländer betrifft und die Frage stellt nach Zustand und Mängeln. Den ersten Realitätsverlust erlitt acht Monate nach dem Mauerfall Franz Beckenbauer. Nach dem am 8. Juli 1990 in ganz Deutschland umjubelten Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft in Italien verstieg sich der Teamchef der Nationalmannschaft zu der Behauptung, mit hoch talentierten Fußballern aus der DDR zusammen sei Deutschland „unschlagbar“. Der Irrtum lag darin, dass bei der Addition zweier höchst unterschiedlicher Systeme das mathematische 1 plus 1 längst nicht 2 ausmacht. Und auch gar nicht machen kann.

Nun besteht der vereinte deutsche Sport mit seiner Vielfalt und Breite (in rund 90.000 Vereinen und mit rund 27 Millionen Mitgliedschaften) nur zum geringen Teil aus Spitzensport. Doch der lieferte mit seinen olympischen Zahlen ein extremes Bild voller Eindeutigkeit. Es sind jene 519 Medaillengewinne der DDR bei Olympischen Spielen zwischen 1968 und 1988 mit eigenen Teams – im Vergleich zu 243 der Bundesrepublik. Sie tragen das Kainsmal eines staatlich organisierten Massendopings, wie es ihn in der Geschichte des Sports zuvor noch nicht gegeben hat. Sie bezeichnen aber auch das Gegenbild eines Sports in einer demokratisch verfassten Gesellschaft. Sie sah sich im Kampf der Systeme auch herausgefordert und erwies sich dabei durchaus auch anfällig für das Siegen zu einem hohen Preis.

Grundsätzlich taugen Erfolge im Sport wenig als Barometer für gesellschaftlichen Fortschritt und demokratischer Entwicklung. Im vorliegenden Fall verschleiern sie ja auch ein Glück. Das Glück einer Vereinigung, die dem Sport jedenfalls im Formalen weitgehend gelungen ist und den Zweck hatte, ihm in einem demokratischen Rahmen einen neuen Sinn zu geben und eine neue Basis zu schaffen. So wurde die vollzogene Sport-Vereinigung am 14. Dezember 1990 in Hannover mit der Aufnahme der fünf im Osten gegründeten neuen Landessportbünde in den westlichen Dachverband Deutscher Sportbund (DSB) und der Vereinigung der beiden Nationalen Olympischen Komitees (NOK) nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auch für den Sport eine zweite Stunde null.

Ein Staatssport verschwand, von dem der DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker sagte, „er ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck“, nämlich die Überlegenheit des kommunistischen Systems mit allen Mitteln zu unterstützen und zu behaupten. Der Gegenentwurf des Sports in einer demokratischen Gesellschaft, selbst gefährdet durch Kommerz, Eigennutz und Selbstüberhöhung, übersprang eine Grenze und setzte die Regeln für den geeinten deutschen Sport. Die große Lehre dieses Umbruchs sollte sein: Ohne eine weitgehende Eigenverantwortung und Selbstverwaltung kein Sport in Freiheit. Einer bedingten Freiheit mit der Verpflichtung auf Gemeinwohl und Widerstand gegen jeglichen Missbrauch.

Wie fügt man zusammen, was eigentlich nicht zusammengehört?

Organisatorisch hat der Sport die Vereinigung unter großen Mühen besser hinbekommen als andere gesellschaftlichen Bereiche. Dazu gehörte 2006 als ein verspäteter, wichtiger Baustein die Zusammenführung von DSB und NOK zum Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB). Doch die entscheidende, grundsätzlichen Frage war: Wie fügt man zusammen, was eigentlich nicht zusammengehört? Ein in Freiheit gewachsener, autonomer, föderal organisierter Sport mit enormer Breitenwirkung und dabei auch stark kommerzialisiert, einerseits. Andererseits ein mit Milliarden aufgepäppelter, wissenschaftlich unterstützter, vom Staatssicherheitsdienst überwachter, von flächendeckendem Doping zur Höchstleistung getriebener Staatssport unter starker Vernachlässigung des Breitensports. Seine Elite-Athleten sollten als „Diplomaten im Trainingsanzug“ für den Sieg des Kommunismus kämpfen. Als die DDR zusammenbrach, beschäftigte der Sportdachverband Deutscher Turn- und Sportbund (DTSB) rund 10.000 hauptamtliche Kräfte, darunter 4.661 nur für den Spitzensport. Nach der Vereinigung fanden nur 600 dieser zum Teil hoch qualifizierten, aber eben auch belasteten Kräfte eine Anstellung im nunmehr gesamtdeutschen DSB.

Geholfen hat dem Sport bei seiner mühevollen Vereinigung seine verbindende Kraft und eine gemeinsame Sprache mit übereinstimmenden Regeln. Der Sport wurde für das wiedervereinigte Land zu einem besonderen Symbolwert, er entwickelte seine starken emotionalen Wirkungen erstmals bei den gemeinsamen olympischen Auftritten 1992 in Albertville und Barcelona. Der nationale Sportverkehr zwischen Ost und West mit hunderttausenden Begegnungen sorgte für Annäherung und besseres Verstehen. Das deutsche „Sommermärchen“ des Fußballs 2006 und der Weltmeisterschaftssieg 2014 lösten grenzenlose Begeisterung aus.

