Gratwanderung zwischen Erfahrung und Euphorie

Die Special Olympics sind ein Meilenstein in der Verwirklichung inklusiven Sports. Am 2. März beginnen die Winterspiele von SOD in Berchtesgaden.

Fahne,Eid und Feuer gehören zur Eröffnungszeremonie der Spiele. Foto: SOD/Tom Gonsior
Fahne,Eid und Feuer gehören zur Eröffnungszeremonie der Spiele. Foto: SOD/Tom Gonsior

Letzte Woche fand die Pressekonferenz für die Winterspiele der Special Olympics Deutschland (SOD) statt. Sie beginnen am 2. März im Berchtesgadener Land. Mit Aktiven und Betreuer*innen, Wettkampfrichter*innen und Eltern werden rund 3000 Menschen dabei sein. Sie blicken erwartungsvoll auf die nunmehr 11. Winterspiele für Menschen mit geistiger und Mehrfachbehinderung. Routine also statt Spektakel? Nein, diese Spiele markieren einen Scheitelpunkt, der weit über das Ereignis hinausreicht: Sie sind ein Meilenstein in der Verwirklichung inklusiven Sports.

Die Special Olympics Weltspiele, also quasi Olympische Spiele für Menschen mit geistiger Behinderung – das sind sie nach Sportarten, Ablauf, Teilnehmerzahl, Zeremonien und Resonanz – sind eine beeindruckende Erfolgsgeschichte. Das gilt nirgendwo mehr als in Deutschland. Vor 75 Jahren wurden die letzten Kinder und Erwachsenen von den Handlangern des damaligen NS-Regimes umgebracht – „Euthanasie“ hieß das zynische Prädikat der damaligen Tötungsmaschinerie gegen so genannte „lebensunwerte“ Menschen. Hunderttausende wurden umgebracht, Eltern und Verwandte ahnten das schreckliche Lebensende der Betroffenen. Der Plan wurde in der Tiergartenstraße in Berlin wenige hundert Meter vom Reichstagsgebäude beschlossen – dort findet jeweils mit politischer Prominenz und ungehinderter Begeisterung der Auftakt zum Fackellauf für die jeweiligen Nationalen Sommerspiele von SOD statt.

Bis dahin war es ein weiter Weg. Nach Kriegsende legte sich Scham, Trauer und Stille über das schreckliche Geschehen. Im Unterschied zu gehörlosen, blinden und körperversehrten Menschen, die ihren Mut und Kampfeswillen demonstrieren wollten und sollten, war an unbeschwert-fröhliches Sporttreiben der überlebenden Menschen mit geistiger Behinderung nicht zu denken. Zu sehr war der im Krieg von der SS getragene „heldische“ Versehrtensport der Soldaten im Kopf vieler Menschen. 50 Jahre sollte es dauern, bis Special Olympics als Sport für Menschen mit geistiger Behinderung in Deutschland festen Fuß fassen konnte –SOD wurde hierzulande gegründet.

Entscheidende Impulse kamen in den 60er Jahren aus den USA, wo die Kennedy-Familie mit ihrer Stiftung erste Sportveranstaltungen ausrichtete, die bald internationale Beteiligung fanden. Sie boten fast alle Sportarten der Olympischen Spiele, zusammen mit der fröhlichen Leidenschaft der Aktiven adelte sie das IOC als vollwertiges Mitglied der Olympischen Familie. Weltspiele etablierten sich, sind heute drittgrößte Multisportveranstaltung der Welt. Thomas Bachs oft genannter Satz bestätigt die Entscheidung: „Wer den wahren Wert des Sports erkennen will, muss zu den Special Olympics gehen!“

In Sportdeutschland wurde Special Olympics 2006 in der Gruppe der Verbände mit besonderen Aufgaben als Mitglied im DOSB aufgenommen, nicht ohne Bedenken im Behindertensportverband. Ende 2018 wurde dem Antrag von SOD zum Wechsel in die Gruppe der Spitzenverbände, wiederum nach einigen Diskussionen, stattgegeben. Entsprechend der Behindertenrechtskonvention der UNO, die für alle Bereiche der Gesellschaft Gleichberechtigung und Partizipation verbindlich festschreibt, selbstverständlich auch für den Sport, haben die Bundesregierung, die Sportministerkonferenz, der Deutsche Städte- und Gemeindetag und der DOSB die Stadt Berlin und SOD bei der Bewerbung um die Weltspiele 2023 tatkräftig wie umfassend unterstützt.

