Leistungssport: Es gibt noch genug Potenzial

Der Leiter des Instituts für Angewandte Trainingswissenschaft in Leipzig (IAT), Arnd Pfützner, im Gespräch über den deutschen Leistungssport und seine Zukunft.

Der neue Stömungskanal im IAT wurde 2008 eingeweiht. Foto: IAT
Der neue Stömungskanal im IAT wurde 2008 eingeweiht. Foto: IAT

Leistung ist planbar, Erfolg nicht, sagt man. Wie sieht das eine Institution wie die Ihre?

ARND PFÜTZNER: Wir gehen davon aus, dass Erfolg ein gesellschaftliches Ideal ist, das Leistung voraussetzt. Und unser Auftrag besteht nun mal nicht darin, Sportler ein bisschen zu unterstützen, damit sie einigermaßen gut werden. Unsere Aufgabe ist, sie gemeinsam mit Trainern, Fachverbänden und Partnern wie dem FES (Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten, d. Red.) an die Weltspitze zu führen. Dafür müssen wir den internationalen Leistungsstand erstens kennen und zweitens auf dieses Niveau hinarbeiten.

Das im olympischen Sport stetig zu steigen scheint. Stimmt der Eindruck, und wo ist die Grenze?

Unsere Weltstandsanalysen weisen auf eine sehr hohe internationale Dynamik hin. In der Mehrheit der Sportarten hat die Leistungsdichte zugenommen, und bisher sind keine Grenzen messbar. In Sommer-Ausdauersportarten gewinnen Sie bei den Männern heute keine Medaille, wenn Sie mehr als 0,4 Prozent hinter der Siegleistung liegen, bei den Frauen sind es 0,5 Prozent. Das ist eine neue Dimension, die sich auch an der Zahl der Zielfotoentscheide erkennen lässt. Denken Sie an Triathlon der Damen in London.

Die Leistungsdichte senkt die Chance, dass Spitzenleistung ein Spitzenergebnis bringt?

Natürlich. Wobei Spitzenergebnis nicht Medaille heißen muss. Für jüngere Sportler ist es schon eine Riesensache, an den Spielen teilzunehmen. Die zweite Stufe wäre das Finale, die dritte eine Medaille, die vierte der Olympiasieg. Was da Erfolg ist, hängt vom Athleten ab. Wenn eine Britta Steffen 2008 Gold gewinnt und 2012 im Hochleistungsalter ist, arbeitet man nicht auf Platz vier hin, dann will man das wiederholen.

Trotzdem springen in einigen Ihrer Partnerverbände tendenziell weniger Erfolge heraus.

Vor 20 Jahren war unser Ansatz der prozessbegleitenden Trainingsforschung weltweit nahezu einzigartig. Unsere Mitarbeiter unterstützen die Athleten mit Leistungsdiagnostik, Trainings- und Wettkampfanalysen, und sie helfen nicht nur, einen erarbeiteten Trainingsplan optimal umzusetzen, sondern erkennen anhand der Daten auch mögliche Defizite – sie arbeiten sie sofort auf und integrieren sie als Trainingsempfehlungen in den laufenden Prozess. Wir haben festgestellt, dass wir mit diesem System kaum noch Vorsprung haben. Anfang der 2000er haben Japaner und Australier nachgezogen, später zum Beispiel Franzosen und Briten. Allerdings bietet uns die Verzahnung mit dem FES perspektivisch Vorteile. So eine ingenieurwissenschaftliche Forschung gibt es weltweit kein zweites Mal.

Wobei die Briten auch in einer materialintensiven Disziplin wie Bahnradsport überholt haben.

Sicher holen andere Länder auf, und im Einzelfall wird immer mal eins überholen, vor allem Olympia-Ausrichter. Aber ob das nachhaltig ist, muss man abwarten. In der Vergangenheit haben sich nur die USA und China oben festgesetzt, bei den Briten wissen wir es noch nicht. Wir in Deutschland können das Niveau halten, auch wenn wir mal einen Platz im Nationenranking verlieren.

Fehlt also seltener die Leistung als nur das Ergebnis?

Die internationale Dynamik ist ja nicht das einzige Problem. Die Entwicklung einer Weltspitzenleistung war zwar schon immer kompliziert. Sie ist aber noch komplizierter geworden.

Wodurch?

