Im Dienste der Zivilgesellschaft (Teil 2)

Christiane Greifenstein kann sich noch bestens an die Anfänge erinnern. Im Jahre 1991 fehlten im südhessischen, knapp 25.000 Einwohner zählenden Weiterstadt etwa einhundert Plätze in einer Kindertagesstätte (Kita).

Sportvereine dienen auch im Bereich der Kinderbetreuung als gesellschaftliche Stütze. Copyright: picture-alliance
Sportvereine dienen auch im Bereich der Kinderbetreuung als gesellschaftliche Stütze. Copyright: picture-alliance

Ob dieser unbefriedigenden Situation war der damalige Bürgermeister auf den Vorstand der Sport-Gemeinde 1886 zugegangen und hatte gefragt: Wie ist es, wollt Ihr nicht die Trägerschaft über eine Kita übernehmen? „Das war der Anfang, so ging es los“, erinnert sich die 51jährige „Frau der ersten Stunde“ an das Startsignal und die anfängliche Skepsis. Dass ein Sportverein eine Kita und 90 Kinder im Alter zwischen 3 und 6 Jahren und Jahren unter seine Fittiche nimmt, war damals ein Novum und wurde entsprechend argwöhnisch betrachtet. Genau genommen sei das Projekt „umstritten gewesen“, sagt Christiane Greifenstein im Rückblick. Ziehen die sich jetzt unter dem Dach der SG ihre eigene leistungssportliche Elite groß? Können die überhaupt pädagogisch mit Kindern umgehen? Diese und andere Vorbehalte hatten die Anfänge begleitet, sie sind aber längst verstummt.

Nun, 18 Jahre später, existiert die anfängliche Skepsis nur mehr in den Erinnerungen an die Anfänge dieser Kita in Vereinsregie und damit in der Besinnung auf die Wurzeln dieses seinerzeit neuartigen Strukturelements für die Betreuung und Erziehung von Kindern. Im Gegenteil besuchten mittlerweile Gäste aus Ägypten, China und anderen Ländern die Kita der SG Weiterstadt, um ein Modell „created in germany“ zu studieren, das international vorbildlich und Beispiel gebend ist. „Unsere Türen für Hospitanten und Interessenten stehen weit offen. Wir freuen uns über das Interesse“, erklärt die gelernte Erzieherin Christiane Greifenstein ihr eigenes und das Credo der insgesamt 17 Kita-Beschäftigten.

Die konzeptionellen Eckdaten sind bis heute praktisch unverändert. Den Rahmen bildet ein Vertrag, in dem die SG Weiterstadt mit der Kommune regelt, dass die Stadt die laufenden Betriebskosten übernimmt. Betreut werden insgesamt 90 Kinder in vier Gruppen, wobei es drei Gruppen mit jeweils 25 Kids gibt. Hinzu kommt eine integrative Gruppe mit 15 Kindern, wovon fünf behindert sind. Geöffnet ist der Sportkindergarten werktags von 7.00 Uhr bis 17.00 Uhr und selbstverständlich wird in der Tageseinrichtung auch für die Verpflegung der Kleinen gesorgt.

Zwei Stunden Bewegung täglich als Minimum

Die Besonderheit: Zum Personal gehört die fest angestellte Sportpädagogin Christina Kravitz, die Gruppen übergreifend arbeitet und auf professionelle Weise das besondere Profil der Kita prägt. Flankierend haben drei der Erzieherinnen eine Übungsleiter-Lizenz erworben, darunter auch Christiane Greifenstein. „Für die Kinder gibt es hier täglich Bewegung in irgendeiner Form“, berichtet sie. Sei es nun die allmorgendliche „Bewegungsfreizeit“ auf dem Flur oder der anschließende gezielte Gang in eine der zur Verfügung stehenden Sport- und Schwimmhallen.

Auf diese Weise werde garantiert, dass täglich zwei Stunden körperliche Bewegung für die Drei- bis Sechsjährigen „zum Mindeststandard“ gehören, unterstreicht Christiane Greifenstein und verweist auf die Wechselbeziehung zwischen dem vielseitigen und täglichen Sportangebot und deren Einfluss auf die motorische, soziale, emotionale und kognitive Entwicklung der Kids. Bewegungserziehung ist kein Inhalt wie jeder andere, sondern eine Methode, die Erziehungs-ziele, die der Kindergarten generell hat, auf kindgemäße Weise umzusetzen“, skizziert die Website der SG Weiterstadt das zentrale Moment, auf das sich natürlich auch alle anderen Kitas in Trägerschaft des organisierten Sports berufen können und sich zu eigen gemacht haben. Sport und Bewegung sind in diesen in Regie des Sports geführten Einrichtungen kein schmückendes Beiwerk, sondern ziehen sich für die Mädchen und Jungen als roter Faden durch den Tagesablauf und gehören hier wie selbstverständlich zum Kita-Alltag.

