"Mehr Platz für Kinder in den Herzen und Köpfen"

"Wie lernen Kinder, als Person in dieser Gesellschaft eigenständig zu leben?" So fasst der Direktor des Deutschen Jugendinstitutes, Thomas Rauschenbach, zusammen, was auf knapp 700 Seiten wissenschaftlicher Analysen im neuen Kinder- und Jugendbericht zu lesen ist, der nun vorgestellt wurde.

Zum neuen Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung

 

Er war Vorsitzender der Expertengruppe, die über 20 Monate für die Bundesregierung an diesem Bericht gearbeitet hat. Bildung und Erziehung - ein Thema, das seit Jahrzehnten vor allem unter ideologischen Aspekten diskutiert wird, ein Thema, bei dem viel versprochen wird, aber die Konsequenzen, die daraus gezogen werden, immer noch bescheiden sind. Kinder und Jugendliche sind für Politikerinnen und Politiker in erster Linie Kostenfaktoren, auch wenn sie in Wahlkampfreden gerne vom "Nachwuchs als der Zukunft des Landes" sprechen.

 

Bundesfamilienministerin Renate Schmidt (SPD) fordert eine neue Partnerschaft zwischen Familie, Kindergärten, Vorschule, Schule und anderen Trägern. Auch der Sportverein spielt eine zentrale Rolle, daran sollte kein Zweifel bestehen. Das Alltagsleben von Mädchen und Jungen hat sich in den letzten Jahren immer schneller verändert, zu den Erziehungskonkurrenten für die Eltern zählen heute Computer, Fernsehen, Handy – Kunstwelten, in denen der Nachwuchs oft besser als die Eltern zurecht kommt. Es gebe, so die Ministerin, eine zunehmende Zahl von Eltern, die nicht mehr in der Lage seien, ihren Kindern Werte zu vermitteln und sie zu erziehen. Experte Rauschenbach beurteilt das etwas anders: "Die Frage nach dem Versagen von Erziehung hat uns viel zu lange gelähmt, die Bedingungen zu verbessern." Es sei kein Versagen der Eltern, sondern Unsicherheit darüber, was das Richtige für Kinder sei. Der Erziehungswissenschaftler fordert vor allem von der Schule, heute mehr zu sein als nur Bildungsanstalt, so wie Bildung mehr als Schule sein müsse.

 

Die Konsequenzen – so sieht es die Kommission – seien der Ausbau von Ganztagsschulen sowie eine gebührenfreie und bedarfsgerechte Kinderbetreuung im Vorschulalter. Außerdem: Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für Zweijährige (bisher Dreijährige), eine frühere Einschulung und stärkere individuelle Förderung, anstatt dass Kinder in der Schule sitzen bleiben. Angesichts dieser Forderung stellt sich die Frage: Wann sollen Eltern denn noch Zeit mit ihren Kindern verbringen und ihre Erziehungsaufgabe wahrnehmen? Haben Kinder nicht ein Recht, mit Vater und Mutter Zeit zu verbringen?

 

Erschreckender Anstieg an Kinderarmut

 

Altbundespräsident Roman Herzog hat sicher nicht in erster Linie an diese Fragen gedacht, als er sich bei einer Veranstaltung von Unicef und Kinderschutzbund für die Aufnahme von Kinderrechten in der Verfassung stark machte, etwa den Schutz der Kinder vor Armut. Denn nach einer Studie des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes (DPWV) lebt jedes siebte Kind in Deutschland in Armut. In Ostdeutschland sogar jedes vierte Kind. Mit der Einführung der Arbeitsmarktreform Hartz IV zu Beginn des Jahres stieg die Zahl der in Armut lebenden Kinder auf den Rekordstand von 1,7 Millionen, so der DPWV-Vorsitzende Ulrich Schneider. Nach den Berechnungen des Verbandes leben 1,5 Millionen Kinder auf Sozialhilfeniveau, rund 200.000 hätten Anspruch auf Sozialleistungen, nähmen diese aber nicht in Anspruch.

 

Für diese Kinder würde das auch bedeuten, dass sie von vielem, was eigentlich selbstverständlich sein sollte, aus finanziellen Gründen ausgeschlossen sind: Musikunterricht, Mitgliedschaft im Sportverein, Computerkurs oder Zoobesuch. Auch der gleiche Zugang zur Bildung wird noch mehr zum Problem: Bücher, Hefte, Nachhilfeunterricht würden so unbezahlbar, sagt Schneider, der fordert, die so genannten Einmalleistungen zu Beginn eines Schuljahres wieder einzuführen. Arbeitsmarktpolitik contra Familien- und Bildungspolitik. Was hatte Herzog gesagt? Es könne nicht falsch sein, die Rechte der Kinder zu stärken und so einen Beitrag zu leisten, "mehr Platz für Kinder in den Köpfen und Herzen der Menschen zu schaffen". Vor allem in denen der politischen Macher und Entscheidungsträger.