„Das kommt für mich völlig überraschend“, kommentierte die 20 Jahre alte Kanutin Franziska Weber von der Eliteschule des Sports in Potsdam die Wahl. Auch die 18 Jahre junge Turnerin Marie-Sophie Hindermann von der Eliteschule des Sports Stuttgart war zunächst regelrecht perplex: „Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet, weil ich ja im vergangenen Sommer mein Abitur gemacht und die Schule schon verlassen habe. Ich dachte erst, gemeint ist meine Schwester Giulia, die ebenfalls turnt und in die zehnte Klasse geht.“
Dass die beiden Preisträgerinnen im vergangenen Jahr äußerst erfolgreich ihre Abiturprüfungen bestanden, hatte die Jury um den DOSB-Vizepräsidenten und Vorsitzenden des Arbeitskreises „Eliteschulen des Sports“ Eberhard Gienger ebenso überzeugt wie die sportlichen Leistungen der jungen Frauen. Gerade der Eliteschule des Sports entwachsen, ist beiden bereits der internationale Durchbruch bei den „Großen“ gelungen und der Sprung in die absolute Weltspitze geglückt. „Obwohl die grundsätzliche Idee ist, diese neue Auszeichnung jedes Jahr nur an eine Sportlerin oder an einen Sportler zu vergeben, haben wir gleich zum Start eine Ausnahme machen müssen. Denn beide Sportlerinnen haben es absolut verdient. Also haben wir uns gesagt: Zeichnen wir sie gemeinsam aus“, kommentierte Gienger die Entscheidung unter insgesamt 40 Kandidaten aus dem gesamten Bundesgebiet. Jede der derzeit insgesamt 40 „Eliteschulen des Sports“, als deren größter privater Hauptsponsor die Sparkassen-Finanzgruppe wirkt, hatte für die Wahl einen Kandidaten ins Rennen geschickt.
Ehrung nach hartnäckiger Verletzung „wie Balsam“
Für sie sei die Ehrung so etwas „wie Balsam“ und eine „große Ermutigung“, bekannte Marie-Sophie Hindermann, die gerade eine lange Verletzungsphase glücklich überstanden hat. Seit 2003 fuhr die Tübingerin sechs Jahre lang jeden Morgen um 6.06 Uhr mit dem Zug rund eine Stunde nach Stuttgart zur Schule und zum Training. Erst abends kehrte sie meist mit ihrer Mutter Marie-Luise, die in der Landeshauptstadt als Landestrainerin die sieben- und achtjährigen Talente betreut, nach Hause zurück. Der Aufwand und die Mühen haben sich gelohnt. Nicht nur, dass die 48 Kilo leichte Mehrkampf- und Stufenbarrenspezialistin an der Eliteschule ihr Einser-Abitur im G8-Rhythmus baute und damit ein Jahr weniger brauchte, als nötig gewesen wäre. Zugleich entwickelte sie sich unter den Fittichen ihrer russischen Trainerin Tamara Khoklova zur größten deutschen Medaillenhoffnung. „Marie-Sophie ist hoch talentiert, ausdrucksstark und eine ausgesprochen schöne Turnerin“, lobt Cheftrainerin Ulla Koch die grazile Athletin mit dem phänomenalen Bewegungstalent. „Wenn Sie die Führungsrolle nicht schon heute besitzt, so wird sie diese spätestens in ein, zwei Jahren übernehmen“, so Koch bereits nach der Heim-WM 2007, als sich die deutsche Damenriege mit Platz zehn für die Olympischen Sommerspiele ein Jahr später in Peking qualifizierte. Marie-Sophie Hindermann belegte damals im Mehrkampf Platz 14 sowie an ihrem Lieblingsgerät, dem Stufenbarren, Rang fünf.
Unmittelbar im Vorfeld der Spiele erlitt sie dann allerdings einen Anriss der Achillessehne. So konnte die Spitzenturnerin zwar die wunderbare olympische Atmosphäre miterleben, aber ihr volles Leistungsvermögen nicht annähernd abrufen. „Ich hatte Schmerzen ohne Ende und war vor jedem Auftritt gehemmt, besonders beim Sprung“, erinnert sich Marie-Sophie an ihre Olympiapremiere, die für ihr Team mit Platz zwölf endete und für sie persönlich mit Platz 55 im Mehrkampf und jenseits der 70 am Stufenbarren, auf dem Schwebebalken und am Boden. Damit nicht genug, erwies sich die Verletzung als derart kompliziert und langwierig, dass nach Peking fast ein Jahr kaum noch an Training und schon gar nicht an Wettkämpfe zu denken war. An den Weltmeisterschaften 2009 in London konnte sie dann ebenso wenig teilnehmen wie an anderen großen Wettkämpfen. Erst im Oktober 2009 konnte Marie-Sophie Hindermann wieder internationales Parkett betreten. Beim Weltcup in Doha, Katar fand sie dabei mit Rang drei am Stufenbarren und Platz fünf am Boden auf Anhieb wieder Anschluss an die Weltspitze.
