Im Dienste der Zivilgesellschaft (Teil 5)

Für einen winzigen Moment blickt die zehnjährige Annalena, immerhin deutsche Schüler-meisterin im Rollkunstlaufen, vor der Eingangstür der Freiburger Sportgrundschule etwas traurig zu ihrer vier Jahre jüngeren Schwester Julia.

Sportvereine dienen auch im Bereich der Kinderbetreuung als gesellschaftliche Stütze. Copyright: picture-alliance
Sportvereine dienen auch im Bereich der Kinderbetreuung als gesellschaftliche Stütze. Copyright: picture-alliance

Für die Kleinere ist der Weg zu dieser ganz speziellen Bildungseinrichtung, die von der Freiburger Turnerschaft (FT) 1844 betrieben wird, deutlich vorgezeichnet. „Bei mir ging das nicht. Ich bin dafür schon etwas zu alt“, sagt Annalena. Als das Mädchen eingeschult wurde, existierte die bundesweit einzige Schule dieser Art noch nicht. Die Sportgrundschule in der Schwarzwaldstraße öffnete ihre Pforten mit Beginn des Schuljahres 2007/2008. Inzwischen lernen in der Schwarzwaldstraße 181 insgesamt 66 Mädchen und Jungen in drei Klassen mit durchschnittlich 22 Kindern. Betreut werden sie von zwölf hoch qualifizierten Lehrerinnen und Lehrern sowie drei pädagogischen Assistenten, die sämtlich beim Verein angestellt sind.

Die Namensliste mit den interessierten Eltern, die ihren Nachwuchs für das nächste Schuljahr anmelden möchten, ist schon jetzt lang, wie Schulleiter Günther Giselbrecht nach dem „Tag der offenen Tür“ berichtet. Die „Vorreservierungen“ reichen bereits bis ins Jahr 2013. Allein dies verdeutlicht: Diese einzigartige Grundschule hat den Status eines „Versuchsobjekts“ längst hinter sich gelassen, sie gehört in Freiburg mittlerweile wie selbstverständlich zum Schulsystem.

„Fassungslos, dass es heute eine Schule wie diese gibt“

Das Ehepaar Vetter, das an diesem Tag mit Sohn Luis in den Freiburger Osten kommt, ist von dem Konzept schnell überzeugt. Überlegen müssen die Beiden nur noch, ob sie den viereinhalbjährigen Luis bereits im nächsten Jahr an der Sportgrundschule einschulen lassen oder doch lieber noch bis 2011 damit warten. „Ansonsten haben wir uns entschieden. Die Kombination von Unterricht und Bewegung wird hier optimal umgesetzt“, erklärt Matthias Vetter. Der Vater findet es zeitgemäß, dass die Grundschule im Ganztagsbetrieb „das Pensum für die Kinder gut verteilt“ und das sportliche Element in einem Umfang berücksichtigt, der zwischen Bodensee und den Halligen seinesgleichen sucht. Allein der Sportunterricht umfasst pro Woche neun Stunden. Wenn ein Kind nach der 4. Klasse diese Grundschule verlässt, dann hat es in der offiziellen Sprache des Schulwesens „36 Wochenstunden“ absolviert. Der Unterricht in Mathematik umfasst – über die gesamte Grundschulzeit betrachtet – insgesamt 19 Wochenstunden“.

„So viel Sportunterricht gab es noch nie zuvor für Schüler der Klassen 1 bis 4“, sagt Günther Giselbrecht. Das sind Maßstäbe, die sich zumindest in der Region schnell herumgesprochen haben. Der Radius des Einzugsgebietes bewegt sich bei rund 50 Kilometern, von Sexau im Norden bis Bad Krozingen im Süden und Titisee-Neustadt im Osten.

