Fast 1.000 Kinder und Jugendliche jagen im Südwesten der Metropole am Krummstock dem kleinen Ball hinterher. Bei den „Wespen“, bei „Z 88“ und natürlich beim Berliner Hockey Club (BHC), Heimstatt der Keller-Dynastie mit olympischem Glanz von 1936 bis 2008. „Der BHC ist ziemlich leistungsorientiert. Eltern, die ambitionierter sind, schicken ihre Kinder irgendwann hierher“, sagt eine der Mütter, die von der Zuschauertribüne aus das Training in der modernen Turnhalle der Erich-Kästner-Schule beobachten. Rund 600 Hockey-Eleven kann der Verein vorweisen. Manche von ihnen entdecken die prominente Adresse beim alljährlichen „anhockeln“ anlässlich des „Tages der offenen Tür“, die meisten über die Mund-zu-Mund-Propaganda.
Zeiten der Alleinherrschaft im Nachwuchsbereich sind vorbei
In roten, gelben und grünen Leibchen rennen die Sechs- und Siebenjährigen beim Übungsspielchen keuchend auf und ab und versuchen, die knapp 200 Gramm schwere Kunststoffkugel ins Tor mit den grünen Netzen zu bugsieren. Das gleicht einer Kunst, obwohl in dieser Altersklasse ohne Keeper geübt wird. Die eine Seite des Hockeyschlägers ist unten abgerundet. Dribblings sind nur mit der anderen, der flachen Seite erlaubt. Saubere Technik und läuferische Fähigkeiten sind das A und O. Darauf wird von Beginn an besonderer Wert gelegt.
Als anschließend die kleinen Mädchen auflaufen, werden Pässe über das halbe Spielfeld geübt, wobei die Spielerinnen ständig in Bewegung sind. Manche von ihnen haben ihre langen Haare mit Hilfe eines Stirnbandes gebändigt und sehen aus wie die Großen. Auf der Empore machen sich derweil die 13- und 14-Jährigen aus der zweiten Knabenmannschaft bereit. „Bei uns ist der Leistungsdruck nicht so hoch wie bei den anderen“, sagen Julian, Anton und Fritz. Nehmer-qualitäten brauchen sie trotzdem, Hockey ist kein Sport für Feiglinge. Erst kürzlich habe er einen harten Schlag aufs Knie bekommen, bekennt Julian. Ein Mannschaftskollege sei ein halbes Jahr ausgefallen, weil ihm aus einem Meter Entfernung ein stramm geschlagener Ball auf den Fuß flog. Solch schwere Verletzungen sind zum Glück sehr selten. Trotzdem legt Torhüter Jonas besser eine sichere Schutzausrüstung an. Stolz schildern die Jungs, dass niemand in Berlin mehr Meisterschaften als ihr Verein gewinnt und der BHC sowohl bei den Frauen als auch bei Männern in der Bundesliga vertreten ist.
Die Zeiten, da man im Nachwuchsbereich praktisch eine Alleinherrschaft inne hatte, sind allerdings vorbei. „Bis vor ein paar Jahren haben wir in jeder Altersklasse den Berliner Titel geholt. Das ist jetzt nicht mehr so“, berichtet Marcel König. Der 20-Jährige begrüßt es, dass seinen Schützlingen die Siege nicht mehr wie selbstverständlich in den Schoß fallen. Mehr Konkurrenz aus der Zehlendorfer Nachbarschaft, von Blau-Weiß oder aus den Reihen des SC Charlottenburg sei für den BHC-Nachwuchs gut, um auf nationaler Ebene besser für die Vergleiche mit den Teams aus den anderen Hockeyhochburgen wie Hamburg oder Köln gerüstet zu sein.
„In einigen Altersklassen können wir leider niemand mehr aufnehmen“
Nicht die spannenderen Duelle mit den Gleichaltrigen sind das Ärgernis, sondern die unbefrie-digenden Trainingszeiten. „Wir brauchten mehr Stunden. Die Trainingszeiten sind für die vielen Mannschaften, die wir haben, sehr knapp bemessen“, weist Carola Scholle auf die Misere hin. Die 47-Jährige, zugleich Landestrainerin in Brandenburg, betreut beim BHC auf Honorarbasis neun Nachwuchsteams. Im Winterhalbjahr wird in sechs verschiedenen Hallen trainiert. Bei der Vergabe der Zeiten legt das zuständige Amt nicht die Zahl der aktiven Hockeyspieler eines Vereins zugrunde, sondern die Gesamtzahl seiner Mitglieder. Der BHC mit knapp 1.000 Mitgliedern hat kaum Passive in seinen Reihen und fühlt sich entsprechend ungerecht behandelt. „In einigen Altersklassen können wir leider niemand mehr aufnehmen und müssen vorzeitig die Listen schließen. Wir wollen ja auch die Qualität des Trainings sicherstellen“, sagt Carola Scholle. Um das Beste aus der unbefriedigenden Situation zu machen, wurden die Trainingseinheiten auf eine Stunde reduziert. Mitunter bleiben wegen des Auf- und Abbaus der Tore und der kleinen Banden zu Seiten des Spielfeldes nur 45 Minuten übrig. Im bevorstehenden Sommer wird es draußen ähnlich eng. Der Naturrasenplatz bekommt einen Kunstrasenbelag. In den kommenden Monaten wird neben dem Vereinhaus nur einer der beiden Plätze zur Verfügung stehen.
