Integration trifft Inklusion

Migranten mit Behinderung: Diese Zielgruppe gibt es im Sport noch kaum. Ihre Präsenz in den Vereinen zu steigern könnte den Weg zur geeinten Gesellschaft entscheidend verkürzen.

Zuwanderungsgeschichte und Behinderung: ein Hindernis für den Sport? (Foto: LSB NRW | Ninja Putzmann)
Zuwanderungsgeschichte und Behinderung: ein Hindernis für den Sport? (Foto: LSB NRW | Ninja Putzmann)

Melek ist 13, hat eine Körperbehinderung und das Glück, eine Förderschule im Rheinland zu besuchen. Ansonsten, darf man mutmaßen, spielte sie nun nicht Rollstuhlbasketball. Denn diese Schule kooperiert mit Behindertensport Oberhausen (BSO), und die Übungsleiter des Vereins nahmen Meleks Mutter die Überzeugung, ihre Tochter könne unmöglich am gemeinsamen Sportangebot teilhaben. „Wir haben sie beim Training zuschauen lassen und sie hat gesehen, wie Melek strahlte. Da war sie einverstanden“, sagt Jörn Derißen, Vorsitzender des BSO. 

Derißen hat mehr solche Geschichten auf Lager, die beinah süßlich erscheinen. Beinah, weil er sie  in eine rheinländisch-flotte, glasklare Rede einbettet, die eben nicht jeden Geschmack treffen soll. Er sagt zum Beispiel: „Wir sind offen für alle. Aber wer extreme Ansichten hat und sich nicht an unsere Regeln hält, dem sag ich: ,Du kannst gehen.' Da ist es mir egal, ob das ein Deutscher ist, eine Türkin, ein Amerikaner oder eine Russin.“  

Der Mann weiß, was er will: Inklusion. Und Integration. Beziehungsweise, dass all die Begriffsdebatten überflüssig werden, weil es nicht interessiert, ob einer eine Behinderung hat oder eine aus einem anderen Land stammt. Der Name von BSO – das Wort „Behindertensport“ - ist reine Tradition. Natürlich gehören dem Verein auch Nichtbehinderte an. 

Solch kompromissloses Verständnis von Miteinander ist selten in Deutschland, auch im Sport: Die Ansprache von Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen mit Behinderung funktioniert normalerweise separat. Niemand weiß, wie viele organisierte Behindertensportler zugewandert sind respektive nichtdeutsche Eltern haben. Klar, einige Namen sind bekannt, gerade in der  Leichtathletik. Heinrich Popow, Woitek Czyz, mit Abstrichen Alhassane Baldé und Diskuswerfer Ali Ghardooni. Aber Zahlen oder einen scharfen Gesamteindruck, sagt Jörg Frischmann als Geschäftsführer Behindertensport des Großvereins Bayer Leverkusen, „hat meines Wissens nach niemand“. 

Der kleinere Unterschied 

Das hat mindestens zwei gute Gründe. Genau ist die Herkunft der Mitglieder für Vereine sowieso nicht feststellbar; sie könnten nur schätzen. Und zweitens: Der Drang ist wohl schon deshalb gering, weil die Frage kultureller Herkunft in diesem Umfeld nachrangig ist - höchstens. Frischmann, einst paralympischer Spitzenathlet, sagt: „Als Mensch mit Behinderung ist man es gewohnt, anders betrachtet zu werden. Man achtet selbst weniger auf äußere Unterschiede.“ Derißen führt das weiter: „Die Kraft des Behindertensports in der Integration ist: Wir hatten von Beginn an einen sozialen Auftrag. Bei uns ist es vollkommen egal, ob Dir ein Bein fehlt, Du eine geistige Behinderung hast, woher Du kommst oder welche Sprache Du sprichst. Wenn Du gemeinschaftlich Sport treiben willst, bist Du herzlich willkommen.“ 

Freilich: Um diese Kraft zu entfalten, muss man die Betreffenden erstmal erreichen. Das erfordert – zunächst – eine gesonderte Ansprache, meint Halil Polat. „Es geht nicht um Parallelstrukturen, sondern um eine Einbindung in Stufen. Zunächst muss ich die Menschen sensibiliseren und informieren“, sagt der Diplomsonderpädagoge, der die Geschäfte von UMUT führt. Der eingetragene Verein in Hannover berät und fördert Migranten mit Behinderung, und Polats Eindruck aus Kontakten zu Verbänden und Vereinen aller Art ist keiner von selbstverständlicher Offenheit. 

