Leibeserziehung und Sportunterricht im geteilten Deutschland nach 1945

Nach 1945 wurde die gesamtdeutsche Tradition der Didaktik und Methodik von Leibesübungen, Gymnastik, Turnen, Sport und Spiel aufgrund der deutschen Teilung über 40 Jahre lang getrennt. Prof. Dr. Michael Krüger von der Universität Münster hat die Entwicklung des Sportunterrichts in beiden Teilen des Landes anhand der jeweiligen Fachzeitschriften analysiert.

Trotz aller großen Unterschiede in der Ideologie und Terminologie der Pädagogik und Didaktik des Schulsports ergeben sich laut Krüger bei näherem Hinsehen erstaunliche fachlich-inhaltliche Parallelen.

 

Krüger geht davon aus, dass sich die Entwicklung des Fachgebiets Leibeserziehung, Sportpädagogik, Schulsport, Sportunterricht in besonderer Weise in den Fachzeitschriften spiegelt. Ihr Zweck besteht zum einen darin, den Lesern zu zeigen, was in der sportpädagogischen Praxis vor sich geht, und zum anderen Anregungen für eine Verbesserung dieser Praxis zu geben. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es zwei sportpädagogische Fachzeitschriften in Deutschland, die in Ost und West diese Funktion erfüllten: Der „sportunterricht" im Westen und die „Körpererziehung" im Osten. Die Zeitschrift „Körpererziehung" wurde staatlich kontrolliert und hatte der Linie von Staat und SED zu folgen. Der „sportunterricht" trägt seinen Namen erst seit 1973. Er ging aus der Zeitschrift „Die Leibeserziehung" hervor, die seit 1952 als „Amtliches Organ des Bundes Deutscher Leibeserzieher" (heute Deutscher Sportlehrer-Verband) herausgegeben wurde.

 

„Körpererziehung" in der DDR

 

Im Mittelpunkt der Sportpädagogik in der DDR stand der Begriff „Körpererziehung". Er orientierte sich sowohl an der proletarischen Körperkultur der deutschen und europäischen Arbeiter- Turn- und Sportbewegung als auch am sowjetischen Vorbild. Was das bedeutete, wurde den Lesern der „Körpererziehung" bereits im ersten Heft (1951, S. 14-18) von W.A. Starikow erklärt. Es handle sich um ein „wohldurchdachtes, wissenschaftlich begründetes System für die Körpererziehung des Volkes, seiner Vorbereitung zur Arbeit und zur Verteidigung der sozialistischen Heimat". Körpererziehung sollte dazu beitragen, allen Menschen Fortschritt und Wohlstand zu bringen und ganzheitlich gebildete Menschen erziehen.

 

Anknüpfen an die Zeit vor 1933 in der Bundesrepublik

 

Im Westen gab es nach 1945 nur allgemeine Vorgaben der alliierten Besatzungsmächte. Ein festes Konzept oder ein Leitbegriff wurden nicht vorgegeben. Konsens unter den Sportlehrern war, in Anlehnung an den Hamburger Turnlehrer Ernst Schöning, wieder dort anzuknüpfen, wo 1933 eine viel versprechende Entwicklung abgebrochen werden musste. Einige prominente Sportpädagogen aus der Zeit vor 1933 meldeten sich nun auch wieder zu Wort, unter ihnen z.B. Carl Diem, Hermann Altrock, Erich Klinge, Friedrich Knesper und weitere. Vor allem in einem Punkt waren sich die Experten einig: alle Übungen mit militärischem Charakter sollten gestrichen werden.



In der Bundesrepublik ist 1956 als ein wichtiges Datum in der Debatte um die Richtlinien für Turnen und Leibeserziehung anzusehen. Hier gelang es dem Deutschen Sportbund, die Kultusminister der Länder auf „Empfehlungen zur Förderung der Leibeserziehung an den Schulen" zu verpflichten. Dies war deshalb von großer Bedeutung, weil nach dem praktisch noch druckfrischen Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland die Länder und Gemeinden für die Schul- und Bildungspolitik verantwortlich waren.

 

In einem Punkt waren sich Ost und West sehr ähnlich: Über das „Dritte Reich" und die Leibeserziehung im Nationalsozialismus wurde nur sehr wenig gesprochen. Wobei im Kalten Krieg in Ostdeutschland zunehmend über die Leibeserziehung auf der anderen Seite der Mauer gehetzt wurde und diese als Fortführung der NS-Leibeserziehung verteufelt wurde.