Voraussetzung sei, „dass bei den Vereinen die entsprechenden Räumlichkeiten vorhanden sind, um den Kita-Kindern überhaupt so ein vielfältiges Sportangebot unterbreiten zu können“, betont Edgar Toth vom Trägerverein der Kita „HorT 16“, die von der Hamburger Turnerschaft 1816 betrieben wird. Ohne das Drei-Generationen-Haus und die dazugehörigen Sporteinrichtungen, über die der 5.500 Mitglieder starke Verein aus dem Stadtteil Hamm im Hamburger Osten verfügt, würde dem konzeptionellen Ansatz für die eigene Kita mit derzeit 20 Kindern im Alter von 3 bis 6 Jahren die Basis fehlen. Aus Sicht von Toth könne dieses Modell „nur dank weitsichtiger Investitionen in die Infrastruktur“ funktionieren. Diesen Punkt berührt in ihrem Rückblick ebenfalls Christiane Greifenstein. Die Erfolgsgeschichte seit 1991 habe ihre Kita wesentlich auch dem neuen Sportzentrum zu verdanken, das die SG seinerzeit baute. Der Neubau sei für das pädagogische Projekt „ein Glücksfall“ und gewissermaßen der Geburtshelfer.

„Startschuss für lebenslanges Sporttreiben“

Von dem sicheren und bewährten Fundament aus denkt man nun weiter und hat unter dem Dach der SG gerade die neue Abteilung „Kindersport“ gegründet. Hier sollen möglichst viele jener Kinder aufgefangen werden, welche der Kita entwachsen und alt genug für die Grund-schule sind, jedoch noch zu jung, um sich auf eine bestimmte Sportart und damit eine bestimmte Abteilung festzulegen. Mit Hilfe des Ressorts „Kindersport“ sollen in Weiterstadt die 6- bis 10-Jährigen nach ihrer Zeit in der „Sport-Kita“ nicht in ein Loch fallen und der SG verbunden bleiben können, bis die Spezialisierung als Fußballer/-in, Leichtathlet/-in oder Tischtennisspieler/-in einsetzt bzw. abgeschlossen ist.

Auf diese Weise die einmal entstandene räumliche und emotionale Nähe der Kita-Kinder zu „ihrem Verein“ beim Übergang in die Grundschule zu gewährleisten, sprich: die „Sport-Kita“ in Regie des Vereins nicht isoliert, sondern als erstes Glied in einer hoffentlich langen Kette zu betrachten, das entspricht ebenfalls den Intentionen des Hamburgers Edgar Toth. Selbst-verständlich müsse es in diesen speziellen pädagogischen Einrichtungen zuallererst darum gehen, den „Startschuss für lebenslanges Sporttreiben“ zu geben. Parallel dazu sollten bei Kindern und Eltern die Weichen für eine möglichst dauerhafte Bindung an jenen Verein gestellt werden, unter dessen Obhut sich die betreffende Kita befindet. Genau auf diese beiden Seiten zielen einerseits Neugründungen wie die Abteilung „Kindersport“ in Weiterstadt und andererseits zunehmende Vernetzungen von „Sport-Kitas“ mit „Nachfolgeeinrichtungen“, die sich dem Sport betonten konzeptionellen Ansatz ebenso verpflichtet sehen und ihn weiter tragen. Im Ergebnis entstehen eine neue Qualität und womöglich ein ganzer Verbund von Erziehungs- und Betreuungseinrichtungen, wie die Beispiele des ASC Göttingen oder des ATV Frankonia Nürnberg zeigen und eine eigene Betrachtung wert sind.

Berliner Sportjugend als Lokomotive

Für eine völlig neue Qualität in Sachen „Sport-Kitas“ sorgte ebenfalls die Sportjugend Berlin, indem sie in den vergangenen Jahren sukzessive 21 Kindertagesstätten vom Land Berlin unter ihre Fittiche nahm. Damit werden derzeit unter dem Dach der für diesen Coup gegründeten Trägergesellschaft rund 2.500 Mädchen und Jungen im Alter von wenigen Monaten bis zum 6. Lebensjahr vom organisierten Sport in Berlin betreut. „Auf diese Weise können wir unser Konzept von der bewegungsfreundlichen Kita nun in eigener Regie optimal in die Praxis umsetzen“, erklärt Heiner Brandi von der Sportjugend Berlin, warum die Organisation sofort die Hand gehoben hatte, als das Land Berlin ab 2003 zwei Drittel seiner Kitas in freie Trägerschaften übergab. Als Referent für Jugend beim Landessportbund Berlin ist Brandi nun in Personalunion zugleich einer von zwei Geschäftsführern des Gemeinnützigen Trägervereins „Kinder in Bewegung“ mit aktuell etwa 400 Beschäftigten – in der Hauptsache Erzieherinnen..

