DOSB-Journalistenpreis: Anstoß für Verständigung

Insgesamt 17 Beiträge wurden für den DOSB-Journalistenpreis zum Thema "Sport für alle - die Vielfalt des Breitensports" eingereicht. Den ersten Platz belegte der Beitrag von Gerhard Waldherr.

Bei den "Kicking Girls" spielen Mädchen unterschiedlicher Herkunft gemeinsam Fußball. Foto: picutre-alliance
Bei den "Kicking Girls" spielen Mädchen unterschiedlicher Herkunft gemeinsam Fußball. Foto: picutre-alliance

Wie das Projekt „Kicking Girls“ in sozialen Brennpunkten Bremens den kulturellen Austausch unter Mädchen fördert 

Eine spricht zu Hause Türkisch, eine Polnisch. Eine geht samstags zur Koranschule, eine hat ein gerahmtes Bild von Johannes Paul II auf ihrem Nachttisch. 

Ein Hauch von Orient weht durch das Wohnzimmer in der Heerstraße, wo Cansu lebt; die voluminösen Vorhänge aus Taft, die Sitzkissen auf dem Sofa mit Goldfaden durchwirkt, auf dem Beistelltisch mit Perlen bestickte Spitzendeckchen. Bei Wioleta in der Geeststraße ist das Ambiente nüchterner: die schlichten Wohnzimmerregale aus lackiertem Holz, Glasplatte auf dem Tisch, an den Fenstern nicht mal Jalousinen. 

Cansu, 8, und Wioleta, 11, leben in unterschiedlichen Welten, geprägt von verschiedenen Kulturen. Cansus Eltern sind Türken; Erol Cinar, der Vater, wurde als eines von neun Kindern eines Gastarbeiters in Bremen geboren; die Mutter kommt aus Trabzon am Schwarzen Meer. Wioletas Familie kam vor vier Jahren aus Torun in Pommern; Vater Marcin Kierzek fand dort keine Arbeit mehr, einige Jahre jobbte er in den Niederlanden bis ihn die Trennung von Frau und Kindern zermürbte. 

Da ist vieles, was Cansu und Wioleta trennt. Muttersprache. Gott. Döner und Pierogi. Viel wichtiger ist den Mädchen jedoch, was sie verbindet. „Es ist gut“, sagt Wioleta, „dass wir zusammen Fußball spielen.“ 

Freitag, 14.45 Uhr. Die Turnhalle der Grundschule am Patorenweg in Bremen-Gröpelingen. Zehn Mädchen im Alter von acht bis elf Jahren sind gekommen, dazu Denise Depken, 16, die das Training leitet. Eine Stunde lang kracht und scheppert und quietscht und dröhnt es vor an die Wände knallenden Bällen, rutschenden Turnschuhen und Gelächter. Denise, die in der U17 bei Werder Bremen aktiv ist, wundert sich jedesmal, „dass die Girls zu allem Lust haben, was ich ihnen vorschlage, selbst die langweiligsten Übungen, ihnen macht alles Spaß“. Seit zwei Jahren betreut die Gymnasiastin die Mädchen, über die sie sagt: „Sie sind immer pünktlich, sie sind immer motiviert und sie erzählen mir ständig alles, was sie erlebt haben, inklusive auführlicher Erzählungen vom letzten Kindergeburtstag.“ 

„Kicking Girls“ nennen sich die sechs Bremer Fußballprojekte für Mädchen in sozial benachteiligten Stadtteilen, die alle nach dem selben Muster entstanden: Eine Grundschule und ein im Viertel ansässiger Sportverein - im Falle der Grundschule am Pastorenweg ist es der Turn- und Rasensportverein (TURA) Bremen – schliessen sich zusammen und organisieren Training und Turniere. Entwickelt hat das Konzept das An-Institut „Integration durch Sport und Bildung“ der Universität Oldenburg, die es mit dem Deutschen Fußball-Bund umsetzte. „Das Projekt war von Anfang an der Renner“, sagt Thomas Murken, der zuständige Lehrer am Pastorenweg: „Wenn wir eine Betreuung hätten, könnte ich sofort eine Gruppe mit Mädchen nur aus der ersten und zweiten Klasse zusammenstellen.“ Schulleiterin Birgit Busch sagt: „Fußball ist präsent, Fußball ist beliebt, jeder versteht die Regeln. Wenn wir ein Schulturnier ausschreiben, melden sich150 von 250 Schülern.“ 

Gröpelingen im Westen Bremens, 35.000 Einwohner. Wer Frau Busch bittet, ihre Schule vorzustellen, dem antwortet sie: „Dazu müssen Sie erst den Ort verstehen.“ Gröpelingen war einmal ein pulsierendes Arbeiterviertel. Damals, als bei der Schiffswerft AG Weser noch das Geschäft brummte. Und die Lindenhofstrasse ein deutsches Wirtschaftswunder-Einkaufsparadies war. 1983 machte die AG Weser pleite, die deutschen Bewohner zogen weg. Die Geschäfte in der Lindenhofstraße heissen heute „Karabacak Reisebüro“, „Selam Market“ oder „Kismet Bäckerei“. Gelesen wird „Hürriyet“, Plakate werben für türkische DJs. Schulleiterin Busch sagt, heute hätten drei Viertel ihrer Schüler Migrationshintergrund: „Die meisten sind türkischer Herkunft, wir haben aber auch afrikanische, arabische, russische, indische, albanische, serbische Kinder, in jeder Schulklasse gibt es kaum noch Kinder, deren Muttersprache Deutsch ist.“ 

Priorität hat für Schulleiterin Busch daher die Förderung des kulturellen Austauschs. Die Schule beteiligt sich an diversen Programmen des Bundes und des Bremer Senats. Sie kooperiert mit dem Zentrum für interkulturelle Studien, bietet Theater-, Kunstkurse und Geigenunterricht, läßt sich von den Bremer Philharmonikern Musikinstrumente erklären. Auch ein Elterncafé haben sie eingerichtet. Doch Busch hat festgestellt, dass es der Sport ist, der „die Kulturen mit spielerischer Leichtigkeit verbindet“. Am Anfang beispielsweise kamen die türkischen Mütter nur zum Fußballtaining. Auch aus Misstrauen. Was passiert da genau? Inzwischen fahren sie mit zu Turnieren, suchen den Kontakt zu Müttern anderer Mädchen und haben eine engere Bindung zu Lehrkräften wie Murken gewonnen. 