Dennoch hat der deutsche Sport längst nicht alle Möglichkeiten der Vereinigung genutzt. Und sicher war er auch überfordert. Sport zu treiben, normalerweise Basis für Gesundheit und Wohlgefühl, stand in der Prioritätenliste der Umbruchjahre ganz hinten. Es ging vor allem um Existenzsicherung bei höchster Arbeitslosigkeit. Sporttreiben in der DDR war vor allem Betriebssport. Beim mühsamen Wandel hin zum Vereinssport fehlte es an Mitteln, Personal und Plätzen. Ein 1992 aufgelegter, über 15 Jahre reichender Goldener Plan Ost für die Entwicklung des Breitensports und der Schaffung und Sanierung von Sportstätten sollte annähernd gleiche Bedingungen schaffen wie im Westen. Er schaffte es nur partiell. Von den mit sieben Milliarden Euro errechneten Mitteln für den Aufbau von Sportstätten für die Infrastruktur des Breitensports, der in der DDR als Betriebssport betrieben wurde, floss nicht einmal der siebente Teil. Und Sportstätten, die vor 30 Jahren noch funktionsfähig waren, benötigen dringend Erneuerung.

Nationales Schmuckstück: Die Sportschule Kienbaum

Einen Ausdruck für Mangel und dringendem Nachholbedarf fand der von Kanzler Kohl 1994 einberufene „Runde Tisch des Sports“, unter starker Vertretung auch der Wirtschaft. Er ging aus wie das Hornberger Schießen. Die Politik erwartete vom Sport, wie er das zu sagen pflegt, eine „bessere Bündelung seiner Kräfte und Ressourcen“ - und war doch selbst überfordert bei seinem Vereinigungswerk, auch durch das Setzen falscher Prioritäten. Die Wirtschaft sah keinen ökonomischen Nutzen in einer Unterstützung. Ihr Sinnen war darauf konzentriert, im Osten Fuß zu fassen und neue Märkte zu erobern. Der Sport, in besonderer Weise missbraucht und geschändet durch Doping und Stasi, hatte es unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen besonders schwer, eine Basis zu finden.

Wenig hilfreich war dem Sport dabei der von der Bundesregierung mit der Übergangs-DDR ausgehandelte Einigungsvertrag mit seinen 45 Artikeln. Artikel 39 befasste sich in nur spärlichen zwölf Zeilen mit dem Sport und bestimmte, dass das „Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport in Leipzig, die Forschungs- und Entwicklungsstelle für Sportgeräte in Ost-Berlin“ und das Doping-Kontroll-Labor in Kreische „in der jeweils angemessenen Rechtsform“ und im „erforderlichen Umfang fortgeführt“ werden soll. Die notwendigen finanziellen Mittel für eine ausreichende Unterstützung blieben lange aus.

Das gilt auch für die finanzielle Ausstattung der im Osten gebildeten fünf Landessportbünde, die erst mit Verspätung zu einer Anpassung an die schon viele Jahre im Westen bestehenden Organisationen führte. Die Schaffung von Landes- und nationalen Leistungssport-Zentren dämpften den Drang zum Go West, dem Suchen und Finden besserer Bedingungen in der alten Bundesrepublik. Viele Jahre später sind einige Zentren so attraktiv und effektiv geworden, dass es auch eine Umkehrbewegung gibt von Athlet*innen und Trainer*innen aus dem Westen Deutschland. Als nationales Schmuckstück glänzt mittlerweile die Sportschule Kienbaum 30 Kilometer vor den Toren Berlins. Zu DDR-Zeiten wurden dort die Eliten auf ihre internationalen Einsätze getrimmt, begleitet von sogenannten Ausreisekontrollen, um Doping-Überführungen zu verhindern. Seit 1998 ist Kienbaum mit 27 Euro-Millionen der Bundesregierung auf 50 Hektar zum „Olympischen und Paralympischen Trainingszentrum“ um- und ausgebaut worden, für 17 Sportarten. Als Errungenschaft überdauerten die als Kaderschmieden in der DDR entwickelten Kinder- und Jugendsportschulen. Gewandelt zu Zentren ohne Drill und Zwang waren sie Beispiel gebend für die Einführung auch im Westen Deutschlands. Zusammen gibt es mittlerweile 44, davon allein 21 im Osten.

Dort bleiben im Breitensport die wesentlichen Defizite. Zwar hat sich die Mitgliedschaft in den Vereinen im Laufe der letzten drei Jahrzehnte auf 15,73 Prozent fast verdoppelt. Verglichen mit den 30,08 Prozent der Bevölkerung im Westen Deutschlands, die Vereinen angehören, bedeutet das zugleich eine Halbierung. Während in der alten Bundesrepublik ein reiches Vereinsleben auch in den ländlichen Bereichen blüht, hat eine dramatische Landflucht in den östlichen Ländern eine Verarmung sportlicher Aktivitäten ausgelöst. Die gesellschaftlichen Probleme in den ländlichen Räumen treffen den Sport unmittelbar.

