Gleichwohl oder gerade deswegen: Eigentlich ist es nur Fußball

Autor Andreas Höfer nutzt die Gelegenheit auf ein gravierendes Ärgernis zu verweisen; den Verfall der Sitten, der sich bei der Fußball-EM ebenso auf dem Platz wie außerhalb desselben beobachten ließ.

Was bleibt von der EURO 2020? Neben Europameister Italien auch das unwürdige und unsportliche Gebaren auf und neben dem Platz. Foto: picture-alliance
Was bleibt von der EURO 2020? Neben Europameister Italien auch das unwürdige und unsportliche Gebaren auf und neben dem Platz. Foto: picture-alliance

Eigentlich – das schöne deutsche Wort „eigentlich“ – haben wir ja gerade andere Sorgen. Die „vierte Welle“ zum Beispiel, ein Stichwort, das uns wohl eher nicht an La-Ola im Stadion denken lässt. Gleichwohl oder auch gerade deswegen bewegte mal wieder der Fußball die Gemüter, auch wenn sich die Erregungsschwelle, zumindest hierzulande, deutlich unter Normalmaß eingepegelt hatte. Das lag wohl, siehe oben, an den äußeren Umständen und Begleiterscheinungen, doch auch „die Mannschaft“, jedenfalls diejenige, die uns naturgemäß mehr als andere am Herzen liegt, tat mit ihrem Auftritt das ihre, die Euphorieschraube weiter nach unten zu drehen.

Nun wäre Letzteres eigentlich nicht der Rede wert, denn nach dem Turnier ist bekanntlich vor demselben und der beeindruckende Höhenflug des amtierenden Meisters hat gezeigt, dass man aus einem tiefen Tal der Tränen wie Phönix aus der Asche emporsteigen kann. Gestern brutta, heute bella Italia. Und eigentlich ist es ohnehin nur Fußball. Doch trotzdem oder gerade deswegen bricht sich der ungute Gedanke Bahn, dass der denkbar uninspirierte Auftritt unserer Elitekicker etwas mit dem Zustand unserer Gesellschaft zu tun haben könnte.

Ohne diese wenig originelle Frage hier tiefergehend reflektieren zu wollen, musste der Autor dieser Zeilen bei dem nachgerade nervtötenden Ballgeschiebe, hundertmal von Hummels zu Ginter und zurück, an Verwaltungsmodus, Brandschutz und Tempolimit denken. Als dann kurz vor Feierabend einmal ein Antrag auf einen Steilpass eingereicht, dieser eingehend geprüft und trotz Bedenken letztlich positiv beschieden wurde, war das Momentum verpasst und der Ball ging eben wieder von Ginter zu Hummels und zurück. Würde jemand mit Kennerschaft von „System-Fußball“ reden, wäre das Problem auf den Punkt gebracht.

Vielleicht ist es aber auch typisch deutsch, selbst beim Fußball zuerst an Probleme zu denken. Doch gleichwohl oder gerade deswegen wollen oder können wir ja nicht die Augen verschließen. Dabei soll gar nicht oder nur am Rande die Pandemie-Frage, namentlich die Frage aufgeworfen werden, ob das europäische Festival als eine Art Ischgl mit Ansage wirken könnte. Auch die UEFA an sich soll hier das Thema nicht sein. Und dass Fußball auch und nicht zuletzt mit Geld, mit viel, vielleicht zu viel Geld zu tun hat, wurde und wird andernorts schon zur Genüge reflektiert.

Vielmehr sei die Gelegenheit genutzt, auf ein anderes, ebenfalls gravierendes Ärgernis zu verweisen, das, wie in den vergangenen vier Wochen, schon seit vielen Jahren weit offenkundiger zu Tage tritt. Gemeint ist ein Verfall der Sitten, der sich ebenso auf dem Platz wie außerhalb desselben beobachten lässt, wobei das eine mit anderen korrespondieren dürfte. Kein Einwurf, der nicht von beiden Seiten für sich reklamiert wird. Keine Schiedsrichterentscheidung, die nicht als Verhandlungsbasis angesehen wird. Kein Foul, bei dem der Gefoulte nicht den sterbenden Schwan und der Übertäter nicht die Unschuld vom Lande markiert. Kein Torschütze, der sich nicht als Retter des Abendlandes geriert. Kaum ein Anhänger der unterlegenen Mannschaft, der noch die Siegerehrung abwartet. Kein zweitplatzierter Spieler, der sich nicht die gerade überreichte „Silbermedaille“ geringschätzend vom Hals reißt. Kein Trainer und kein Funktionär, der diesen und anderen Unarten, die im Blick auf andere Sportarten geradezu undenkbar erscheinen, wenigstens aber der ungenierten Entsorgung überschüssigen Speichels, Einhalt gebietet. Dabei sollte eben dies als eine der vornehmsten und selbstverständlichsten Aufgaben in ihren Jobbeschreibungen ausgewiesen sein, wenn diese nicht ohnehin dem Selbstverständnis und Verantwortungsgefühl der Protagonisten erwächst.

Denn auch ohne wissenschaftliche Grundierung scheint die These erlaubt, dass das unwürdige und unsportliche Gebaren der Hauptdarsteller, live und in Farbe millionenfach vor Augen geführt, etwas damit zu tun, dass beim Abspielen der „gegnerischen“ Hymne Pfeifkonzerte ertönen. Dass drei unglückliche Elfmeterschützen rassistischen Anwürfen ausgesetzt sind. Dass, so aktuelle Untersuchungen, im Anschluss an ein Fußballmatch – nach dem Motto „He’s coming home“ - häusliche Gewalt signifikant zunimmt. Dass nicht nur Frauen und Kinder, sondern zunehmend auch Schiedsrichter verprügelt werden. Dass größere Spiele von immer größeren Polizeiaufgeboten begleitet werden müssen. Wollen wir das? Nehmen wir das überhaupt als misslich wahr? Glauben wir, da kann man nichts machen?

Eigentlich haben wir, wie gesagt, ja ganz andere Sorgen. Doch gleichwohl und gerade deswegen wollen wir uns doch die Freude am Fußball nicht nehmen lassen – und zwar schon gar nicht vom Fußball.

(Autor: Andreas Höfer)

In jeder Ausgabe der DOSB-Presse, die wöchentlich erscheint, gibt es einen Kommentar zu aktuellen Themen des Sports, den wir hier veröffentlichen. Diese mit Namen gezeichneten Beiträge geben nicht unbedingt die offizielle DOSB-Meinung wieder.


  • Was bleibt von der EURO 2020? Neben Europameister Italien auch das unwürdige und unsportliche Gebaren auf und neben dem Platz. Foto: picture-alliance
    Banner mit dem Schriftzug UEFA EURO 2020; auf der Tribüne sitzen zwei Personen Foto: picture-alliance