Manche Besucher sind geradezu sprachlos. „So etwas ist ja fast nicht zu glauben“, fasst Monika Müller ihre Eindrücke zusammen. Die 70-Jährige wollte an diesem Tag einmal sehen, wo Enkelsohn Joshua zur Schule geht und scheint überwältigt. „Wenn ich bedenke, wie wir damals als Kriegskinder in viel zu engen Bänken und auf winzigen Stühlchen sitzen mussten. Ich bin beinahe fassungslos, dass es heute eine Schule wie diese gibt“, sagt die ältere Dame, während Mutter Petra Weißbach mit Töchterchen Malena aus der ersten Klasse herein kommen. Beide hatten sich beim „Tag der offenen Tür“ im vorigen Jahr gemeinsam für die FT-Sportgrundschule entschieden und den Entschluss nicht bereut. „Mir macht das alles viel Spaß“, sagt die Siebenjährige. Sie denke nicht an Olympiasiege oder große sportliche Erfolge. Sie möchte einfach nur „zusammen mit den anderen Kindern viel Sport“ treiben, sagt das Mädchen und berichtet von seinen Erlebnissen im gerade zu Ende gegangenen Projektkurs Trampolinspringen. Im neuen Jahr lernt die erste Klasse im Rahmen eines neuen Themenschwerpunktes die Sportart Judo kennen.

Für die Mutter ist wichtig, dass der sportliche Umfang nicht zu Lasten des obligatorischen Lehrplans geht. „Beide Seiten kommen zu ihrem Recht. Das ist der Unterschied zu einer freien Schule“, sagt Petra Weißbach. Zudem sei sie froh, ihre Tochter täglich zwischen morgens 8 Uhr und nachmittags 16 Uhr einschließlich Mittagsversorgung, Hausaufgabenhilfe und Freizeitprojekten bestens betreut zu wissen. Ein Kriterium, das gerade berufstätige Eltern neben all den anderen Vorzügen der Sportgrundschule sehr zu schätzen wissen. Dafür sind sie bereit,  monatlich 350 Euro Schulgeld zu berappen.

Stundenplan mit viel Bewegung und ein paradiesisches Umfeld

Das spezielle Profil der FT-Bewegungsgrundschule ist im Stundenplan verankert. Bewegung steht da schon für die Zeit zwischen 8 Uhr und 8.15 Uhr geschrieben, bevor der eigentliche Unterricht beginnt. Zwischen 9.45 Uhr und 10.15 Uhr heißt es „Vesper und Aktivpause“, die Viertelstunde zwischen 11.45 Uhr und 12.00 Uhr ist als „Bewegungspause“ ausgezeichnet. Auch darüber, wie selbst im Rahmen des Unterrichts – etwa nach dem im Vor- und Grundschulalter schon vielfach bewährten Konzept „Zahlenland“ in Mathematik – laufend „bewegliche Einheiten“ eingestreut und über diese „motorische Brücke“ Wissen in verschiedensten Fächern vermittelt wird, informierte Günther Giselbrecht beim „Tag der offenen Tür“ ausführlich. Eher leicht verständlich kommen die im Stundenplan dick rot unterlegten Standardtermine für den Sportunterricht daher. Neben den neun Stunden pro Woche für jede Klassenstufe wird einmal wöchentlich 90 Minuten lang geschwommen, und als Kontrapunkt gibt es Yogastunden.

Zum vereinseigenen Bad im „FT-Sportpark“ ist der Weg dabei ebenso kurz wie zu allen anderen Sportstunden. Insgesamt zehn Hallen und Sportanlagen des Großsportvereins stehen den Kleinen zur Verfügung, die allesamt nur ein paar Meter voneinander entfernt sind. Dasselbe gilt für das Mittags-Restaurant. Was Kegelbahn, Dreifeldhalle, kleine Turnhallen, Rollkunstlaufbahn, Schwimmbad, eigene Judo- oder Tischtennis-Halle und die Außenanlagen anlangt, spricht Giselbrecht von einem sportlichen „Schlaraffenland“. Über ein Gesamtareal von etwa 55.000 Quadratmetern verfügt der mit 6.500 Mitgliedern größte Sportverein in Südbaden an der Schwarzwaldstraße in unmittelbarer Nähe des Olympiastützpunktes und einiger anderer Vereine. Etwa 5.000 Quadratmeter der FT-Flächen sind überbaut.

