Kati Witts Erben zwischen Kufenkunst und Kostendruck

Der vierte Teil der Serie Stars und ihre Vereine: Beim Bau der Chemnitzer Trainingshalle in den 60er Jahren wurde das Dach besonders ausladend gestaltet.

Seitlich der Eisfläche ragt die waagerechte Konstruktion weit hinüber, so dass unten neben der Bande reichlich Raum für Umkleidekabinen entstand und genau darüber viel Platz fürs Trockentraining. Das Areal im Obergeschoss mit freiem Schrägblick aufs Eis gleicht einem Turnsaal. Gleich mehrere junge Eiskunstläufer des Chemnitzer Eislauf-Clubs (CEC) haben Barren, Sprungspferde und andere Geräte in Beschlag genommen. Einige traben auf der 70 Meter langen Tartanbahn auf und ab. Nebenan, hinter einer Wellblechverkleidung, befindet sich der Ballettsaal mit großer Spiegelwand. Vor ihrem künstlerisch-eleganten Auftritt auf dem glatten Parkett steht für die kleinen und großen Einzel- und Paarläufer und Eistänzer die harte Arbeit mit drei Konditionstrainern und drei Ballettmeistern, darunter eine Primaballerina aus St. Petersburg.

Unterm Dach wird in Schweiß treibender Arbeit von morgens bis abends dafür gesorgt, dass Kurzprogramme und Küren auf dem glitzernden Untergrund später wunderbar locker, leicht und grazil aussehen und die Preisrichter möglichst hohe Noten zücken. Seit den Zeiten, als Olympiasiegerinnen wie Katarina Witt (1984/1988) und Anett Pötzsch (1980) oder Weltmeister Jan Hoffmann (1974/1980) in dem Holz verkleideten Obergeschoss turnten und manche Qualen vor dem Spiegel ausstanden, hat sich auf den ersten Blick kaum etwas geändert. Wie eh und je begegnen sich auf der Empore Anfänger, Fortgeschrittene sowie  prominente Athleten bei turnerischen, gymnastischen oder tänzerischen Übungen. Aktuell sind die Paarlauf-Weltmeister Aljona Savchenko und Robin Szolkowy das größte Aushängeschild. Nobodys und Stars treten zur Aufwärmung auch schon mal gemeinsam gegen den Ball.

Das äußerliche Bild trügt, die Zeit ist hier keineswegs stehen geblieben. Im Gegenteil hat es dramatische Veränderungen gegeben. Nicht nur die einst weltweit erfolgreichste Eiskunstlauf-Abteilung des Sport-Clubs Karl-Marx-Stadt gibt es nicht mehr. Vorbei sind zugleich die Zeiten, da in der sterilen Trainingshalle und nebenan in der mit Sitzreihen ausgerüsteten Wettkampf-Eishalle Leistungssport nach DDR-Muster in Reinkultur zelebriert wurde. Trainer und Eiszeiten gab es hier bis 1989 en masse und für den Club zum Nulltarif. Die universelle staatliche Förderung bis hin zu kostenlosen Schlittschuhen gehörte zum Standard wie der Einzelunterricht an der Kinder- und Jugendsportschule und fast 40 Stunden Eistraining pro Woche für die Besten. Im Gegenzug wurde gnadenlos selektiert, bis ausschließlich Weltklasse übrig blieb.

Trainingsbeitrag garantiert neun Stunden Training

„So ist Leistungssport unter den heutigen Bedingungen überhaupt nicht mehr zu machen. Wir mussten uns den veränderten Verhältnissen anpassen“, sagt Klaus Steffan, seit 2005 CEC-Vorsitzender. Der Staatsanwalt, der vor 15 Jahren aus dem Hessischen kam, hat mit Benjamin (13), Jeremias (11), Leah (10) und Samuel (8) gleich vier Kinder im Trainingsbetrieb und ist wie Ehefrau Tania schon deshalb fast täglich im Stadion anzutreffen.