Über den Sport im Speziellen kann er nichts sagen. UMUT besteht seit 1996, entsprechende Anfragen der Mitglieder gab es noch nicht. Genaueres Hinschauen macht das erklärbar. Natürlich kennen die allermeisten Migranten andere Zustände als in Guinea, Geburtsland des Rollstuhlrennfahrers Alhassane Baldé, der dort „wohl nicht überlebt hätte“ (siehe Interview des Monats); aber flächendeckende Therapieangebote, eine durchdeklinierte Behindertensportstruktur, eine verbreitete Inklusionsidee fehlen in vielen Ländern. Halil Polat sagt über die UMUT-Mitglieder, die mehrheitlich aus der Türkei stammen: „Viele wissen schon deshalb nicht, was sie in Anspruch nehmen sollten, weil sie das entsprechende Angebot nicht kennen.“ Hinzu kann die sprachlich-kulturelles Hürde kommen respektive eine Scheu vor Behördenhaftem. „Viele Menschen haben Angst, Mitglied in einem Verein zu werden. Nicht nur wegen des Geldes, sondern weil sie nicht wissen, was sie erwartet. Das betrifft sogar UMUT selbst.“ 

Integration ist ein komplexer Prozess der Bewegung auf zwei Seiten. Das von Polat eingeforderte Angebot ist das eine, die Nachfrage etwas anderes. Der Behinderten Sportverband Niedersachsen (BSN) organisiert 800 Vereine und Abteilungen mit rund 70.000 Aktiven, darunter „selbstverständlich viele Menschen mit Behinderung, die einen Migrationshintergrund mitbringen“, so Harald Will, Verantwortlicher für Aus- und Fortbildung. Die Zielgruppe sei, „zumindest am Rand“, ein Thema für den Verband. So habe die „Zukunftswerkstatt“, eine BSN-Arbeitsgruppe für Grundsatzfragen, die Notwendigkeit definiert, „dass wir irgendwann  Ausbildungskurse speziell für Menschen mit Migrationshintergrund anbieten“ - noch, ergänzt er, „scheint der Bedarf nicht so hoch zu sein, dass ein solcher Kurs zustande kommen würde“. 

MIT MACHT FÜR MÄDCHEN

Es braucht wohl die Basis. Gerade um jene Menschen zu erreichen, die „drei- oder vierfach benachteiligt sind“, wie Polat sagt, je nach Aufenthaltsstatus zum Beispiel und Geschlecht. So sind sich gerade Musliminnen und Vereinssport noch ziemlich fremd. Sie bilden die Hauptzielgruppe nicht nur des IdS-Netzwerkprojekts „Mehr Migrantinnen in den Sport“, sondern auch einer Initiative, die für die Entwicklung von BS Oberhausen zu einer integrativ-inklusiven Organisation entscheidend war. 

Seit 2008 kooperiert der Verein mit „Sport Interkulturell“, ein Projekt der Stiftung Mercator und der Sportjugend Nordrhein-Westfalen. Er bot – Prinzip „von hinten herum“, laut Derißen – zunächst Schwimmstunden speziell für Migrantinnen an, mit und ohne Einschränkung. Daraus ist, durchaus gegen Widerstände und unter gezielter Einbindung der Familien, ein Strauß an Angeboten entstanden, inklusive einer leistungsorientierten Gruppe: Die „Swimmies“ werden von sechs Trainer(inne)n angeleitet und übergreifen Kulturen, Geschlechter, Behinderte und Nichtbehinderte. Obwohl der BSO aus Sicherheitsgründen den Ganzkörperbadeanzug verbietet, schwimmen bei ihm auch muslimische Frauen, teils in einer kulturgemischten Gruppe. „Zwei, drei sind abgesprungen, die meisten sind geblieben“, sagt der Vorsitzende. 

Das Gemeinsame betonen, darum geht es. Halil Polat hat mit UMUT schon ein Bewegungs- und Rhythmikangebot gemacht, ohne großes Echo. Die Organisation hat Räumlichkeiten und die Verbindung zur Zielgruppe, aber keine Übungsleiter und geringe finanzielle Möglichkeiten. Eine Kooperation mit einem Sportverein, das wäre die Lösung, findet der Niedersachse. Tatsächlich könnte damit allen geholfen sein: Den beiden Vereinen, Migranten mit Behinderung. Und der Gesellschaft.

(Quelle: DOSB / Nicolas Richter)


  • Zuwanderungsgeschichte und Behinderung: ein Hindernis für den Sport? (Foto: LSB NRW | Ninja Putzmann)
    Zuwanderungsgeschichte und Behinderung: ein Hindernis für den Sport? (Foto: LSB NRW | Ninja Putzmann)