Ein von Kinderhand gemaltes Porträt von dem 56-Jährigen, dem es als ersten Handballer überhaupt gelang, als Spieler und als Trainer WM-Gold zu gewinnen, prangt sogar inmitten der Fußgängerzone und verschönert einen Bauzaun. „Ich möchte später auch Handballer werden“, sagt ein Steppke, von dem das Bild hätte stammen können. Sein Vater fiebert wie anscheinend sämtliche 8.000 Gummersbacher und der gesamte oberbergische Landkreis der neuen VfL-Arena entgegen. Der Tenor ist deutlich: Mit dem neuen Domizil könnte der Traditions-Verein, der allein in den 70er Jahren fünf seiner insgesamt zehn internationalen Titel, vier von insgesamt zwölf nationalen Meisterschaften und zwei Pokalsiege feierte, im aktuellen Profigeschäft zu seinen Wurzeln zurückfinden. Die alte Eugen-Haas-Halle, in der einst die grandiosen Erfolge frenetisch bejubelt wurden, fasst nur 2.100 Zuschauer und genügt modernen Ansprüchen nicht mehr. Seit der Auswärtspremiere am 30. November 2001 wechselte das VfL-Team immer öfter hinüber in die rund 60 Kilometer entfernte Köln-Arena. Inzwischen werden dort - mit wenigen Ausnahmen - fast alle Partien ausgetragen. Bei der Premiere gegen Kiel füllten gut 18.500 Zuschauer die Halle, in der Vorsaison kamen im Schnitt weniger als 6.000 Besucher. Eben für diese Größenordnung soll der künftige Neubau an der Wiege des 1861 gegründeten Vereins ausgelegt sein.
„Durch die vielen Auswärtsspiele hat die Identifikation etwas nachgelassen. Die Masse möchte den VfL natürlich hier in der Halle sehen“, schildert Geschäftsführer Francois Xavier Houlet die allgemeine Stimmungslage. Der Mann aus Paris, einst selbst im VfL-Trikot auf Torjagd, anschließend Sport-Direktor und seit 2008 Chef der Handball-GmbH mit knapp 30 Angestellten, hofft für das neue Domizil neben einem ebenfalls geplanten Einkaufzentrum auf einen schnellen Baubeginn. Die Stadt steht hinter dem Projekt, die Phase der internationalen Ausschreibung und der Suche nach einem Investor endet am 31. März. Natürlich werde die neue VfL-Arena nicht von heute auf morgen stehen, weiß Houlet. Vielleicht werde man noch zwei weitere Spielzeiten nach Köln ausweichen, schätzt der Mann aus Paris. Allein die Perspektive der baldigen Rückkehr nach Hause ins Oberbergische könnte jedoch wie ein Jungbrunnen wirken und manche alte Wunde endgültig vernarben lassen.
„Die Handballer hatten vor der Insolvenz alles an Beiträgen geschluckt“
Was die insolvente HSG Nordhorn oder die Stralsunder heute erleben, das erschütterte Gummersbach und die etwa 300.0000 Einwohner des Landkreises um die Jahrtausendwende wie ein Erdbeben. Die berühmten wie erfolgreichen Handballer hatten den Verein mit all seinen anderen Sparten ins wirtschaftliche Verderben geführt. Die Zentrale des Sports in der Region verlor den Boden unter den Füßen. „Schmerzhafte Kinderkrankheiten nach der Geburt des Profigeschäfts im Handball“, nennt Peter Kammer diese Phase, in der das Image des Handballs vor Ort beträchtlich litt. „Die Handballer hatten vor der Insolvenz alles an Mitglieds-Beiträgen geschluckt.“ Ärger und Zorn waren groß, die vorherigen Strukturen unmöglich aufrecht zu erhalten. Der eingetragene Verein war „fast nicht mehr existent“. Um überleben zu können, wurde der Bundesligist als Profibetrieb in GmbH-Gestalt ausgegliedert. Die Amateure sowie andere Sportarten verselbständigten sich ebenfalls. Sie flüchteten sich in der Not in Spielgemeinschaften oder gründeten eigene Vereine. Später fand manche Sparte sukzessive unter das VfL-Dach zurück. Heute unterhält der Verein auch wieder Abteilungen für Leichtathletik, Turnen, Tischtennis und Ski.
Handball wird natürlich weiterhin in den allergrößten Lettern geschrieben. Ob bei Mädchen oder Jungen, von den Minis bis zu den A-Jugendlichen existieren mehr als ein Dutzend Mannschaften. Insgesamt 500 Mitglieder zählt die Abteilung. „Es gab verschiedene Stationen, bis wir wieder zu uns selbst gefunden haben. Inzwischen herrscht wieder weitestgehend Frieden im Dorf“, skizziert Kammer die schwierige Phase der Konsolidierung. Der 49 Jahre alte Ingenieur und zweite Vorsitzende der VfL-Handballer hat daran als Projektleiter der Gummersbacher Handball-Akademie maßgeblich mitgewirkt. Hätte Sohnemann Niklas, der heute in der A-Jugend spielt, vor einigen Jahren nicht den Handball für sich entdeckt, dann wäre diese Geschichte womöglich anders verlaufen…
Die Handball-Akademie als Vereinsnetzwerk und Zentrum der Talentförderung
Die Idee für eine solche Akademie geht bis auf das Jahr 2001 zurück. Neuanfang in neuen Strukturen lautete die Devise. Offiziell gegründet wurde das Kooperationsgeflecht mit dem TV Strombach, dem SSV Marienheide, dem SSV Nümbrecht sowie mehreren Schulen in Gummersbach und den Nachbargemeinden im Oktober 2005. Der Kern der Talentförderung betrifft jene rund 40 Teenager, die von früh bis spät einschließlich Unterkunft, Schule, Verpflegung, Hausaufgabenhilfe und dem gemeinsamen Training rundum versorgt und betreut werden. Vier Arbeitsplätze sind auf diese Weise entstanden, darunter die Stellen von zwei Trainern. Der größte Teil des Akademie-Budgets zwischen jährlich 250.000 und 400.000 Euro kann dank Sponsoren, mit der Unternehmensberatungs-Gesellschaft Kienbaum an der Spitze, bestritten werden. Die beträchtlichen Zuwendungen der international operierenden Firma werden an Handball-Stipendiaten wie Jonathan Eisenkrätzer weitergereicht.
