Ganztagsschulen - eine Herausforderung für den Sport

 

Ganztagsschulen schaffen neue Aufgaben auch für Sportvereine. Die in einigen Bundesländern unter dem Eindruck des Pisa-Schocks im Schweinsgalopp verordnete Ganztagsbetreuung

- vorrangig im Primarbereich (6 bis 10 Jahre), offen (freiwillig) oder geschlossen (Pflicht) - ist für Großvereine durchaus zu meistern. Für die kleinen Vereine, vor allem im ländlichen Raum, bauen sich schwer überwindbare Hindernisse auf. Poolbildung - orts- und schulübergreifende Zusammenarbeit - heißt dort die Einstiegsformel.

Professor Walter Tokarski, Rektor der Deutschen Sporthochschule Köln, empfiehlt die einmalige Vereinskultur zu stärken, fürchtet aber erhebliche Auswirkungen der Ganztagsschule auf die Vereinslandschaft: „Der Sportbegriff dort ist weniger auf Leistung und Lernen ausgelegt, sondern auf Freiwilligkeit und Freizeitgestaltung. Die Mischform von Vereins- und Schulsport bevorzugt stärkere Freizeitorientierung. Es geht nicht allein um Partnerschaft, es geht auch darum, die gesellschaftliche Entwicklung von Jugendlichen aufzugreifen.“ Sylvia Glander, die neugewählte Vorsitzende des Freiburger Kreises, der das Thema Ganztagsschule bei seinem Frühjahrsseminar bei der SG Langenfeld diskutierte, pocht auf die Führungsrolle der Großvereine: „Die Vereine müssen in den Kommunen das Konzept in die Hand nehmen und dafür sorgen, dass das Sportkonzept in das pädagogische Konzept eingebunden wird.“ Sie erwartet angemessene Mitsprache und kompetente Ansprechpartner in Stadt und Land, sowie ein Minimum an Bürokratie.

Der Freiburger Kreis, die Arbeitsgemeinschaft von 165 Großvereinen, ist bereit, einmal mehr Lokomotive zu spielen in der Schul- und Sportentwicklung. Wobei wegweisende Pionierdienste in diesem Bereich vor allem dem Landessportbund Rheinland-Pfalz zugeschrieben werden müssen. Auch Nordrhein-Westfalen spielt bei der Umsetzung der Ganztagsbetreu-ung eine führende Rolle, was Kooperation, Finanzierung und Handreichung zwischen Landessportbund und Politik betrifft. NRW-“Kultusministerin“ Ute Schäfer („Wir machen Schule nicht dadurch besser, dass wir am Nachmittag eine Gegenwelt inszenieren“) wirbt für die Partnerschaft. Neuer Rhythmus im Schultag, verlässlicher, zeitlich begrenzter Rahmen, neue Lernfelder und neue Arbeitsatmosphäre böten Chancen für bessere Lernqualität. Der Einstieg in die Ganztagsschule eröffne Vereinen die Chance, für sich zu werben und eine neue Klientel anzusprechen. Erste Erfahrungen von Großvereinen zeigen Mitgliederverluste, wenn sich Angebote überschneiden und Kinder zur Wahl zwingen.

Beim Frühjahrsseminar des Freiburger Kreises schwankte die Stimmung zwischen Selbstbewusstsein und Bedrohung. Pferdefüße wurden offenbar. Viele reden von Ganztagsbetreuung und werben darum, die Vereine mit ins Boot zu holen, doch existieren weder Rahmen-vereinbarungen noch Kooperationsmodelle.

Die Vereine verlangen, die Ausgestaltung mitbestimmen zu können. Bedenken und Vorbehalte gibt es reichlich: Ganztagsschulen entwickeln Konkurrenz, werben Übungsleiter ab und schmälern Trainingszeiten in kommunalen Sporthallen. Bleiben sie nach großzügiger Anschubfinanzierung durch Bund (vier Milliarden Euro), Länder (820 Euro pro Kind und Jahr), sowie Kommunen (410 Euro) nach dem Jahr 2007 auf den Kosten sitzen? Gehen andere Fördertöpfe für den Sport verloren? Qualifizierte Betreuung - vor allem am Nachmittag - bittet auch die Eltern zur Kasse. Die politisch gewollte, selbständige, selbst verwaltete und vielleicht sogar selbst finanzierte Schule droht Gefälle und Wettbewerb zwischen Bundesländern, Kommunen und Schultypen zu verschärfen.

Schulleiter Andreas Lindemeier, Mitglied im Ausschuss für Breitensport und Sportentwicklung im LSB Niedersachsen, vermisst an vielen Stellen Sachorientierung: „Wir waren eigentlich im Schulsport auf gutem Weg vor Pisa.“ Angesichts der Finanznot der Kommunen heißt nun das Gebot: Wie kann ich das möglichst kostengünstig organisieren? Lindemeier: „Der Sport im Verein kann nicht staatliche Verpflichtungen übernehmen.“ In vielen Landessportbünden ist das Reizthema noch gar nicht angekommen. Eine Reihe von Ländern verweigern sich: „Da sind 16 Bundesländer auf unterschiedlichem Weg.“ Der Mangel an Personal und Sportstätten, erschreckende körperliche Defizite der Schüler, sowie unterschiedliche Wertigkeit des Sports bei Eltern, Kindern und Schulleitungen erschweren den Einstieg in sportbetonte Ganztagsschulen.

Am einfachsten erscheinen sportliche und inhaltliche Ausgestaltung der Ganztagsbetreuung vor allem durch die Großvereine. Der ausgeschiedene Vorsitzende des Freiburger Kreises, Bodo Bollmann, verriet Selbstbewusstsein: „Wir sind ganz vorne, was die Angebote anlangt.“ Grundsätzlicher Klärungsbedarf herrscht bei Finanzierung, Kooperations- und Vertragsgestaltung - Partner sind die Kommunen, nicht die Schulen - und bei der Qualität von Angebot und Personal. Die Vereine werden Ländern und Kommunen nicht die staatliche Pflichtaufgabe Schulsport abnehmen oder zu Billigtarifen Sportunterricht an Schulen sichern. Die Autonomie des Sports bleibt höchstes Gebot. Daran lässt auch Manfred von Richthofen, der Präsident des Deutschen Sportbundes, keinen Zweifel. Er sagt aber gleichzeitig: „Wir müssen die Ganztagsschule als große Chance für den Sport begreifen, über den staatlichen Bildungsauftrag eines qualifizierten Schulsports hinaus neue Akzente für die Bewegungs- und Leistungsorientierung von Kindern und Jugendlichen zu setzen.“