Sport schaffte die Vereinigung besser als andere Bereiche

Besonders schwer hatte es in den neuen Bundesländern der Profisport mangels Infrastruktur und Sponsoren. In 30 Jahren Fußball-Bundesliga haben es nur sechs Vereine des Ostens in die vom Kapital getriebene Elite-Klasse geschafft, als Kurzbesucher. Ausgerechnet ein Großinvestor aus Österreich hat den Profi-Fußball mit RB Leipzig im Osten Deutschlands verwurzelt, und das erst vor drei Jahren. Unter 36 Nationalspielern aus der DDR seit 1990 haben Matthias Sammer und Toni Kroos einen besonderen Rang. Der eine als herausragender Spieler für DDR und Bundesrepublik und zudem geschätzte Persönlichkeit als Trainer und Berater. Der Greifswalder Kroos als Mitglied der deutschen Weltmeistermannschaft von 2014 mit Perspektive auch für kommende Jahre. Eine Verwurzelung schaffte der erstklassige Mannschaftssport im Osten nur noch im Handball mit Stützpunkten in Magdeburg, Leipzig und Thüringen.

Im Rückblick darf dem Sport bescheinigt werden, dass er die Vereinigung besser hinbekommen hat als andere gesellschaftliche Bereiche, eingeschlossen berechtigter Kritik an fehlender Bereitschaft, auch die westdeutsche Dopingvergangenheit in den Jahren der Teilung vollständig aufzuarbeiten. Hilfreich waren dem Sport seine Gene, die auf Verbindung und Verbindlichkeit angelegt sind. Manfred Ewald, Schöpfer des totalitären Sportsystems der DDR und Begründer des organisierten Staats- und Zwangsdopings über das berüchtigte „Staatsplanthema 14.25“, war im Wendejahr schon aus dem Verkehr gezogen worden. Erst 2000 verurteilte ihn der Bundesgerichtshof wegen „mittelschwerer Kriminalität“ zu einer Freiheitsstrafe von 22 Monaten, nicht ohne Ironie auf Bewährung. Wissenschaftliche Untersuchungen gehen davon aus, dass auf seinem Konto zwischen 11 000 und 13 000 Gedopte verbucht sind.

Hans Hansen, der damalige Vereinigungspräsident des DSB, ein milde gestimmter, freundlicher Mann, war alles andere als ein Eroberer. Sein Nachfolger Manfred von Richthofen, damals Präsident des Landessportbundes Berlin, oblag die besondere Schwierigkeit, die beiden Teile der Stadt sportlich zusammenzufügen. Zuvor musste der Freiherr bei den sogenannten Kalendergesprächen, bei denen ein schmaler jährlicher Sportverkehr zwischen den beiden deutschen Staaten vereinbart wurde, immer auch um eine Einbeziehung von Berlin West kämpfen. Eine ganz besondere Genugtuung löste der Fall der Mauer bei Willi Daume aus, dem Vorsteher des bundesdeutschen Sports als langjähriger Präsident von DSB und NOK. Den Trennungsbeschluss des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) 1965 mit der Anerkennung eines NOKs der DDR hat Daume als seine schmerzlichste Niederlage empfunden, gemildert durch seinen größten Erfolg, München im IOC die Olympischen Spiele 1972 verschafft zu haben. An dem mühevollen Unterfangen, auch im Sport annähernd gleiche Bedingungen zu erreichen, hat Daume als vereinter NOK-Präsident kaum noch mitwirken können. Gesamtdeutscher olympischer Präsident war er bis 1992, gestorben ist er vier Jahre später. Vollendet ist die Vereinigung des Sports auch heute noch nicht.

Wie es um seine Kraft in der Gesellschaft steht und um sein Ansehen bei Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur, darüber haben auch gescheiterte Olympia-Bewerbungen eine Aussage getroffen. Berlins Kandidatur für die Spiele 2000 wurde 1993 zum Flop. Das war in so weit verständlich, als die ehemals geteilte Stadt noch viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, um ein Konkurrent mit Aussicht sein zu können. Das IOC erteilte damals aus guten Gründen eine klare Absage. Alarmierender war das Scheitern Münchens beim Versuch einer Bewerbung um die Winterspiele 2022 und die Niederlage Hamburgs als Bewerber um die Sommerspiele 2024. Volkes Stimme war jeweils dagegen. Nun wird über die Möglichkeit einer nationalen Bewerbung für Olympia 2032 diskutiert hin, mit dem spannenden Ruhrgebiets-Experiment einer erstmaligen Flächenbewerbung oder erneut mit Berlin als Zentrale. Ob eine Kandidatur zustande kommt und ob sie sogar gelingt, das würde einen neuen Zustandsbericht liefern. Über die Verwurzelung des Sports in Deutschland.

(Quelle: DOSB/Günter Deister)


  • Bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona läuft das gesamtdeutsche Team nach der Wiedervereinigung ein. Foto: picture-alliance
    Einmarsch der deutschen Mannschaft bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona. Foto: picture-alliance