Für Spielschule, Ballschule, musisch-rhythmische Bewegungsschule, Lauf-, Wurf- und Sprunglehre, Turn- oder Schwimmschule als feste Bestandteile des Unterrichts existieren erstklassige Bedingungen. Dasselbe gilt für spezielle Schwerpunktsportarten wie Skisport, Klettern, Yoga, Karate, Trampolinspringen, Judo, Tischtennis, Tanzen oder (Eis)Hockey, in denen sich die Freiburger Sportgrundschüler innerhalb verschiedener Projektphase und in Kooperation mit den verschiedensten Abteilungen des Großvereins und externer Partner versuchen dürfen.

Bewegungstalent ist keine Voraussetzung

„Das ist ja für die Schüler fast ein Überangebot an Möglichkeiten“, sagt ein Vater verblüfft und argwöhnt, die Schule in einem derart prächtigen Umfeld müsse zwangsläufig auf die Heranbildung künftiger Olympioniken und Weltmeister ausgerichtet sein. Die Talentfindung für den Leistungssport sei zwar „ein Thema“, sagt der 53-jährige Günther Giselbrecht, der die FT-Schwimmhalle während seines Studiums und der Ausbildung zum Gymnasiallehrer für Sport und Mathematik kennenlernte. „Aber wir laufen nicht herum wie die Späher und halten ständig Ausschau nach besonders talentierten Kindern.“ Soll heißen: Bei so viel Sport gerate die Entdeckung gewissermaßen zum natürlichen Nebenprodukt. Und natürlich werde man in solchen Fällen nicht die Augen verschließen, sondern eine „optimale Förderung“ in die Wege zu leiten versuchen. Prinzipiell jedoch gilt, was auf einer der Informationstafeln für jedermann deutlich zu lesen steht: „Die Sportgrundschule bietet sowohl Bewegungstalenten als auch Kindern, die noch keinen sicheren Zugang zu Sport und Bewegung finden konnten, eine passende schulische und sportliche Heimat.“

„Jedes Kind ist uns willkommen“, versichert Giselbrecht. Das gelte für agile und sehr aktive Mädchen und Jungen ebenso wie für verhaltenere Kinder, die bislang nicht unbedingt als „Bewegungstalente“ auffällig geworden sind. Schließlich gehe es nicht um sportliche Leistungen, sondern um die Lust an der Bewegung und selbstverständlich um die natürlichen sozialen Kompetenzen und jene, die Sport und Bewegung in Unterricht und Schule für die Vermittlung und die Aufnahme von Wissen mitbringen und pädagogisch wertvoll ausgenutzt werden müssten. Mit dieser Philosophie sollen zugleich Ängste von Eltern zerstreut werden, dass ihre Kinder den sportlichen Anforderungen der FT-Grundschule womöglich nicht gewachsen sein könnten. Dass eine 40-Stunden-Woche mit so viel Bewegung die Kleinen überfordern könnte, sei der Einwand, mit dem er „am meisten konfrontiert“ werde, sagt Giselbrecht. Ganz im Gegen-teil sei „Ganztagsschule ohne Bewegung unmöglich und im Übrigen auch nicht kindgerecht“.

Innovationen und Herausforderungen als FT-Markenzeichen

Nicht zuletzt dieser Hinweis überzeugte auch das baden-württembergische Kultusministerium. Erst das „Ja-Wort“ aus Stuttgart erlaubte der Freiburger Turnerschaft von 1844, ihr Modell in die Praxis zu überführen. Noch immer schwärmt Giselbrecht von der „tollen Resonanz“ bei Ministerium, städtischen Behörden sowie Vorstand und Mitgliedern des Gesamtvereins. Ohne dieses Zusammenspiel wäre es nicht möglich gewesen, das „sport- und schulpädagogische Novum“ am Ufer der Dreisam zu etablieren. Wobei die FT-Sportgrundschule seit ihrer Gründung einen Balanceakt übt: Einerseits darf sich das Pilotprojekt nicht zu weit von den Maßstäben der landespolitischen Bildungspolitik und den Vorgaben des Ministeriums entfernen. Andererseits muss das Profil so weit und überzeugend vom Standard abweichen dürfen, dass der FT-Einrichtung der Status als „beispielhafte private Grundschule“ zugesprochen werden konnte.

