Zu wenig Rollstuhlplätze in den Stadien der Euro 2024, Neuanschaffung von Zügen mit hohen Stufen, Geldautomaten mit Touchdisplay – Verheerend zeigen diese Beispiele auf, dass eine Selbstverpflichtung zur Barrierefreiheit für die Privatwirtschaft Deutschlands noch immer nicht funktioniert und sich darüber hinaus im Bereich Inklusion in Deutschland in den inzwischen 15 Jahren nach der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention wenig bewegt hat. Das zeigen auch die im September 2023 veröffentlichten Ergebnisse zur 2. und 3. Staatenprüfung Deutschlands durch den UN-Fachausschuss in den abschließenden Bemerkungen schwarz auf weiß. Mit viel Schwung muss Deutschland nun die Versäumnisse aufholen – die Konferenz „Neuer Schwung für die UN-Behindertenrechtskonvention – Wie weiter nach der 2. und 3. Staatenprüfung Deutschlands?“ des Bundesbeauftragten für Menschen mit Behinderung, Jürgen Dusel, und dem Deutschen Institut für Menschenrechte sollte hierfür den neuerlichen Anfang wagen.
Inklusion ist eine Mammut-Aufgabe
Vor nunmehr 15 Jahren unterzeichnete Deutschland gemeinsam mit inzwischen 162 weiteren Staaten das 2006 in Kraft getretene „Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“, besser bekannt unter dem Begriff UN-Behindertenrechtskonvention, in der der Begriff „Inklusion“ maßgeblich geprägt und ausdefiniert wurde. Als Kern-Ziele wurden in ihren 50 Artikeln eine gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung und die dafür notwendige Anpassung der sie umgebenden Gesellschaft inklusive ihrer Strukturen formuliert. Eine Mammut-Aufgabe, das war schon damals unter der Betrachtung der Vielseitigkeit der damit neu entstandenen Anforderungen an die Bundesregierung und den Staat Deutschland klargeworden. So sollten nicht nur öffentliche Institutionen und Räume künftig barrierefrei werden, sondern auch die bis dahin entwickelten Sonderstrukturen, insbesondere im Bildungsbereich, aufgelöst und Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft „inkludiert“ werden.
Deutlich wurden die nach 15 Jahren weiterhin ungelösten Aufgaben schließlich im September 2023 dann nach der 2. und 3. Staatenprüfung Deutschlands, die durch den UN-Fachausschuss alle 5 Jahre durchgeführt wird. Insbesondere kritisiert wurde in den abschließenden Bemerkungen neben der unzureichenden Übersetzung der UN-Behindertenrechtskonvention von der Englischen in die Deutsche Sprache und dem Themenfeld Barrierefreiheit der Mangel einer einheitlichen Strategie zur Bewusstseinsentwicklung und übergreifenden Verantwortung in staatlichen Institutionen und der Gesellschaft, die unzureichende Einbindung von Menschen mit Behinderungen in Entscheidungsprozesse, sowie die unzureichende Deinstitutionalisierung von Sondereinrichtungen.
Klar und deutlich trat hervor: Deutschland schlägt sich bei der Umsetzung von Inklusion wahrlich nicht gut, wie auch die Vorführung einer vergleichenden Studie aus England zeigte, die die Fort-/Rückschritte der Staaten anhand von entwickelten Bewertungskriterien verdeutlichte, die die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert haben.
Die Studie ist hier abrufbar.
500 Teilnehmende, darunter auch Vertreter*innen des Bereichs Diversity und Inklusion des DOSB
Aufbauend auf den Ergebnissen aus dieser Staatenprüfung erarbeiteten rund 500 Teilnehmende (Entscheidungsträger*innen aus Politik, Verwaltung und Justiz sowie Expert*innen in eigener Sache und andere Fachleute aus den Reihen zivilgesellschaftlicher Organisationen) im Kongresszentrum im Herzen Berlins in insgesamt acht Workshops zum Themenfeld Inklusion aktuelle Problemfragen und Lösungsansätze für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland. Dabei waren auch in Vertretung des DOSB Ressortleiterin Diversity, Peggy Bellmann, Leiterin des Fachbereiches Inklusion, Ute Blessing, sowie Referent Inklusion, Taime Kuttig. Sie beteiligten sich aktiv an der Erarbeitung von Ergebnissen in den Workshops. Als Themen wurden u. a. Partizipation, Barrierefreiheit, Arbeit, Bildung oder Gesundheit bearbeitet. Der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung, Jürgen Dusel, trat nach der Zusammenfassung der Workshop-Ergebnisse kräftig auf das Gaspedal. Er forderte die Bundesregierung neuerlich zur konsequenten Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und die Bundesministerien zur Veröffentlichung des bereits fertig gestellten Referentenentwurfs für die gesetzliche Verpflichtung der Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit auf: „Wir müssen das jetzt wirklich mal richtig anpacken!... Wenn ein Referentenentwurf in der Schublade liegt, muss er jetzt raus!“. So verwies er darauf, dass Deutschland eine gesetzlich geregelte Verpflichtung für die Barrierefreiheit von privaten Gütern und eine klar definierte Obergrenze für unzumutbare Belastungen der Privatwirtschaft bei der Umsetzung braucht, wie es sie bereits seit einigen Jahren im Nachbarland Österreich gibt.
Menschen mit Behinderungen müssen nicht dankbar sein
Doch nicht nur im Bereich Barrierefreiheit gibt es einiges zu tun. „Es muss endlich verstanden werden, dass Menschen mit Behinderung nicht dankbar für die Teilhabe sein müssen, sondern selbstverständlich in Entscheidungsprozesse einbezogen werden und nicht nur daneben sitzen“, fordert zum Beispiel der bekannte Aktivist Ottmar Miles-Paul, der die Interessensvertretung “Selbstbestimmt leben” in Deutschland mit aufgebaut hat. VdK-Präsidentin Verena Bentele schließt sich diesem Tenor an und verdeutlicht in einem anschließendem Podiumsgespräch den Unterschied zwischen dem Heben eines Rollstuhlfahrers über die Eingangsschwelle eines Restaurants durch das Personal, oder die bauliche Eliminierung der Schwelle. Deutlich wird im Verlauf der Konferenz auch: Es gibt kein Verständnis-, aber ein Umsetzungsproblem in Deutschland. Nach über acht Stunden Vorträgen und Austausch rund um die Inklusion beendete Dusel schließlich die Konferenz mit der Versicherung, dass die Ergebnisse aus den Workshops in die weitere Arbeit einfließen werden. Sarkastisch hebt er zudem hervor, dass Österreich die Verpflichtung der Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit auch überlebt und sich die dortige Gesellschaft bereits positiv entwickelt hat. Nun ist es höchste Zeit für Deutschland, diesen Weg ebenfalls zu beschreiten und dafür zu sorgen, dass künftig die Stadien mit ausreichend Rollstuhlplätzen ausgestattet sind, die nicht zurückgebaut werden, dass Züge auch für gehbehinderte Menschen nutzbar werden und blinde Menschen ihr Recht auf Bargeld ohne Hindernisse ausüben können.
(Quelle: DOSB)