Nachdenken über die Schattenseiten

 

 

Damals war’s. Unmittelbar nach dem Mauerfall. Der Berliner Arbeitskreis „Kirche und Sport“ organisierte eine Tagung zum Thema „Der Sport und

die Stasi“. Nicht anzuklagen war das Ziel. Einstige Systembefürworter und –gegner sollten miteinander ins Gespräch gebracht werden. „Wessies“ und „Ossis“ gegenseitig zuhören, gemeinsam zu lernen, das waren die Wünsche. „Erinnern schafft Versöhnung“ – so der Titel der Tagung, der Hoffnung und Überzeugung gleichermaßen auf den Punkt brachte.

Zu den Referenten zählte auch Heinz-Florian Oertel. Der herausragende Fernseh- und Radiomann der DDR erzählte von seinem Werdegang, seinen Erfahrungen. Manches, was er über das (sport-) politische System zu berichten wusste oder eben nicht sagte, erzürnte die Opfer ebenso wie seine Karriere. Oertel stand auf der „Sonnenseite“. Immerhin: Es kam zum Dialog. Zum Teil leidvolle Erfahrungen wurden geschildert. Man hörte einander zu. Als es dann darum ging, das Gesagte schriftlich zu dokumentieren, versagte Heinz-Florian Oertel allerdings die Gefolgschaft: Dazu sei die Zeit noch nicht reif.

Mehr als zehn Jahre danach: Sportjournalisten beschäftigen sich mit dem „Siegeshunger“, mit dem Problem der Magersucht im Sport. Ein Schweizer, der sich vor längerer Zeit geoutet hatte, sagt den Termin ab. Er habe seine Offenheit bereut. Ehrlichkeit zahle sich nicht aus, im Gegenteil, so seine Begründung. Eine frühere deutsche Eiskunstläuferin signalisiert zunächst Bereitschaft, über ihre Erfahrungen zu berichten. Am Ende sagt aber auch sie den ins Auge gefassten Termin ab. Es ist nahezu unmöglich, mit Betroffenen ins Gespräch zu kommen.

Der „Siegeshunger“ dürfte kein Einzelfall sein. Sensible Bereiche wie Sexualität, das Trainer-Athleten-Verhältnis scheinen ebenso ein Tabu wie die finanzielle und psychologische Unterstützung der Sportlerinnen und Sportler, wenn es nicht läuft. Wer kümmert sich um hochtalentierte und erfolgreiche junge Menschen, wenn ihr Körper zwischenzeitlich versagt, eine Auszeit fordert? Uns mangelt es in Zeiten knapper Ressourcen nicht selten an Mut, über die Schattenseiten einer an sich schönen Sache oder bestimmter Entwicklungen nachzudenken. Der Sport ist da keine Ausnahme. Tempo ist angesagt – Erfolg um fast jeden Preis. „Ich-AGs“ sollen es richten...

Siege und Medaillen sind schön. Für die Sportler ebenso wie für die Gesellschaft, die sie vertreten. Und trotzdem: Könnte es sich nicht auch lohnen, Tabus vorsichtig zu brechen und über so etwas wie „Nachhaltigkeit“ auch im Sport nachzudenken? Wenn der Gedanke des Fair-Play das Papier wert sein soll, auf dem er propagiert wird, müssen dann nicht auch die Schwierigkeiten offen thematisiert werden? Das Motto „Erinnern schafft Versöhnung“ gilt für viele Bereiche. Gleiches gilt für „Ehrlich währt am längsten“. Es sei denn, der Spitzensport will nur vordergründig sauber bleiben. Die Zeit zum Nachdenken scheint jedenfalls reif.