Kati Witts sportliche Erben müssen mittlerweile mit einem Jahres-Etat von rund 120.000 Euro auskommen. Über den Trainingsbeitrag von monatlich knapp über 110 Euro werden den Talenten vom CEC wöchentlich neun Trainingsstunden auf dem Eis, in Athletik und im künstlerischen Bereich garantiert. Das absolute Minimum, um leistungssportliche Entwicklungen voranzutreiben. Ohne zusätzliches Engagement der Eltern als Chauffeure, Friseure, Schneidermeister, Betreuern bei Wettkämpfen ginge gar nichts. Für die Hausaufgaben-Hilfe wurde eigens ein Zimmer in der Eishalle umfunktioniert.

Vor allem die Kosten für die Eisflächen, die der CEC für seine nahezu 100 leistungssportlich orientierten Mädchen und Jungen sowie die etwa 150 Freizeitläufer von der Stadt mieten muss, schlagen gehörig zu Buche. Momentan bezahlt der Verein rund 2.500 Euro pro Monat – 18 Euro die Stunde, ein schon subventionierter Freundschaftspreis. Noch vor wenigen Jahren bewegte sich der Gesamtpreis für die Eiszeiten bei monatlich 400 Mark. Je nach Fortschritten und Kaderzugehörigkeit der Sportler sind Co-Finanziers möglich, so dass Ausgaben für zusätzliche Einheiten – etwa für die derzeit 26 Eiskunstläufer am Chemnitzer Sportgymnasium - vom sächsischen Eislauf-Verband oder vom Olympiastützpunkt bezahlt werden. „Je mehr Landes- oder Bundeskader wir hervorbringen, desto mehr können wir unser eigenes Budget entlasten“, berichtet Schatzmeisterin Ines Eichhorn von einem komplizierten Puzzle, das sich um die Finanzierung von Trainern und Trainingszeiten aus verschiedenen Quellen rankt. Der sportliche Ehrgeiz, auch unter extrem veränderten Verhältnissen nationale und internationale Kufen-Klasse zu entwickeln, wurzelt nicht zuletzt im wirtschaftlichen Kalkül. Anfang 2009 stehen die Namen von fünf Bundes- und 20 Landeskadern in der Bilanz.

Dem Spitzensport verpflichtet, intervenierte der CEC vehement, als die Kommune aus Spargründen die jährliche Eispause in den beiden Eishallen sukzessive auf 14 Wochen ausdehnte. Zwar ging damit ebenfalls ein Spareffekt für den CEC einher, aber nach leistungssportlichen Kriterien war diese lange Auszeit katastrophal. „Wir haben mit der Stadt knallhart verhandelt“, unterstreicht Ines Eichhorn. Im Ergebnis wurde die Pause ab 2007 auf zehn Wochen verkürzt - was immer noch viel lang und für den Neuaufbau der Kürprogramme hinderlich sei. Ideal wären drei Wochen eisfreie Zeit im Frühjahr und drei im Sommer.

Mit 80 Jahren hilft Jutta Müller noch immer

Dass am Bundesstützpunkt Chemnitz trotz allem weiter Medaillenhoffnungen reifen, ist neben hohem ehrenamtlichem Engagement vor allem dem hoch qualifizierten Personal zu verdanken. Meistertrainerinnen wie Jutta Müller, die weltweit erfolgreichste ihrer Zunft, und Monika Scheibe bürgen in Chemnitz nach wie vor für Qualität. Hinzu kommen Kapazitäten wie Ingo Steuer mit Savchenko/Szolkowy als aktuelle Vorbilder. Beachtlich ebenso die Leistung von Trainerin Susan Böhm, die ihre Eistänzer Juliane Haslinger (15) und Tom Finke (18) nach fünfjähriger Zusammen-arbeit erstmals zu den Welttitelkämpfen der Junioren führte, die Ende Februar in Sofia stattfinden.