 

Gemeinsam war Ost und West auch der Bedarf an praktisch-methodischen Themen. In der DDR war dies der eigentliche Zweck der Sportmethodik, praxisnahe Hilfen für einen leistungs- und lernzielorientierten Unterricht zu geben. Über Ziele und Perspektiven des Schulsports brauchte man sich eigentlich keine Gedanken zu machen, weil die große Linie von Staat und Partei vorgegeben war. Aus diesem Grund gab es in der DDR eigentlich auch keine Sportpädagogik, sehr wohl aber eine hoch entwickelte Sportmethodik.

 

Aktionsprogramme im Vorfeld der Olympischen Spiele 1972 in München

 

Ein weiteres wichtiges Datum in beiden Landesteilen sind die Olympischen Spiele von 1972 in München. Im Vorfeld der Spiele veränderten sich Theorie und Praxis der Leibes- und Körpererziehung gravierend. Im Westen führten diese Veränderungen sogar zu einem Namenswechsel: Von der „Leibeserziehung" zum „Sportunterricht". Und auch das Aktionsprogramm „Jugend trainiert für Olympia" entstand in dieser Zeit. Im Osten begannen die politisch geforderten Maßnahmen zur umfassenden Planung und wissenschaftlichen Erforschung des Sports zu greifen. Sie bezogen sich zum einen auf den Leistungs- und Spitzensport, zum anderen aber auch auf die Körpererziehung an den Schulen. Mit dem „Intensivierungskonzept" sollte der Unterricht noch effektiver gestaltet werden – ein Konzept, dass auch in der Bundesrepublik Nachahmung fand. Schon bei den Olympischen Spielen in Mexiko 1968 war abzusehen, dass sich die DDR zu einer der erfolgreichsten Sportnationen entwickelte. Für die Spiele im eigenen Land 1972 in München wollten die Sportfunktionäre der Bundesrepublik gegensteuern. In Anlehnung an das DDR-System entstanden Leistungszentren und Stützpunkte sowie Sportgymnasien, Leistungs-, Neigungs- und Fördergruppen für Sport. Es wurden Landes- und Bundestrainern in den Verbänden beschäftigt und Sport kann seit dieser Zeit sogar als Leistungsfach im Abitur gewählt werden.

 

Mit diesem „Aktionsprogramm für den Schulsport" fand in der Bundesrepublik eine Aufwertung des Fachs Sport in der Schule statt. Sportunterricht musste sich fortan aber auch an den gleichen Maßstäben wie andere Fächer messen und bewerten lassen. Es wurde nach Wegen gesucht, die Lernprozesse systematischer zu gestalten und dafür Testinstrumente zur Verfügung zu stellen.

 

In der DDR galten die Bemühungen vor allem dem Ziel, erfolgreichste Sportnation der Welt zu werden und in jedem Fall die Bundesrepublik sportlich zu besiegen. Diesem Ziel musste sich auch der Schulsport unterwerfen. Es gab eine enge Verflechtung von Schule und Hochleistungssport. Dieses Modell begeisterte auch viele Sportfunktionäre in der Bundesrepublik. Zugleich formierte sich hier parallel zu diesen Bestrebungen aber auch eine Gegenbewegung, die den „offenen Sportunterricht" propagierte.

 

Über die Erfolge des „Aktionsprogramms für den Schulsport" im Westen sowie des „Intensivierungskonzept in der DDR gibt es laut Professor Krüger keine empirisch gesicherten Daten. Allerdings sprechen die Erfolge der Spitzensportler aus der DDR für sich. In diesem Bereich scheute man keine Kosten und Mühen. Körpererziehung und Schulsport scheinen dagegen in den 1970er und 1980er Jahren zunehmend erstarrt zu sein. Erst gegen Ende der 1980er Jahre mit Beginn der Auflösungserscheinungen des Ostblocks kam es zu Modernisierungsbemühungen im Bereich des Schulsports und des Sportunterrichts. Die Wende des Jahres 1989/1990 bedeutete schließlich das endgültige Aus für das Konzept der DDR-Körpererziehung.