Als 16-Jähriger hatte sich der 2,02-Riese vor zwei Jahren beworben und überzeugte beim Vorspielen. „Bei meinen früheren Verein in Obernburg bei Großwallstadt hatte ich kaum Perspektiven und schon fast die Lust am Handball verloren “, sagt Jonathan. Inzwischen wurde er schon zwölf Mal in die die deutsche Nachwuchsauswahl berufen. Gemeinsam mit den anderen „Jung-Akademikern“ hat er sich aus der Landesliga über die Verbandsliga schon bis in die Oberliga vorgearbeitet. Für das mit Abstand jüngste Oberliga-Team weit und breit ist es nun das erklärte Ziel, demnächst in die Regionalliga zu marschieren, um damit noch näher an die Bundesliga-Vorbilder heranzurücken und möglichst schnell den Anschluss zu den Profis zu schaffen. Einem Trio ist das bereits geglückt. Der 18-jährige Rückraumspieler Jonatahn hat ebenso schon einen Vertrag bekommen wie vor ihm Ole Rammel (19), der ursprünglich aus Achim bei Oldenburg kam, und der aus Frankfurt(Oder) stammende Stanislaw Gorobtschuk (20).
„Wen interessiert die große Geschichte dieses Vereins, wenn er keine Zukunft hat“
Als Scharnier zwischen den Jungen aus der zweiten VfL-Mannschaft und der ersten Sieben figuriert Emir Kurdagic. Er arbeitet bei den Profis als Co-Trainer und hat zugleich die A-Jugendlichen unter seinen Fittichen. Wer von ihnen später keinen Vertrag beim VfL oder einem anderen Top-Klub bekommt, der kann je nach sportlichen Fähigkeiten als gut ausgebildeter Handballer in jede andere Klasse wechseln. Vom Prinzip der Verstärkungen „made in Gummersbach“ können natürlich auch alle Vereine im Verbund profitieren. Der frühere Vorwurf bei den Nachbarn, die Gummersbacher würden Talente abwerben, ist längst der Einsicht gewichen, dass von dem neuartigen Kooperationsmodell alle Beteiligten profitieren. Im weiblichen Bereich heißt die erste Adresse Heidenfeld, die besten Mädchen und jungen Frauen sollen beim SSV anheuern.
Das Miteinander sorgt rings herum für hohe Sympathiewerte der Akademie, die zugleich auf den Gummersbacher Handball insgesamt abstrahlen. Erst recht vor dem Hintergrund, dass dank des Netzwerks an vielen Schulen inzwischen auch andere Sportarten aufblühen. Über Arbeitsgemeinschaften oder so genannte Sportklassen werden unter Führung der Handball-Akademie derzeit im Landkreis rund 3.200 Kinder betreut. „Wir begrüßen das sehr“, sagt Geschäftsführer Houlet und verweist auf die Vorteile des Netzwerkes für die GmbH. Damit würden nicht nur Kinder frühzeitig animiert, sich sportlich zu bestätigen. Zugleich würden dank dieses Instruments dem VfL Gummersbach potentielle junge und neue Fans zugeführt. Nüchtern sportlich betrachtet, verfügt der Profiverein nun über ein Nachwuchsreservoir, ohne dafür viel investieren zu müssen. An dem Modell haben ebenfalls die Brand-Brüder Klaus und Jochen ihre Aktie, zum Beispiel indem die früheren Spieler Patenschaften über Schulen oder Vereine übernahmen. Der ehemalige Meistertrainer Klaus gibt seine Erfahrungen überdies ganz praktisch auf dem Parkett weiter.
„Wen interessiert die große Geschichte dieses Vereins, wenn er keine Zukunft hat.“ Unter anderem mit diesem Hinweis hatte Peter Kammer bei Akademie-Gründung aktiv um Unterstützung bei den Alt-Gummersbachern geworben. Dem „Club der Altinternationalen“ gehören fast einhundert ehemalige Spieler an. Von den Brands über Joachim Deckarm, Jochen Feldhoff bis Erhard Wunderlich haben viele große deutsche Handballer im Oberbergischen ihre Spuren hinterlassen. Damit es so bleibt, „ist Identifikation weiter ein großes Thema“, weiß Kammer. Heiner Brand allerdings hat er wohlweislich nicht um aktive Mithilfe gebeten. Als Bundestrainer sei er zu Objektivität und Neutralität verpflichtet, das wolle man unbedingt respektieren. Wenn es seine Zeit erlaubt, kommt der beliebte und geachtete Coach in die Halle. Auch die A- und B-Jugendlichen nimmt er hin und wieder unter die Lupe. „Und über seine Brüder“, bestätigen Houlet und Kammer, „weiß er sowieso ziemlich genau, was hier passiert.“