Ein Land in Bewegung - Gesundheit reloaded

Die aktuelle Sportentwicklung in Deutschland setzt neue Akzente. Hans-Jürgen Schulke freut sich über das neue Bewusstsein für die Verbindung von Sport und Gesundheit.

Große Freude darüber, dass nach zwei Jahren Stillstand wieder Sport im Verein möglich ist. Foto: LSB NRW
Große Freude darüber, dass nach zwei Jahren Stillstand wieder Sport im Verein möglich ist. Foto: LSB NRW

Ausgelöst von lähmender Sportquarantäne durch eine Virus-Epidemie für alle Altersgruppen und ungezählte Veranstaltungen wird Bewegungslust der Menschen zunehmend in Vereinen praktiziert, in regionalen Verbänden diskutiert und in wissenschaftlichen Fakultäten rehabilitiert. Politik und Medien haben das registriert. Kommt ein Land wieder in Bewegung? Es sieht so aus.

Die aktuelle Sportentwicklung in Deutschland setzt damit neue Akzente. Nach jahrelanger Fokussierung nationaler Sportpolitik auf Olympiabewerbungen, Medaillenzahl, Trainerab-sicherung und finanzielle Verteilerschlüssel für den Spitzensport (Potas) einschließlich eines Haushaltstitels für den Verein der (Spitzen) Athlet*innen hat sich der Blick auf die gesamte Sportentwicklung gründlich verbreitert. Für einen Meilenstein sorgte die Sondersitzung der Sportministerkonferenz im Frühjahr in Hamburg - die Stadt konzipiert und realisiert konsequent die Auszeichnung „Global Active City“. Die SMK forderte nicht weniger als eine Kehrtwendung von eindimensionaler Spitzensportförderung, starrer Trennung von Bund und Ländern und Verharren vor der Pandemieschlange: „Ziel der SMK muss es sein, der gestiegenen gesellschaftlichen Bedeutung des Sports Rechnung zu tragen und das bundespolitische Gewicht des Sports insgesamt zu erhöhen“. Schlüsselbegriff für die Neuausrichtung: Sportförderung als „Querschnittsaufgabe“, und das mit allen Ressorts wie z. B. Gesundheit, Soziales, Jugend, Familie, Sport, Bildung, Verkehr und Stadtentwicklung.

Das war keine beliebige Sonntagsrede, sondern Beginn einer konzertierten Aktion. Schließlich saß in Hamburg neben den Bundesländern die Sportministerin Faeser mit am Tisch wie auch die Präsidenten von DOSB und DFB. Sie alle traten dafür ein, noch in diesem Jahr einen „Bewegungsgipfel“ zu veranstalten, der konkrete Maßnahmen festlegen sollte für eine umfassende Sportentwicklung überall in Deutschland. Gesundheitsminister Lauterbach erklärte umgehend Zustimmung.

Da passte es, dass der DOSB am 24.6.2022 endlich wieder zu einem Parlamentarischen Abend in Berlin einladen konnte und dort seine 90.000 Vereine als einzigartigen Schatz der zahlreich anwesenden Politik vorstellen konnte. Millionen Menschen sind hier ehrenamtlich für das Gemeinwohl aktiv, lassen sich dafür gut und freiwillig ausbilden, geben Schwächeren Hilfestellung, stehen gleichberechtigt zusammen und bilden bewegend wie wertschöpfend die DNA unserer Demokratie. Sie bilden die einzigartige organisatorische Plattform, die praktisch an jedem Ort im Lande Bewegung und Begegnung ermöglicht.