Damit verbunden waren wirtschaftliche Konsequenzen, denn die ersten drei Jahre ihres Betriebes muss die Schule ohne staatliche Förderung auskommen. Erst vom Schuljahr 2010/2011 an werden Beihilfen fließen, wie sie jede andere Grundschule für sich in Anspruch nehmen darf. Entsprechend musste sich der Gesamtverein finanziell verhalten. Etwa 700.000 Euro wird die FT als Vorleistung in ihre eigene Grundschule stecken, die auf knapp 600 Quadratmetern in mehreren Containern untergebracht ist. Die Investition ist ein Zusammenspiel aus den wirtschaftlichen Möglichkeiten des Freiburger Großvereins und der traditionellen „Offenheit der Mitglieder für eine solche Idee“, wie Günther Giselbrecht sagt.

Für die FT wäre es ein Leichtes gewesen, ein finanziell schmaleres und organisatorisch weniger aufwändiges Model aus der Taufe zu heben. Angesichts der günstigen Rahmenbedingungen, der Zukunftsfähigkeit des Konzepts und der Verantwortung für den Nachwuchs hat man sich für den „großen Wurf“ entschieden. Wer sonst als ein Großverein mit seinen Ressourcen würde sich im Bereich des Sports besser für so einen Kraftakt eignen?

Die Sportgrundschule ist nicht das erste FT-Modell in der deutschen Sportlandschaft. Schon 1972 wurde unter dem Dach des Vereins der erste Sportkindergarten begründet, in dem heute in zwei Stadtteilen in 16 Gruppen rund 340 Kinder betreut werden. Um die klassischen Halbtagsgruppen entstanden im Laufe der Zeit Ganztagsangebote, Gruppen für Zwei- und Dreijährige sowie zwei integrierte Gruppen zur Betreuung von behinderten Kindern. Vor 21 Jahren war es ebenfalls die Freiburger, die bundesweit als Sportverein die erste große „Gesundheitswoche“ veranstalteten. Nun haben sie mit der bewegten Grundschule abermals Neuland beschritten. „Wir wollen zeigen, wozu der Sport imstande und was er heutzutage leisten kann, ja leisten muss“, unterstreicht der Schulleiter. Das Urteil des Pädagogen über das Potential des Sports fällt eindeutig aus. „Es ist großartig, was Sport und Bewegung zu leisten im Stande sind. Da gibt es wenig Vergleichbares.“

„Provisorium“ soll neuem Schulgebäude mit eigener Großsporthalle weichen

Parallel laufen die Vorbereitungen für ein Ende des Container-Provisoriums. Im Januar 2010 beginnt die Bauplanung für ein neues Schulgebäude an der Schwarzwaldstraße, in dem voraussichtlich im Schuljahr 2011/2012 an der Unterricht beginnen soll. Ob der Neubau sofort für jeweils zwei Klassen von der Stufe 1 bis zur Stufe 4 ausgelegt sein wird, steht noch nicht fest. Klar ist nur, dass die Grundschule im Vollbetrieb zweizügig und für etwa 200 Mädchen und Jungen ausgelegt sein wird. „Darauf zielen alle Planungen ab. Es ist doch großartig zu sehen, wie die neue Schule mit der Zahl der Schüler wachsen wird“, sagt Günther Giselbrecht.

Die Gesamtinvestition der Planungsmodelle wird auf eine Summe zwischen drei und acht Millionen Euro hinauslaufen und beinhaltet zugleich den Bau einer neuen Sporthalle. Schließlich sei das erklärte Ziel, später einmal acht Grundschulklassen zu betreuen und ihnen wöchentlich jeweils neun Stunden Sportunterricht zu garantieren. Also brauche es eine Turnhalle, die allein für die Grundschüler wöchentlich 72 Stunden zur Verfügung steht. „Ohne neue Halle geht das nicht“, sagt der Schulleiter. Es klingt wie: Wenn wir das schon machen, dann richtig!


  • Sportvereine dienen auch im Bereich der Kinderbetreuung als gesellschaftliche Stütze. Copyright: picture-alliance
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