„Die Schule“, sagt Martin Görlich, „ist für diese Leute der Fels in der Brandung – nur über die Schule ist das Vertrauen da.“ Görlich ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Oldenburg und dort zuständig für „Kicking Girls“. „Es geht darum, das Selbstbewusstsein der Mädchen zu stärken“, sagt Görlich, „vor allem, wenn sie aus musliminschen Familien kommen.“ Wo sie häufig wenig Freiräume haben, stattdessen für Haushaltsdienste und die Betreuung jüngerer Geschwister abgestellt werden. Für viele der Mädchen, so Murken, sei eine Fahrt zu einem Turnier oft die erste Reise, die über das Viertel, in dem sie wohnen, hinaus führe. „Eine Medaille, eine Urkunde oder eine Anerkennung zu bekommen“, so Görlich, „ist eine völlig neue Erfahrung. Toll ist aber, dass diese Erfahrungen auch das Denken und Verhalten der Eltern verändern.“ 

Es sind nur scheinbar bescheidene Episoden, die Busch, Murken und Görlich erzählen. Im kleinen Leben manifestieren sich oft die dramatischsten Veränderungen. „Ich kenne Mädchen“, so Görlich, „die durch Fußball kleine Stars in der Familie wurden, einmal besuchte ich eine Familie mit drei Töchtern, zwei trugen Kopftuch, eine nicht – es war die, die Fußball spielte.“ Auch deshalb wird die Laureus Sport for Good Stiftung Deutschland/Österreich das Projekt Kicking Girls in den nächsten drei Jahren auf ganz Deutschland ausweiten. In 30 regionalen Projekten in Berlin, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Norddeutschland und im Rhein-Main-Gebiet sollen dann 3600 Mädchen betreut werden. 

Cansu war sieben, als sie zu „Kicking Girls“ kam; zwei Jahre jünger als üblich. Das körperliche Manko, machte sie mit Kampfgeist und Wille wett. „Obwohl sie die Kleinste war“, erzählt Denise, „hat sie sich nie unterkriegen lassen, egal, wie oft sie hinfiel, sie ist immer wieder aufgestanden.“ Was auch an ihrem zwei Jahre älteren Bruder Cüneyt und einem Cousin lag, mit denen sie im Hinterhof der elterlichen Wohnung schon lange vorher gekickt hatte: „Die haben mir alle Tricks gezeigt, zum Beispiel, wie gegrätscht wird.“ Wovon wiederum Wioleta profitiert, ein großes Mädchen, das sich elegant bewegt, aber auch ein wenig zerbrechlich wirkt. Von Cansus Robustheit kann Wioleta lernen. Murken sagt, Cansu sei „für alle ein Vorbild“. Und das nicht nur auf dem Fußballplatz. „Sie ist eine engagierte Schülerin, sie ist fleißig, selbstständig und hält sich an die Regeln.“ 

Natürlich weiss Murken, dass Eigenschaften, die einen in der Schule voran bringen, auch im Sport funktionieren. Und er achtet auch darauf, dass Einsatz, Disziplin und Durchsetzungsvermögen gefördert werden. Doch wenn Murken die Kids nach einem Turnier nach Hause bringt, gibt es unterwegs immer Eiscreme oder Pommes als Belohnung, unabhängig, ob gewonnen oder verloren wurde. Trainerin Denise sagt: „Das Wichtigste ist, sie haben Spaß.“ Görlich meint: „Wir sind kein Weltverbesserungsprojekt, aber diese Kinder sind die Eltern von morgen, wenn wir es schaffen, ein anderes Frauenbild zu kreieren, soziale Verhaltensmuster zu verändern, dann hat sich der Aufwand gelohnt. Die Erfolge des Programms wird man in 10 bis 15 Jahren erkennen.“ 

An sowas denken Cansu und Wioleta natürlich nicht. Warum auch? Für sie ist Freitagnachmittag mit Denise der Höhepunkt der Woche. Der nur übertroffen wird, wenn sie zu einem Turnier fahren und gegen andere antreten. Dann können Cansu und Wioleta wieder zusammen spielen. Wioleta sagt: „Cansu und ich – wenn wir zusammen spielen, können wir gegen alle gewinnen.“ 

(Quelle: Gerhard Waldherr/Die Welt) 

Hinweis: Dieser Beitrag von Gerhard Waldherr ist am 30. November 2011 in der Zeitung "Die Welt" erschienen. Damit gewann Waldherr den 1. Preis im vom DOSB geförderten Berufswettbewerb des Verbandes Deutscher Sportjournalisten (VDS) zum Thema "Sport für alle - die Vielfalt des Breitensports". Der Beitrag ist nicht zur Weiternutzung für Vereine und Verbände freigegeben.


  • Bei den "Kicking Girls" spielen Mädchen unterschiedlicher Herkunft gemeinsam Fußball. Foto: picutre-alliance
    Bei den "Kicking Girls" spielen Mädchen unterschiedlicher Herkunft gemeinsam Fußball. Foto: picutre-alliance