DOSB-Journalistenpreis: Die Grenze ist das Ziel

Insgesamt 17 Beiträge wurden für den DOSB-Journalistenpreis zum Thema "Sport für alle - die Vielfalt des Breitensports" eingereicht. Den dritten Platz belegte der Beitrag von Ronny Blaschke.

Die Olympische Flamme wurde nur ein paar Kilometer an der Berliner Mauer entlang getragen. Foto: picture-alliance
Die Olympische Flamme wurde nur ein paar Kilometer an der Berliner Mauer entlang getragen. Foto: picture-alliance

Wie ein paar Lauf-Verrückte das erste 100-Meilen-Rennen entlang der alten Berliner Mauerlinie durchsetzten 

Das Grenzregiment 5 hatte im Nordwesten Berlins einen ruhigen Abschnitt zu bewachen, und so hatte Marco Fekete viel Zeit, um über den Ernstfall nachzudenken. Zu zweit gingen die Soldaten im Herbst 1988 auf Patrouille, zwischen Hennigsdorf und Hohen Neuendorf, den Todesstreifen auf und ab, mit Helm und Maschinengewehr. Fekete war gerade volljährig geworden, seinen Grundwehrdienst musste er in der NVA an der Grenze leisten. „Die Stimmung war angespannt“, sagt Fekete heute. „Für unseren Abschnitt erhielt sonst niemand einen Passierschein, da war die Welt zu Ende.“ Zehn Stunden am Tag liefen er und sein Kollege den Stacheldraht entlang, mit dem Schießbefehl im Hinterkopf. „Für den Fall eines Fluchtversuchs hatte ich alle Szenen durchdacht“, sagt Fekete, 41. „Entweder mit Absicht daneben schießen und hoffen, dass es der andere Soldat nichts merkt. Oder mit offenen Karten spielen und hoffen, dass er mich nicht anschwärzt.“ 

Zwanzig Jahre vergingen, ehe Marco Fekete an den Ort seiner Armeezeit zurückkehrte, dank des Sports. Der Marathonläufer hatte sich 2008 vorgenommen, das einstige West-Berlin in fünf Etappen zu umrunden. „Ich hatte Gänsehaut, denn äußerlich hatte sich der Grenzabschnitt kaum verändert.“ Er sah die zerstörten Schreiben seiner einstigen Kaserne, stapfte durch den hellen Sand des Grenzstreifens, auf dem noch immer kein Unkraut wächst, sah Teile des abgetragenen Stacheldrahts als Gartenzäune in der Nachbarschaft. In den Wochen darauf stieß Fekete in der Marathonszene auf Läufer, die ihre Interessen an Sport und Geschichte ebenfalls verbinden wollten. Sie standen Fekete zunächst skeptisch gegenüber: Ein ehemaliger DDR-Grenzsoldat, der zum Gedenken der Maueropfer laufen will? Ist das glaubwürdig? Fekete widerlegte schnell ihre Zweifel, mit acht Mitstreitern gründete er im November 2009 die „Laufgemeinschaft Mauerweg“. Eine Bewegung entstand. Gehirnjoggung, buchstäblich. 

Der kleine Verein hatte knapp zwei Jahre Zeit, um sein großes Ziel zu verwirklichen: den ersten 100-Meilen-Lauf in Berlin. Und tatsächlich: Am Samstag, 6 Uhr, gingen 92 Läufer in Kreuzberg auf die Strecke. Im Uhrzeigersinn liefen sie 160,9 Kilometer um das einstige West-Berlin: Vorbei an der East Side Gallery, über die Oberbaumbrücke,  Richtung Südosten nach Adlershof, westlich nach Potsdam, über Groß Glienicke, Hennigsdorf und Reinickendorf ins Zentrum Berlins, an der neuen Gedenkstätte in der Bernauer Straße entlang, zurück nach Kreuzberg. Die Berliner Michael Vanicek und Jan Prochaska gewannen das Rennen, nach 16:22 Stunden liefen sie Hand in Hand über die Ziellinie. Geschlossen wurde der Wettbewerb Sonntagmittag nach dreißig Stunden, doch für alle Teilnehmer galt ohnehin: Der Weg ist das Ziel. Oder: Die Grenze ist das Ziel. „Was unser Verein ohne Sponsoren auf die Beine gestellt hat, ist beeindruckend“, sagt Marco Fekete, zweiter Vorsitzender der Laufgemeinschaft und Zeitzeuge für die jüngeren Läufer. „Wir rennen gegen das Vergessen an.“ 

Das Startsignal hatte am Samstagmorgen Rainer Eppelmann gegeben, Bürgerrechtler, Minister für Abrüstung und Verteidigung der letzten DDR-Regierung und seit 1998 Vorsitzender der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. „Das sind nicht irgendwelche 100 Meilen“, sagt Eppelmann, 68. „Viele Jugendliche haben auf die Frage keine Antwort, worin der Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie besteht. Dieser Lauf bietet Menschen einen Zugang zur Geschichte, die sich nicht sofort für Politik interessieren.“ Sozialkunde im Laufschritt? Mit diesem Motto orientiert sich die Laufgemeinschaft am Comrades Marathon in Südafrika: 34 Läufer waren dort 1921 zur Premiere an den Start gegangen, um der Opfer des Ersten Weltkrieges zu gedenken, mittlerweile wird die Teilnehmerliste bei 18.000 geschlossen. 

