Eine Woche war Berlin geprägt vom fröhlich-bunten Turnfest. 80 000 Mitglieder aus 3200 Vereinen brachten mit ihrer Begeisterung, Kreativität und spektakulären Leistungen die Stadt in Bewegung. Seit 1860 wird ein Deutsches Turnfest gefeiert, vor genau 200 Jahren fand sein Vorläufer in der Berliner Hasenheide statt. Rund 1000 junge Leute feierten dort unter Anleitung des „Turnvaters“ Jahn selbstbewusst ihre bewegend praktizierte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die sie für das ganze Deutschland anstrebten.
Seitdem sind Turnfeste auch Orte der Reflexion und Erinnerung. In diesem Jahr betonten beim feierlichen Festakt DTB-Präsident Hölzl wie Bundesministerin Zypris Bedeutung der Turnvereine für die deutsche Demokratiebewegung, die Bundeskanzlerin bei der Stadiongala die historische Rolle von Jahn bis heute – die feiernden Turner seien seine Nachkommen. Das bestätigte DTB-Ehrenpräsident Brechtken mit einer engagierten Ansprache am großen Jahn-Denkmal in der Hasenheide, wo die Jahn-Gesellschaft eine Feierstunde abhielt. Turn- und Sportvereine integrieren alle, Hass und Häme ist ihnen fremd.
Die geriet im Vorfeld in den Medien in die Diskussion, wo wieder mal intellektuell um den fortschrittlichen oder reaktionären Jahn gestritten wurde. Dem Turnerbund wurde unterstellt, er verstecke verschämt seinen Gründer. Die seit Jahren offen und fundiert die Wirkung des „Turnvaters“ erforschende Jahn-Gesellschaft sah sich gar dem Verdacht rechtsradikaler Unterstützung ausgesetzt. Gibt es Anlass, sich von Jahn zu distanzieren?
Die gelegentliche Ablehnung Jahns speist sich aus der Sackgasse abstrakter Ideologiekritik. Über Jahns Aussagen zu Volk, Nation, Franzosenhass wird man vermutlich noch in hundert Jahren streiten können - je nach eigenem Standort. Das führt nicht weiter – Jahn war kein Wissenschaftler, kein Intellektueller, kein Schriftsteller. Entsprechend lassen sich mitunter unpräzise bis polterigen Aussagen beliebig vereinnahmen, sind stets aus der damaligen Zeit der Zersplitterung Deutschlands, der brutalen napoleonischen Besatzung, der resignativ-fatalistischen Haltung weiter Bevölkerungskreise zu verstehen. Er wollte das Volk aufrütteln.
Jahns Hauptverdienst liegt im Organisatorischen. Er ist Initiator und vor allem erfolgreicher Entwickler des (turnerisch-sportlichen) Vereinswesens. Er ist der Mann, der Deutschland im wahrsten Sinne „vereint“ hat und das von unten.
Jahn hat eine zu der Zeit revolutionäre neue Sozialform außerhalb Familie, Schule, Handwerk, Gewerbe, Kirche, Militär geschaffen. Die waren alle konsequent hierarchisch, auf Befehl und Gehorsam ausgerichtet.
Dagegen setzte er Gleichheit Aller, demokratisches Abstimmen, Selbstorganisation, Freiwilligkeit, gegenseitige Hilfestellung, Kreativität. Dieses Modell hat sich gegen heftige Widerstände in hundert Jahren als Vereinsgesetz durchgesetzt und bis heute als einzigartiges Erfolgsmodell erwiesen – im Sport mit 90 200 Vereinen und 27 Millionen Mitgliedschaften, zigtausenden selbst errichteten Sportstätten und Millionen ausgebildeter ehrenamtlicher Mitarbeiter.
Wer den bunten Festzug durchs Brandenburger Tor erlebt hat, konnte Eigenständigkeit, Vielfalt, Selbstbewusstsein der 3200 teilnehmenden Vereine spüren. Und ihren dauerhaften Beitrag für ein offenes, demokratisches Deutschland erkennen - die Hälfte der Vereine war mehr als hundert Jahre alt. Hierfür verdient Jahn auch heute alle Anerkennung. Er ist nicht im Museum thronender Turnvater, sondern bleibt auch Frauen inspirierender Turnbruder.
(Autor: Hans-Jürgen Schulke)
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