Da gibt es viele Ursachen. Nehmen Sie die veränderten Wettkampfsysteme. Im Triathlon muss ein Athlet über die Saison hin Weltcup-Punkte sammeln, um an Olympischen Spielen teilnehmen zu können – eine klassische Vorbereitung auf den Höhepunkt hin ist nicht mehr möglich. Zugleich sollen Sportarten unter dem medialen Druck attraktiver werden, das heißt spektakulärer, riskanter, in der Regel kürzer. Dadurch verändern sich die Leistungsanforderungen, und man muss das Training anpassen.

Und wie reagiert man auf die engen Wettkampfkalender?

Man muss sich etwas einfallen lassen, um die etwa 1.000 Stunden spezifisches Training zu sichern, die in den meisten Sportarten internationaler Standard sind. Und zwar leistungswirksam zu sichern – bestimmte Inhalte kann ich nicht trainieren, wenn ständig ein wichtiger Wettkampf ansteht. Das ist methodisch sehr anspruchsvoll, und es setzt die Athleten unter ungeheuren Druck. Sie dürfen kaum noch verletzt sein. Mathias Steiner zum Beispiel hatte nach 2008 aufgrund von Verletzungen Trainingsrückstände. Er hatte den Willen, aber nicht die konditionellen Voraussetzungen, die Last in London zu stemmen.

Ihr angewandtes System basiert auf Nähe zum Athleten. Funktioniert das in so dezentral organisierten Sportarten wie Schwimmen?

Für unsere Mitarbeiter und das System ist das nicht entscheidend. Bei den Trainingslehrgängen der Nationalmannschaft sind unsere Mitarbeiter immer vor Ort, und das IAT ist Diagnosezentrum des DSV – wir sind sehr dicht dran an den Sportlern. Trotzdem ist die dezentrale Struktur eins der Probleme im Schwimmen. Wenn jemand zum Beispiel allein trainiert statt an einem Stützpunkt, und das vielleicht auf einer 25-Meter-Bahn, wird er international schwer etwas gewinnen.

Welche Probleme sehen Sie noch?

Wir hatten im Schwimmen in drei Olympiazyklen hintereinander die gleichen Schwierigkeiten – trotz IAT, können Sie jetzt sagen. Aber entscheidend ist, dass man den Jahresaufbau und die unmittelbare Wettkampfvorbereitung nicht im Griff hat. Wenn die Medien den Termin der Deutschen Meisterschaft und damit den Nominierungszeitpunkt diktieren, kann man eine sinnvolle Periodisierung vergessen. Dann fallen persönliche Bestzeiten bei den nationalen Titelkämpfen statt bei Olympia.

Mit besserem Timing wird der DSV 2016 erfolgreich sein?

Natürlich ist das Ganze komplexer. Man muss unter anderem das Belastungsmaß im Auge haben. Wenn es zu stark sinkt, etwa wegen des Studiums, kann es zur Wettkampfflucht kommen: Sportler gehen Wettkämpfen aus dem Weg, weil das Trainingsniveau nicht ausreicht, das haben wir im Schwimmen einige Male erlebt.

Welche Steigerungschancen sehen Sie insgesamt?

Es müssen wirklich nicht so viele Sportarten ohne Medaille nach Hause kommen wie aus London, es gibt genug Potenzial. Ich rede da nicht zuerst von Geld, sondern von wissenschaftlichen, sportartspezifischen Trainingskonzepten, die sich an der Weltspitze orientieren. Um noch mal das Thema Konzentration zu nehmen: Wenn die besten Athleten an einem Ort mit den besten Trainern unter besten Bedingungen trainieren, wie es in Einzelfällen schon passiert, kämen wir zum Beispiel auch in den Laufdisziplinen der Leichtathletik besser voran.

Dort bestehen zum Teil riesige Rückstände. Ist das nicht aussichtslos?

Ich habe eine Rechnung gemacht, für 2008 als auch 2012: Wenn unsere Athleten Deutsche Rekorde gelaufen wären, oft Leistungen der 90er-Jahre, hätten sie im Finale gestanden. Aber viele Talente bringen gar nicht die Voraussetzungen mit, um die 1.000 Trainingsstunden im Jahr – in der Leichtathletik sind es eher 800 – zu verkraften. Einen Großteil verlieren wir noch vor dem Einstieg ins Spitzensportsystem, Stichwort Drop-out. Wir sehen ja selbst an den Eliteschulen des Sports Mängel bei der Belastbarkeit. Wenn man die später mit der Brechstange beheben will, wird das sofort mit Verletzungen quittiert.

(Quelle: Faktor Sport, Ausgabe 4/12, Nicolas Richter)


  • Der neue Stömungskanal im IAT wurde 2008 eingeweiht. Foto: IAT
    Der neue Stömungskanal im IAT wurde 2008 eingeweiht. Foto: IAT