Doch geht es beim Bewegungsgipfel nicht nur um die Stärkung einer beeindruckenden Organisation, sondern auch um deren Ziele. „Bewegung“ ist ein vielschichtiger Begriff, der ein stabiles Fundament und eine organisatorische Grundlage benötigt. Nicht ohne Bedacht hat DOSB-Präsident Thomas Weikert früh angemahnt, dass Sport stärker werteorientiert gedacht wird. Passgenau lud eine Woche später die DSJ mit dem DOSB zum gesundheits- und präventionspolitischen Abend ein und machte deutlich, dass Bewegung ihren Sinn vor allem erhält in der Erfüllung einer umfassend gedachten Gesundheit. „Wenn wir jetzt nicht in Bewegung kommen, laufen wir Gefahr, eine Generation heranzuziehen, die nie gelernt hat, dass Sport integraler Bestandteil ihres Alltags ist”, erklärte DOSB-Vizepräsidentin Kerstin Holze. „Ob im Schulsport oder im Verein, Gesundheit heißt vor allem mehr Bewegung und aktives Sporttreiben als wichtiger Baustein für das körperliche und geistige Wohlbefinden jedes Einzelnen. Auch deshalb muss das gemeinsame Ziel von organisiertem Sport und Politik sein, die Sportangebote allen zugänglich zu machen“. Zustimmung fand sie umgehend in der Diskussionsrunde von Bundesärztekammer und Gesundheitsministerium.

Die konstitutive Verbindung von Sport und Gesundheit ist nicht neu, muss gleichwohl nach dem von Viruserkrankungen inzidierten Lockdown wie jetzt in Berlin Politik und Gesellschaft wieder bewusst werden. Sie reicht von der Aufklärung im 18. Jahrhundert in Schulen über das selbst-organisierte Turnen auf offenen Plätzen seit 1811, dem erholsamen Arbeitersport und den befreienden Frauensport, dem Versehrten- und Herzsport in den 50ern bis zur Rückenstärkung und Yoga heute. Auch in der Lebensgeschichte: Schwangere bis Hochbetagte - Vereine verbinden Bewegungsfreude und Begegnungslust lebenslang.

Seit den 90er Jahren hat der Vereinssport sein Selbstverständnis in der Gesundheitsförderung geschärft. In Folge eines breiteren Gesundheitsverständnisses der WHO - Gesundheit ist mehr als Abwesenheit von Krankheit, ein ständiger Prozess zwischen deren Vermeidung und Gewinn von Lebensqualität - haben Vereine sich zum „gesunden Lebensort“ entwickelt, der neben Linderung und Verhinderung somatischer und sozialer Beschwernisse durch anregende Bewegung Raum gibt für soziale Unterstützung, gesunde Ernährung, frische Luft, umweltgerechte Materialien, angemessene Beschallung und nicht zuletzt erfüllende Begegnungen. „Resilienz“ ist das Lösungswort, das auch Immunkompetenz stärkt. Das erfolgt nicht überall und sofort, aber immer mehr. Die Kraft zur Selbstorganisation ist dem Vereinssport ohnehin eingewebt - Kooperation mit Krankenkassen, Arztpraxen, Lebensmittelketten, Hochschulen u.a. eingeschlossen.

Unterstützt wird der Prozess durch ein Präventionsgesetz, das nach manchen Kämpfen qualifizierte wie differenzierte Vereinsangebote als förderungswürdig anerkennt, Modellvorhaben ermöglicht, betriebliches Gesundheitsmanagement fördert, mit dem Teilhabegesetz beeinträchtigten Menschen neue Zugänge eröffnet und durch zivilgesellschaftliche Stiftungen projektbezogen fördert, die für neue Lösungen offen sind.

Gesundheit ist ein großes Ganzes. Das von der WHO nominierte „health“ entstammt dem „whole“ als Ganzheit. Ein runder Tisch aller Ministerien, Sportorganisationen und Fachleute könnte das erfüllen. Auch gegen eine neue „Epidemie“, die die WHO kürzlich angemeldet hat: Übergewicht in den wohlhabenden Ländern.

(Autor: Prof. Dr. Hans-Jürgen Schulke)

In jeder Ausgabe der DOSB-Presse, die wöchentlich erscheint, gibt es einen Kommentar zu aktuellen Themen des Sports, den wir hier veröffentlichen. Diese mit Namen gezeichneten Beiträge geben nicht unbedingt die offizielle DOSB-Meinung wieder.


  • Große Freude darüber, dass nach zwei Jahren Stillstand wieder Sport im Verein möglich ist. Foto: LSB NRW
    Drei Frauen sitzen auf Gymnastikbällen und heben die Arme Foto: LSB NRW