Laut Präsident Michael Stiebitz dürfte dem Problem bald durch eine Änderung der Satzung zu Leibe gerückt werden. Bei Kindern und Jugendlichen soll künftig entweder die Mutter oder der Vater automatisch Vereinsmitglied werden. Damit hätte der BHC einerseits bessere Karten bei der Vergabe von Trainingszeiten in der Hallensaison und andererseits mehr Einnahmen aus den Beiträgen. Die Konsolidierung der Finanzen ist eines der vorrangigen Anliegen des 52-jährigen Kaufmanns, der früher selbst in der Bundesliga aktiv war und vor einem Jahr als Retter in der Not an die Spitze gewählt wurde. Nach zwölf Monaten bilanziert er nüchtern: „Die Lage ist nicht mehr aussichtslos, aber auch nicht rosarot. Wir standen vor dem wirtschaftlichen Bankrott und bewegen uns nun in ruhigerem Fahrwasser.“
„Wollen uns als kleine Bastion auf der Sportlandkarte behaupten“
Welch seltsame Verhältnisse im reinen Amateursport Hockey zu beobachten sind, davon können die Berliner mehr als ein Liedchen singen. Ein unglückliches Los im Europapokal, sprich die teure Reise zu einem Auswärtsspiel nach Aserbaidschan, hätte beinahe den gesamten Verein ruiniert. „Einnahmen sind durch die Teilnahme am internationalen Wettbewerb nicht zu erzielen. Im Gegenteil wird man für sportlichen Erfolg eher bestraft. Das ist paradox“, sagt der Präsident. Ohne ehrenamtliche Arbeit, ohne Eltern und Großeltern, die den Nachwuchs Woche für Woche im Privat-Pkw zu Spielen und Turnieren fahren, ohne Zuschüsse aus Lottomitteln und ohne einige Zuwendungen von der Berliner Spielbank ginge „rein gar nichts“. Ziel des Krisen-Managers ist es, dass die Bundesligaspiele „nicht mehr Geld kosten, sondern etwas Geld einbringen“.
Das übergeordnete Motto aller Bemühungen lautet: Die BHC-Familie muss noch weiter zusammenrücken, um die Herausforderungen zu meistern. Erfolge zu erkaufen wie die Kölner von Rot-Weiß, die kaum durch ambitionierte Nachwuchsarbeit auffallen, oder auf vereinseigene Anlagen zu bauen wie die Hamburger, das sei unter Berliner Verhältnissen nicht drin. Hier konzentrieren sich Förderung und Sponsoring bei Teamsportarten fast ausschließlich auf die Fußball-Herthaner, die Eishockey-Eisbären und die Basketball-Albatrosse. Fernab von dieser Profiwelt „wollen wir uns als kleine Bastion auf der Sportlandkarte behaupten“, sagt Stiebitz und führt Begriffe wie „Herzblut“, „Leidenschaft“ und „familiäres Klima“ ins Feld. Mit diesem Wertesystem und gepaart mit eines ausbaufähigen Netzwerk über Firmen, Unternehmen und Hoch-schulen - um zum Beispiele Ausbildungs- und Arbeitsplätze für talentierte Hockeyspieler anzu-bieten -, will der BHC der sportlichen Konkurrenz paroli bieten. Ein überzeugendes Beispiel für das Wir-Gefühl lieferte im Vorjahr der Umbau des Vereinsheims. Um die Modernisierung zu stemmen, kauften Mitglieder auf der „blau-roten Baustelle“ an einem einzigen Tag 80 Ziegel zum symbolischen Preis von jeweils 1.000 Euro. Insgesamt brachte die Aktion mehr als 100.000 Euro ein.
„Bei uns wurde schon im Wohnzimmer geübt“
Die wirtschaftliche Gesundung mit Abstrichen am sportlichen Ehrgeiz zu bezahlen, das ist für das neue Präsidium keine Alternative. Diese Art der strategischen Neuausrichtung wäre ein Bruch mit der großen Tradition. Schatzmeister Torsten Keller (45), einer der engsten Mitstreiter von Stiebitz, entstammt der erfolgreichsten deutschen Hockey-Familie. Vater Carsten hatte 1972 die deutsche Nationalmannschaft zum Olympiasieg in München geführt. Großvater Erwin gewann Silber bei den Spielen 1936 in Berlin und Torstens Bruder Andreas (43) im Jahre 1992 Gold in Barcelona sowie 1984 und 1988 jeweils Silber. „Bei uns ging das Interesse am Hockey automatisch auf die nächste Generation über. Bei uns wurde schon zuhause im Wohnzimmer geübt“, sagt der 69-jährige Carsten Keller. Nach seiner aktiven Laufbahn hatte er den BHC-Nachwuchs als Trainer zwischen 1990 und 1997 zu insgesamt zwölf deutschen Jugendmeisterschaften bei den Mädchen und Jungen geführt.
Die Tricks mit dem Krummstock und der Blick für die Situation auf dem Feld sind auch innerhalb der Familie längst weitervererbt. Tochter Natascha (31) holte Olympiagold 2004 in Athen, Sohnemann Florian (27) vollbrachte das Kunststück mit den deutschen Herren 2008 in Peking. 2012 könnten die Kellers erstmals in vierter Generation vom olympischen Siegerpodest winken. Der 18-jährige Felix schaffte bereits den Sprung in den Kader des Bundesliga-Teams der Männer wie seine Cousine Lina (17) bei den Frauen. Noch am Beginn ihrer Karriere sieht Großvater Carsten seine beiden Enkel Luca (13) und Marie (14). Allein durch die Kinder sei der enge Bezug zum Verein nach wie vor gegeben, unterstreicht der Doyen der Keller-Dynastie. Über die Besuche des Vorbildes am Spielfeldrand freuen sich ebenfalls Julian, Anton, Fritz und Torhüter Jonas aus dem Knabenteam. „Manchmal sieht man ihn auch im Clubhaus. Er ist gar nicht abgehoben und hat keine Allüren“, lautet der einhellige Tenor bei den BHC-Nachwuchsspielern. „Hier geht es eben total familiär zu.“