Neues Leben am „Weißflog-Hügel“ in Pöhla

Der sechste Teil der Serie Stars und ihre Vereine: Die Ski sind schon aufs Autodach geschnallt, abfahrbereit wartet Herbert Neudert auf seinen kleinen Springer. Im nächsten Augenblick steigt der neunjährige Arthur in den Pkw des Übungsleiters.

 

Seinen hellblauen Sprunganzug hat der Steppke bereits angelegt, den blank polierten schwarzen Helm und die Ski-Brille hält er stolz in der Hand. Heute geht es zum Training auf der 20-Meter-Schanze ins knapp 25 Kilometer entfernte Johanngeorgenstadt an der tschechischen Grenze. Unterwegs sammelt Neudert noch zwei weitere „Mini-Adler“ vom SV Fortuna Pöhla ein. Zum kleinen Geschwader des Vereins, in dem die großartige Karriere des Jens Weißflog begann, gehören momentan fünf Jungen im Alter zwischen acht und elf Jahren sowie die kleine Selina (7). Bammel vor dem Training hat Arthur nicht. „Kein Problem, das ist nicht so schwer“, sagt er. Später möchte er „einmal so werden wie der Jens“, der es auf je drei Olympiasiege und WM-Titel brachte und viermal die Vierschanzen-Tournee gewann. 

Vom straff organisierten Trainingszentrum zum Glücksfall Neudert

 

Vor 35 Jahren war der beste deutsche Skispringer aller Zeiten im selben Alter wie Arthur. Damals stapfte auch er neben Herbert Neudert durch den Schnee und wurde von ihm zum Training gefahren. Nicht im eigenen Pkw steuerte der heute 72-Jährige seinerzeit die Bakken in der Umgebung an, sondern in einem Kleinbus der Marke „Barkas“. Der gelernte Werkzeugmacher hatte sich dank eines Studiums zum Spezialisten für Skispringen und Nordische Kombination qualifiziert und gehörte bis zur Wende zum Trainerstab am Bezirksleistungszentrum (BTZ) in Pöhla. „Die Bedingungen in DDR-Zeiten kann man mit denen von heute überhaupt nicht vergleichen. Wir hatten garantiert viel mehr Training und waren auch mehr Sportler in der Gruppe.

Damals gab es doch zig Vereine ringsum“, erinnert Jens Weißflog an seine Anfänge unter Neuderts Fittichen. Nach den straffen Vorgaben wurden am BTZ Pöhla ausschließlich Kombinierer herangezogen, doch für die Loipe war Klein-Jens etwas zu schmächtig geraten. Mit etwas Glück durfte er zum Spezialspringer mutieren und wurde zur Kinder- und Jugend-Sportschule in Oberwiesenthal delegiert. Heute betreibt der 45-Jährige in dem prominenten Wintersportort am Fuße des Fichtelberges ein Hotel.

Als die ostdeutsche Sportlandschaft nach 1989 ein anderes Gesicht bekam, musste sich Neudert in seinem früheren Beruf verdingen und sich Arbeit in Bayern suchen. Ein paar Jahre später führte ihn Enkelsöhnchen Tom und dessen kindliches Interesse am Skispringen auf den sportlichen Weg zurück. Milde gestimmt, entschloss sich der Großvater zum Comeback. Ein Glücksfall für die vier Schanzen am sogenannten Pöhlaer „Hügel“, die allesamt mit Matten ausgerüstet und vornehmlich für den Sommerbetrieb ausgelegt sind. „Mit dem Schnee ist es hier zu unsicher. Außerdem wäre es eine Heidenarbeit, die Schanzen im Winter zu präparieren“, erklärt Andreas Weißflog, Bruder des Stars und Kassierer beim SV Fortuna in Pöhla, weshalb im Winter auswärts gesprungen wird. Wenn aber genügend Schnee vorhanden ist wie zuletzt, dann werden zumindest die kleinen Schanzen in Pöhla präpariert.

Werbetour mit dem Star und vier Mattenschanzen für den Sommerbetrieb

Dank Neuderts Rückkehr an die Bakken am „Hügel“, auf denen man Weiten um 60 Meter, 40 Meter, 20 Meter und 10 Meter erreichen kann, kehrte der regelmäßige Trainingsbetrieb zurück. In der wärmeren Jahreszeit wird in Pöhla direkt vor der Haustür geübt. Im Winter hält Neudert mit seinen Schützlingen einmal wöchentlich Athletiktraining ab und fährt sie mit dem Privat-Pkw zweimal pro Woche nach Oberwiesenthal oder Johanngeorgenstadt zur Schanze, wo der Nachwuchs in anderthalben Stunden zwischen sechs und zwölf Mal zu Tale segelt. Dafür nahm der Skisprunglehrer ehrenhalber in den letzten Jahren fast 200.000 Straßen-Kilometer unter die Räder - Benzingeld aus der eigenen Tasche inklusive.