Wichtige Kopfarbeit: Mathe-Nachhilfe als guter Ausgleich
An ein Ende ihrer jungen Karriere habe sie in der Zeit davor „zwar nie gedacht, aber ich habe gezweifelt“, unterstreicht die anmutige Athletin des Deutschen Turner-Bundes (DTB). Eines lässt sie jedoch durchklingen: Der Gedanke an ein Ende der Laufbahn könnte sich bei ihr sofort einstellen, sollte sie abermals vom Verletzungspech verfolgt werden. „Insofern ist 2010 ein ganz wichtiges Jahr für mich“, blickt die „Eliteschülerin des Jahres“ voraus und ergänzt hoffnungsvoll: „Zum Glück habe ich gerade keinerlei Beschwerden.“ Im März 2010 stehen für sie die ersten Qualifikationswettkämpfe für die EM Ende April in Birmingham, England an. Der sportliche Jahreshöhepunkt wird für die Turnerin, die inzwischen der Bundeswehr-Sportfördergruppe in Todtnau angehört, allerdings die WM im Herbst in Rotterdam sein. Und damit das ewige Pendeln ein Ende nimmt, beabsichtigt Marie-Sophie Hindermann, alsbald eine eigene Wohnung in Stuttgart zu beziehen. In Sachen „Kopfarbeit“ wird sie ein Studium an der Fernuniversität Hagen im Fach Psychologie aufzunehmen, als vorgeschaltete Etappe für ein späteres Medizin-Studium. Und damit sie auch nach prächtig bestandenem Abi ihre „grauen Zellen“ in Bewegung hält, gibt sie derzeit nebenbei Nachhilfe-Unterricht im Fach Mathematik für Schüler in den Klassenstufen 12 und 13. „Ich bin ein Typ, der sich immer auch geistig beschäftigen muss“, unterstreicht sie und ergänzt: „Wenn man das jetzt vernachlässigen würde, dann wäre es schwer, nach der sportlichen Karriere wieder rein zu kommen.“ Was Marie-Sophie mit dem Preisgeld machen will, davon hat sie schon ganz konkrete Vorstellungen. Ganz oben auf der Wunschliste steht derzeit ein längerer Trainingsaufenthalt in den USA.
Der Schulweg als Trainingseinheit auf dem Fahrrad
Franziska Weber hat für die 5000 Euro im Sinne der sportlichen oder beruflichen Karriere noch keinen Verwendungszweck parat. „Das muss ich erst einmal sacken lassen“, erklärt die Potsdamerin und verweist auf ihre ohnehin sehr beschränkten zeitlichen Freiräume in den nächsten Monaten. Schließlich laufe die Saisonvorbereitung bei den fleißigen Medaillensammlern des Deutschen Kanu-Verbandes (DKV) stets nach bewährtem Rhythmus ab. Gerade verbrachte Weber, die 2008 bei der Heim-EM in Brandenburg mit Fanny Fischer im Zweier-Boot über 500 Meter Bronze gewann und im Vorjahr bei EM und WM jeweils Silber im Einer über die nichtolympische 1000-Meter-Distanz holte, knapp zwei Wochen beim Grundlagentraining in der Höhe von St. Moritz in der Schweiz. Am 31. Januar geht es für die Nationalmannschaft zum dreiwöchigen „Wärme-Trainingslager“ nach Florida, ehe nach der Rückkehr aus den USA hoffentlich die Boote zuhause am Ufer des Templiner Sees ausgepackt und die unmittelbaren Vorbereitungen auf die ersten internen Sichtungs- und Qualifikationsrennen beginnen können. „Je nach den Leistungen, die man da bringt, werden die Boote in jedem Jahr neu zusammengesetzt. Erfolge aus dem Vorjahr zählen da nicht mehr“, weiß Franziska Weber von harter Konkurrenz zu berichten. Gerade für sie als junge Athletin gelte es daher, sich „überhaupt erst mal für ein Boot anzubieten, ganz egal welches“. Ein Platz in einem Kanu, das 2012 in London um olympische Medaillen fährt, wäre ihr natürlich am liebsten. Daraus macht die junge Frau, die inzwischen an der Fachhochschule Potsdam Bauingenieurwesen studiert, keinen Hehl.