Dass es den Mauerweg gibt, geht auf das Engagement von Michael Cramer zurück. Der heutige Europa-Abgeordnete der Grünen hatte vor zehn Jahren für den Ausbau im Berliner Abgeordnetenhaus geworben. „Lange hieß es nur: Die Mauer muss weg“, sagt Cramer. „Gegen dieses Geschichts-Banausentum wenden wir uns, der 100-Meilen-Lauf schenkt uns wichtige Öffentlichkeit.“ Die Zeugnisse der Trennung sind fast ausnahmslos verschwunden, von den 303 Wachtürmen sind noch fünf erhalten. Bis heute hat der Mauerweg Lücken, zum Beispiel in der Gemeinde Blankenfelde-Mahlow, im Süden Berlins, wo eine Bahnstrecke unterquert werden soll. Über 120 Kilometer schlängelt sich der Mauerweg entlang der Grenze zu Brandenburg, trotzdem will die rot-rote Landesregierung den Berliner Senat bei der Erhaltung des Weges nicht unterstützen. 

„An Gegenwind haben wir uns gewöhnt, Improvisieren gehört zur Vereinsarbeit“, sagt Alexander von Uleniecki, 42, Chef der Laufgemeinschaft Mauerweg. Tagelang hatten Helfer die Strecke durch Schilder, Sprühkreide, Knicklichter abgesteckt – systematisch wurden diese Markierungen von Gegnern des Mauergedenkens wieder entfernt. „Unsere Botschaft passt nicht jedem“, sagt von Uleniecki. „Aber das hat uns noch mehr motiviert.“ Über Monate hatten er und seine Kollegen ein Netzwerk von 125 Helfern geknüpft. Während des Laufes waren 24 Verpflegungsposten aufgebaut: Im Grenzturm Hohen Neuendorf fand die „Lange Nacht des Naturschutzturms“ statt, Sportvereine stellten ihre Grundstücke zur Verfügung, Familien ihre Gärten, Restaurants ihre Toiletten. So ging es an Hochhausfronten und Bahnhöfen vorbei, an Seen und Wäldern. Zwischendurch fielen die orangefarbenen Stelen ins Auge, die der mindestens 136 Mauer-Todesopfer gedenken. Jeder Läufer erhielt eine Medaille mit dem Konterfei von Chris Gueffroy, dem letzten Opfer einer Schusswaffe. 

„Die Mauer hat unser Leben bestimmt“, sagt Roland Winkler. „Deshalb ist die Bedeutung dieses Laufes nicht hoch genug zu bewerten.“ Winkler, 64, gehörte zu den besten Langstreckenläufern der DDR, sein Rekord über hundert Kilometer ist für die Ewigkeit, doch am wichtigsten Lauf durfte er nie teilnehmen: Wenn die Marathon-Kolonne durch West-Berlin zuckelte, stieg der Sportlehrer in der Leipziger Straße bis unters Dach eines Hochhauses und starrte mit einem Fernglas über die Grenze, die Radioreportage des Senders Freies Berlin im Ohr. Erst als die Reisebedingungen 1988 gelockert wurden, nutzte Winkler den Geburtstag einer Tante, um beim Berliner Marathon auf die Strecke zu gehen. Im Startbereich riss er seine Fäuste zitternd in die Luft, ein westdeutsches Magazin veröffentlichte diese Szene auf seinem Titel. Kurz darauf wurde Winkler für einen Friedenslauf zwischen Paris und Moskau gestrichen. 

Roland Winkler schätzt, dass er in seinem Leben rund 200.000 Kilometer zurückgelegt hat. Vermutlich ist keiner seiner Läufe so geschichtsträchtig gewesen wie der 100-Meilen-Lauf. Winkler überquerte die Ziellinie am frühen Sonntagmorgen, nach 22:12 Stunden. Dieses Mal war er ganz legal an den Start gegangen, er hat keine Strafen mehr zu fürchten.

(Quelle: Ronny Blaschke/Süddeutsche Zeitung) 

Hinweis: Dieser Beitrag von Ronny Blaschke ist am 22. August 2011 in der Süddeutschen Zeitung erschienen. Damit gewann Blaschke den 3. Preis im vom DOSB geförderten Berufswettbewerb des Verbandes Deutscher Sportjournalisten (VDS) zum Thema "Sport für alle - die Vielfalt des Breitensports". Der Beitrag ist nicht zur Weiternutzung für Vereine und Verbände freigegeben.


  • Die Olympische Flamme wurde nur ein paar Kilometer an der Berliner Mauer entlang getragen. Foto: picture-alliance
    Die Olympische Flamme wurde nur ein paar Kilometer an der Berliner Mauer entlang getragen. Foto: picture-alliance