Der Weltverband SOI hat Berlin und SOD vor gut einem Jahr den Zuschlag gegeben. Ende Januar 2020 hat der Weltpräsident Tim Shriver, Neffe von J.F. Kennedy, in Berlin mit dem Bundespräsidenten den Vertrag in einem feierlichen Akt unterzeichnet. Tim Shriver war von den Planungen tief beeindruckt, sah für die Berliner Spiele etwas ganz Neues auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft, bei der der Sport den Treibriemen bildet. Fast 200 Athlet*innen und Ehrenamtler*innen diskutierten am 29. Januar mit ihm bei einem Dialogforum in Berlin über ihre neuen Spiele. Hier wie im Schloss Bellevue waren rund 60 Athletensprecher*innen dabei, die seit Jahren ihr Amt leben und lernen, die Interessen aller Sportler*innen zu vertreten. Sie werden ab sofort in allen Gremien und Planungsbereichen aktiv an der Gestaltung der Weltspiele mitwirken – gleichberechtigt und auf Augenhöhe. Betreuer und Eltern erleben erstaunt und beglückt, welches Engagement, Ideen und Solidarität die Athletensprecher*innen entwickeln. Sie werden mit Fortschritt der Planungen für die Weltspiele weiter wachsen.

Bis dahin werden sie nicht warten. In Berchtesgaden sind sie während der Spiele bei Wettbewerben, Siegerehrungen, Pressetreffen, Eröffnungszeremonie, Gesundheitsprogramm selbstverständlich beteiligt. Der bekannte Wintersportort und seine Einwohner*innen haben das Privileg, erstmals mit und von den Athlet*innen gestaltete Spiele zu erleben. Genauso wird es bei den zahlreichen Landesspielen im nächsten Jahr sein, wo sich ihr Kreis regional weiter vergrößern wird. Die Nationalen Spiele 2022 in Berlin werden als PreGames zum gemeinsamen Planen Athletensprecher*innen anderer Länder erleben, bevor 8000 Aktive aus 170 Ländern 2023 ein wirklich inklusives Sport-Fest erleben werden.

Auch 2023 gibt es innovativen Fortschritt: Die 170 Delegationen werden in 170 Kommunen über vier Tage vor den Spielen Land und Leute, Sport und Sprache, Schulen und Sportvereine, Kultur und Kommunalpolitik kennenlernen, Freundschaften inklusiv. Das ist eine große organisatorische Herausforderung, durch die die Inklusionsidee tiefe Wurzeln im ganzen Land schlagen kann. Das mag Impulse für eine erneute Olympiabewerbung in Deutschland geben, wissen doch alle, dass dieses Ziel breiter Zustimmung aus der Bevölkerung bedarf. Insofern sind die Special Olympics World Games 2023 eine nachhaltig wirkende nationale und regionale Aufgabe. Sie beginnt nächste Woche mit einem neuen Meilenstein im Berchtesgadener Land.

(Autor: Prof. Hans-Jürgen Schulke)

In jeder Ausgabe der DOSB-Presse, die wöchentlich erscheint, gibt es einen Kommentar zu aktuellen Themen des Sports, den wir hier veröffentlichen. Diese mit Namen gezeichneten Beiträge geben nicht unbedingt die offizielle DOSB-Meinung wieder.


  • Fahne,Eid und Feuer gehören zur Eröffnungszeremonie der Spiele. Foto: SOD/Tom Gonsior
    Eröffnungsfeier der Special Olympics mit der Flamme und der Specials Olympics Fahne im Vordergrund. Foto: SOD/Tom Gonsior