Die Qualifikation für die Sommerspiele 2008 sei für sie in ihrem ersten Jahr bei den Senioren noch eine „unlösbare Aufgabe“ gewesen. Mit Blick auf das Großereignis 2012 an der Themse soll das selbstverständlich anders werden. Die Auszeichnung „Eliteschülerin des Jahres“ komme ihr da als Motivationsspritze gerade recht. Einen ähnlichen psychologischen Schub gab es für Franziska Weber, die zwischen 2001 und 2009 vom Stadtteil Eiche zumeist mit dem Fahrrad und nur selten mit dem Bus zur Schule fuhr, bereits im vergangenen Jahr. Ihr Abiturzeugnis hatte sie just zur Siegerehrung zusammen mit der Bronzemedaille bei der Heim-EM am Beetzsee aus den Händen des brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck bekommen. „Ein besonderes Erlebnis, das man bestimmt nicht vergisst.“ Umziehen wird Franziska Weber in ihrem neuen Leben nach dem Ende der Schulzeit - anders als Marie-Sophie Hindermann - jedoch vorerst nicht. Das sei keine Option, winkt sie ab, „dafür habe ich mich an meine Trainingseinheiten mit dem Fahrrad inzwischen zu gut gewöhnt.“
Eliteschulen des Sports gegenüber jungen Sportlern „extrem kooperativ“
„Überragende sportliche Erfolge“, „sehr gute schulische Leistungen“, „Zielstrebigkeit“, „professionelle Einstellung“, „Vorbildfunktion für die Mitschüler“ sowie „gute sportliche Perspektiven hinsichtlich erfolgreicher Olympiateilnahmen“ – all diese Kriterien erfüllen die beiden Preisträgerinnen mit Bravour, so das eindeutige Votum aus dem Arbeitskreis Eliteschulen des Sports. „Die Idee mit diesem neuen Preis finde ich großartig“, lobt dessen Vorsitzender die Initiative. Andreas Dittmer, Kanu-Olympiasieger und seit dem vorigen Jahr als Experte für Sportförderung in der Berliner DSGV-Zentrale tätig, verspricht sich von der Neuerung zugleich eine stärkere Akzeptanz für das Erfolgsmodell der Eliteschulen des Sports. „Genau dahin gehen unsere Intentionen, die wir mit diesem Preis verbinden“, bestätigt Dittmer. „Natürlich braucht dieses System mehr öffentliche Aufmerksamkeit. Und damit ist zugleich ein Ansporn für die jungen Athleten verbunden.“ Die Eliteschulen des Sports seien als Einrichtungen „inzwischen kein Fremdwort mehr“. Doch was genau dort geschieht, wie an diesen Einrichtungen der Alltag für die jungen Sportler aussieht und unter welchen Bedingungen sie dort lernen, trainieren und leben, das sei noch viel zu wenig bekannt.
Für Dittmer, der selbst eine Eliteschule des Sports in Neubrandenburg besuchte, und die beiden Preisträgerinnen Marie-Sophie Hindermann und Franziska Weber ist dieses Instrument der Spitzensport-Förderung „alternativlos“. „Diesen Weg hätten wir auf keiner anderen Schule zurücklegen können“, sagen die beiden Preisträgerinnen unisono und berichten von vielen Stunden versäumten Unterrichts, die durch individuelle Lösungen kompensiert worden seien. Weil etwa Turnerinnen schon in relativ jungen Jahren in die Weltspitze vorstoßen, konnte Marie-Sophie Hindermann bereits frühzeitig regelmäßig die ersten beiden Unterrichtsstunden des Tages zugunsten des Trainings versäumen. Den Stoff holte sie dann nachmittags, entweder allein oder im Einzelunterricht mit einem Lehrer, nach. Auch spezielle Hausaufgaben für die langen Fehlzeiten, während derer Eliteschüler zu Wettkämpfen oder Trainingscamps unterwegs sind, gehören zum Standard. Franziska Weber lobt ihre Schule jedenfalls als „extrem kooperativ“. Vor oder nach besonders extensiven Trainingslagern von drei oder vier Wochen sei es sogar möglich gewesen, den verpassten Unterricht gemeinsam mit den Pädagogen in den Schulferien nachzuholen. "Dass die Lehrer in dieser Zeit zusätzlich zur Arbeit kommen“, weiß die junge Kanutin, „so etwas wäre auf einer anderen Schule bestimmt nicht drin."