Die Spitze des Eisbergs

Skandale erschütterten 2015 den Sport auch in Deutschland, gerade deswegen ist es notwendig, sich jetzt auf die Basis zu konzentrieren, findet Autor Andreas Höfer.

Auch das Fußball-Sommermärchen 2006 wurde von einem Skandal erfasst. Foto: picture-alliance
Auch das Fußball-Sommermärchen 2006 wurde von einem Skandal erfasst. Foto: picture-alliance

Erinnerung ist selektiv und neigt dazu, dem Angenehmen Priorität einzuräumen. Andererseits bricht sich gerade hierzulande, vielleicht mehr als anderswo, immer wieder auch die Neigung Bahn, Zweifel und Bedenken zu hegen und zu pflegen.

Lässt man vor diesem, zugegeben plakativ skizzierten Hintergrund das aktuelle Sport-Jahr Revue passieren, legen sich manche Misslichkeiten wie eine Folie unter die Betrachtung. Nun könnte man diese im Sinne des oben formulierten Gedankens dem Vergessen anheimstellen, wenn nicht über den Tag hinauswirkende Fragen aufgeworfen wären, aus deren Beantwortung ja auch Chancen erwachsen könnten. Im Übrigen hat die Erfahrung der letzten Monate wieder einmal schmerzhaft vor Augen geführt, dass der natürliche Schutzmechanismus des Verdrängens die Langzeitwirkung der Vergangenheit nur bedingt außer Kraft zu setzen vermag, als nämlich unser aller „Sommermärchen“ gleichsam über Nacht zum Alptraum mutierte.

Hatte man mit einer am Jahrestag von Götzes Goldenem Schuss zeitgleich in Berlin, München, Hamburg und im Kölner Sport & Olympia Museum eröffneten Ausstellung noch formvollendet den Triumph von Rio gefeiert, verdunkelte sich alsbald der eben noch vom vierten Stern erleuchtete Fußball-Himmel. Für Verdruss sorgten die großartigen Heim-Spiele von 2006, und zwar nicht, weil man, gute neun Jahre ist es nun her, „nur „Dritter“ geworden war. Als Stein des Anstoßes wurde vielmehr die Frage gespiegelt, mit welchen Mitteln und Methoden man seinerzeit eigentlich den Zuschlag für die Ausrichtung erhalten und den favorisierten Mitbewerber Südafrika aus dem Feld geschlagen hatte.

Wenig tröstlich, dass es nicht, wie bei der UEFA und der FIFA, zu Verhaftungen und Suspendierungen kam. Auch Hausdurchsuchungen und Rücktritte wiegen schwer und schwerer vielleicht noch, dass unsere kollektive „Lichtgestalt“, dessen siebzigster Geburtstag noch nach allen Regeln medialer Kunst gefeiert worden war, massiv ins Zwielicht geriet. Soll man von Glück reden, dass es die „Schummel-WM“ bei der Wahl zum „Wort des Jahres“ nur ins Finale und nicht aufs Treppchen geschafft hat? Und darf man sich freuen, dass Jogis Jungs bei der Auslosung der Vorrundengruppen der kommenden Europameisterschaft das traditionelle Glück der Tüchtigen hold war?

Entscheidend ist auf dem Platz, könnte man sagen und auf die vielfach bewiesene Resistenz des Fußballs gegenüber Skandalen verweisen, doch wenn mit der Leichtathletik auch eine andere olympische Kernsportart unter Generalverdacht geriet, lässt sich der Sachverhalt nicht wegmoderieren. Wenn einem bedeutenden nationalen Verband und sogar Anti-Doping-Agenturen verschiedener Länder die Zulassung entzogen wird, hat die Krise ein Ausmaß erreicht, das Handeln erfordert.

So hat auch DOSB-Präsident Hörmann mit deutlichen Worten bestätigt, dass die Integrität und Glaubwürdigkeit des Sports, jedenfalls des Spitzensports auf dem Spiel steht, wenn es nicht gelingt, Medaillen und Moral auf einen überzeugenden Nenner zu bringen. Ansonsten müsste man sich wohl, frei nach Bert Brecht, ein neues olympisches Volk suchen, wenn man, frei nach Vogel Strauß, ein „Weiter so“ zur Konsequenz des Sport-Jahres 2015 erhöbe.

Das amtierende Volk hat nämlich seine Stimme erhoben, jedenfalls abgegeben, und, wie vor zwei Jahren bereits in München und Umgebung, einem neuerlichen olympischen Anlauf, dieses Mal in der Freien und Hansestadt Hamburg, eine deutliche Absage erteilt.

Natürlich stand bei der Bürgerbefragung nicht der Sport als Ganzes zur Disposition, und viele der Nein-Sager mögen am Tag der Abstimmung sicher aufs Rad gestiegen oder zum Joggen gegangen sein oder sich am Auswärtssieg des HSV über Werder Bremen erfreut haben. Doch die Aussicht oder die Hoffnung, in einigen Jahren einmal das Großfest des Sports vor Ort erleben zu können, schien der Mehrheit der Befragten offenbar nicht allzu verlockend zu sein.

Will man die Olympischen Spiele hierzulande nicht mehr oder nicht jetzt, oder will man sie nicht vor der eigenen Tür? Sind sie zu teuer oder sind sie zu laut? Oder werden andere Projekte und Investitionen als dringlicher und ertragreicher erachtet? Oder will man nicht diese, sondern andere Spiele? Oder ist man zufrieden, wenn man via Fernbedienung dabei sein kann?

Zumindest letztere Frage könnten die Einschaltquoten beantworten, wenn die Spiele im kommenden Sommer im fernen Rio gastieren. Dann wird es übrigens fünfzig Jahre her sein, dass eine deutsche Bewerbung von Erfolg gekrönt wurde. Es war der 26. April 1966, als München den Vorzug vor Detroit, Madrid und Montreal erhielt.

Nehmen wir nolens volens viele Fragen mit ins neue Sport-Jahr, sollten wir aber auch nicht vergessen, dass dabei naturgemäß nur die Spitze des Eisbergs in den Blick genommen ist, während dessen ganze Tiefe und Breite der öffentlichen Wahrnehmung entzogen bleibt. Gemeint ist die Basis des Sports, die es, jetzt erst recht, zu hegen und zu pflegen gilt.

So könnte der Gewinn des vergangenen Jahres nicht zuletzt in der Erkenntnis bestehen, dass die verletzliche Seele des Sports, seine Werte und das identitätsstiftende und integrative Potenzial von Bewegung und Begegnung auch und gerade angesichts berechtigter Zweifel und Bedenken mit vereinten Kräften geschützt werden muss. Den Kampf Gut gegen Böse mag man aber, gerade in der Weihnachtszeit, den Spezialisten von „Star Wars“ überlassen.

(Autor: Andreas Höfer)

In jeder Ausgabe der DOSB-Presse, die wöchentlich erscheint, gibt es einen Kommentar zu aktuellen Themen des Sports, den wir hier als DOSB-Blog veröffentlichen. Diese mit Namen gezeichneten Beiträge geben nicht unbedingt die offizielle DOSB-Meinung wieder.


  • Auch das Fußball-Sommermärchen 2006 wurde von einem Skandal erfasst. Foto: picture-alliance
    Auch das Fußball-Sommermärchen 2006 wurde von einem Skandal erfasst. Foto: picture-alliance