Für die Großoffensive war der hauptstädtische Sport bestens gerüstet. Ja, man hatte die Übernahme der Kita sogar unwissentlich vorbereitet, indem 1999 das Programm „Kleine kommen ganz groß raus“ startete. Dabei wurden Kooperationen zwischen etwa 160 Berliner Kitas mit rund 140 Sportvereinen organisiert, um „Angebote zur spielerischen Förderung der Bewegung“ an die Kinder heranzutragen, wie Brandi berichtet. Die Kita-Kinder profitierten inhaltlich von dem Programm und auch den beteiligten Vereinen bekam es bestens. Der Anteil von jungen Mitgliedern im Vorschulalter kletterte von zirka 13.000 Mitgliedern im Jahr 1999 innerhalb von zehn Jahren auf über 28.000.

„Wir wussten ganz genau, worauf wir uns einließen“

„Dieses Programm war für uns eine ganz wichtige Erfahrung, um später Bereitschaft zu signalisieren, Kitas auch in unsere eigene Trägerschaft zu übernehmen“, blickt Heiner Brandi zurück. „Auf diese Weise hatten wir schon viele Erkenntnisse und Erfahrungen mit den besonderen Strukturen in den Kitas und bei der Vernetzung mit den Sportvereinen gewonnen. Wir wussten also ganz genau, worauf wir uns einließen“. Ungeachtet dieser guten Start-bedingungen galt der Berliner Sport natürlich als „absoluter Neuling“ auf dem Gebiet der Kita-Betreuung in eigener Regie. Umso größer die Genugtuung für die Sportjugend, als ihrem Konzept auf Anhieb vier Kitas den Zuschlag gaben. Und das, obwohl zugleich andere Organisationen und potentielle Träger um die Kitas warben und sich der Sport „damals in einer echten Wettbewerbssituation mit anderen befunden hat“. Ein weiterer Beleg für den Vertrauens-vorschuss, der in den folgenden Jahren nicht enttäuscht werden sollte: Rund 80 Prozent des Kita-Personals entschied sich, das Projekt mit dem neuen Träger aus dem Sport mitzugehen. Wobei Brandi ausdrücklich darauf hinweist, dass Sport und Bewegung nach dem Motto „Körper – Bewegung – Gesundheit“ zwar das Profil in den 21 Einrichtungen bestimmte, aber deswegen die mathematisch-naturwissenschaftlichen, musisch-ästhetischen und andere Inhalte nicht zu kurz kommen, die vom Berliner Bildungsprogramm für die Kinderbetreuung zwingend vorgeschrieben werden.

Die beste Bestätigung für den „Berliner Weg“ liefern die Eltern, die bei den Sport-Kitas Schlange stehen. Von „Aufnahmestopp“ ist zu hören. Mehr als die derzeit 21 Einrichtungen sollen jedoch nicht unterm Dach der Trägergesellschaft versammelt werden. „Wir wollen uns nicht über-nehmen. Wir wollen unsere schlanke Verwaltungsstruktur beibehalten“, sagt Brandi, „unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten haben wir jetzt eine optimale Größe erreicht.“

Gütesiegel garantiert gleiche Inhalte bei anderen Trägern

Statt auf noch mehr „eigene Kitas“ zu setzen, gehen die Bemühungen der Berliner verstärkt dahin, im Sinne der Ursprünge des Programms „Kleine kommen ganz groß raus“ andere Träger mit dem „Sport- und Bewegungs-Gen“ zu infizieren. Ganz in diesem Sinne hat der Landessport-bund in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2000 ein spezielles Gütesiegel für Kindergärten und Kindertagesstätten kreiert. Frei nach der Devise, dass es nicht zuerst darauf ankomme, in welcher Regie diese Einrichtungen betrieben werden, sondern auf die sport- und bewegungs-freundlichen Inhalte und deren Verankerung in den Konzeptionen der Kitas, wurde das Qualitätssiegel bereits rund 300 Mal vergeben.

Eines der unerlässlichen Kriterien für einen „Anerkannten Bewegungskindergarten“ in NRW: Die betreffende Einrichtung muss mit einem Sportverein vor Ort eng kooperieren. „Ohne diese Partnerschaft ist es unmöglich, das Siegel zu bekommen“, erklärt Ulrich Beckmann, Referent beim LSB in Nordrhein-Westfalen zum strategischen Konzept „gleiche Inhalte, andere Träger“. Schließlich wäre ja fatal, wenn Sport und Bewegung bei den Kleinen nur dort groß geschrieben würde, wo der organisierte Sport die Kitas als Hausherr unter seinen Fittichen hat.


  • Sportvereine dienen auch im Bereich der Kinderbetreuung als gesellschaftliche Stütze. Copyright: picture-alliance
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