Jutta Müller, die Ende 2008 anlässlich ihres 80. Geburtstages zur Ehrenbürgerin der Stadt Chemnitz ernannt wurde, hilft noch immer engagiert mit. Als Expertin für Pirouetten und Sprünge formt die Koryphäe ihres Sports hoffnungsvolle Teenager wie Nicole Gurny, Matti Landgraf, Daniel Dotzauer oder Martin Rappe. Dabei ist es ihr gleich, ob die Talente dem CEC oder der Abteilung Eiskunstlauf der Chemnitzer Universitätssport-Gemeinschaft (USG) angehören. Am Ende zähle nicht der Vereinsname, sondern was der für seine hervorragenden Kufenkünstler weltbekannte Standort in Sachsen und schließlich was die Deutsche Eislauf-Union (DEU) hervorbringt, so lautet das Credo der „Grande Dame“.

Ein Ansatz, der auf dem Chemnitzer Eis nach Wendewirren und Neuorientierung zunehmend intensiver gelebt wird und der sich beispielsweise schon in den gemeinsamen CEC-USG-Formationsteams von dem Minis über die „Little Graces“ bis hin zu den „Skating Mystery“

niederschlägt. Zusammenrücken liegt auch deshalb nahe, weil in Dresden mit der neuen Eishalle ein starker Nachbar erwächst. Die Olympiasiegerin und bisherige Landestrainerin Anett Pötzsch-Rauschenbach wechselte zum 1. Februar als Vereinstrainerin in die sächsische Metropole. Auch den traditionellen „Pokal der blauen Schwerter“ als wichtigen Nachwuchs-Grand Prix hat Chemnitz an die Elb-Metropole verloren.

„Wäre schön, wenn Katarina Witt einmal zu uns kommen könnte“

„Wenn ihr wollt, dann würde ich schon noch ein Weilchen mitmachen“, erklärte Jubilarin Jutta Müller jüngst bei ihrer offiziellen Ehrung im kleinen Kreis. Eine Offerte, die von der Eiskunstlauf-Familie ihrer Heimatstadt geradezu mit Rührung aufgenommen wurde. Natürlich soll Jutta Müller weitermachen, unbedingt! An ihre einstige Musterschülerin Katarina Witt sind die Erwartungen weitaus geringer. Die 43-Jährige, die 1984 und 1988 Olympiagold sowie in ihrer Karriere vier WM- und sechs EM-Titel gewann, wird an ihrer alten Wirkungsstätte allenthalben hoch verehrt. Doch für den aktuellen CEC-Nachwuchs in den süßen Samtkleidchen ist die Weltbürgerin mit Wohnsitz in Berlin de facto eine Fremde. Das traditionelle Vereinsfest jährlich im Juni und die Ehemaligen-treffen um Weihnachten fanden bislang ohne den Superstar statt. „Leider haben wir es noch nicht geschafft, sie einmal zu einem Vortrag oder zu einer anderen Veranstaltung zu uns zu holen. Es wäre schön, wenn sie einmal zu uns kommen könnte“, sagt Steffan. Er sah „Katarina die Große“ bislang nur einmal aus der Nähe – bei eben jenem 80. Geburtstag ihrer Trainerin.

Tassilo Thierbach indes, gemeinsam mit Sabine Baeß 1982 Paarlauf-Weltmeister, engagiert sich sogar tagtäglich ganz handfest. Der 52-Jährige steuert jeden morgen einen kleinen Bus und holt Kita-Kinder aus ganz Chemnitz, aus Burgstädt oder Limbach-Oberfrohna ab, bringt sie in die Eishalle und anschließend wieder in die Kindergärten. Etwa 75 Knirpsen wird auf diese Weise jede Woche ein einstündiges Eisvergnügen bereitet. Dank Sponsoren für fünf Euro pro Kind und Übungseinheit, einschließlich Shuttle und Trainern. „Die Kinder wissen nichts von mir. Für sie bin ich nur der Busfahrer“, berichtet der einstige Meisterläufer Thierbach. Eines Morgens allerdings, als er ausnahmsweise gemeinsam mit ihnen die Schlittschuhe schnürte, hatten sie Kleinen sehr große Augen gemacht.