Auf der Suche nach Talenten zog Neudert Mitte der 90er Jahre gemeinsam mit Jens Weißflog zunächst durch einige Grundschulen vor Ort und in der näheren Umgebung. Nach der Begegnung mit dem Idol hatten zwar stets fast ganze Klassen eifrig bekundet, ihm nacheifern zu wollen. „Aber zum Training kam anschließend kaum jemand.“ Inzwischen beurteilt der Rentner die eher geringe Resonanz pragmatisch. Er ist sogar froh über die nur kleine Schar Mutiger. Für eine größere Gruppe würden gar nicht genügend Transportmittel zur Verfügung stehen.

Klasse statt Masse heißt heute die Devise. Pöhla ist inzwischen zu einem der wichtigsten Nachwuchsstützpunkte in ganz Sachsen aufgestiegen, wie der verantwortliche Landestrainer Peter Grundig betont. Zugleich lobt er Neuderts ehrenamtlich-fachmännisches Engagement in höchsten Tönen. Mit Franziska Schubert, Max Lang, Ron Möckel und den Zwillingen Pascal und Richard Walther wurden schon fünf Teeanger aus der „Pöhlaer Springerschule“ zum Sportgymnasium nach Oberwiesenthal delegiert und wandeln dort in den Fußtapfen des großen Jens Weißflog. Ein paar weitere viel versprechende Kandidaten habe er „noch in der Hinterhand“, kündigt Neudert an. Nur eines möchte er keinesfalls - sich unter Erfolgsdruck setzen. Mittlerweile hat man auch einen Weg gefunden, die Familien dieser Talente vor immer höheren Ausgaben für Skier, Bindungen, Anzüge, Helm und Brille zu schützen. Selbst eine bescheidene Grundaus-stattung kostet schnell zwischen 800 und 1.000 Euro. Die Pöhlaer Hoffnungsträger gehören inzwischen dem Verein Nickelhütte Aue an. Ein kleiner Trick, um sie über das Unternehmen ganz in der Nähe besser fördern zu können. „Dass sie dadurch nicht mehr für uns starten können“, verweist Fortuna-Vorsitzende Anja Epperlein auf die Schattenseite, „das müssen wir eben in Kauf nehmen.“

Zittern vor dem Weltverband FIS und Hilfe aus Schwarzenberg

Zum neu erwachten „Hügel“, an dem die erste Schanze 1949 zunächst als Holzprovisorium und zum Freizeitvergnügen der Erwachsenen entstand, gehört ebenfalls die Aufnahme Pöhlas in den internationalen Wettkampfkalender. Im Jahr 2001 machte hier erstmals der Continental-Cup der Frauen Station, seither jährlich im August und stets unter Weißflogs Schirmherrschaft. Zur Premiere kamen gerade einmal sieben Springerinnen, im vorigen Jahr starteten 63 Springerinnen. Um die Anforderungen des Internationalen Ski-Verbands (FIS) zu erfüllen, wurde die große Schanze seit 2000 in mehreren Etappen modernisiert. Beispielsweise galt es, den Radius des Auslaufs zu erweitern und den Turm zu verbreitern und mit zusätzlichen Einstiegsluken zu versehen. Die rund 90 Mitglieder der Skiabteilung packten selbst kräftig mit an. Überdies musste der Verein für den Umbau einen Kredit aufnehmen.

Nun, da das Frauen-Skispringen den Kinderschuhen entwachsen ist, muss Pöhla um seinen Status fürchten. Keiner weiß, ob und wann die Karawane 2009 Halt machen wird und der wichtigste von etwa 15 Wettkämpfen in Pöhla stattfindet. „Um uns zu verschulden, sind wir gut genug gewesen. Es scheint so, als hätte der Mohr seine Schuldigkeit getan“, ärgert sich Anja Epperlein über das Schweigen der FIS-Funktionäre. Wenn die Pöhlaer Schanze den Frauen inzwischen zu klein geworden sei, so könne man ja immerhin über andere internationale Wettbewerbe sprechen. Die Bedingungen dafür seien schließlich vorhanden - auch und gerade dank einer neuen Verwaltungsstruktur. Seit langem hatte man in der 1.100-Seelen-Gemeinde darauf gedrungen, aus dem Verbund mit den umliegenden Ortschaften wie Markersbach oder Raschau entlassen und dem nahen Schwarzenberg einverleibt zu werden. Sogar auf die Straße gegangen seien die Einwohner für dieses Ziel, erinnert sich Ortsvorsteherin Annelore Liebchen. Am 1. Januar 2008 war es endlich soweit.

Die Wintersportler hatten diesen Kurs wegen der Sympathien der Großen Kreisstadt fürs Skispringen und die Schanzen nach Kräften unterstützt. Gleich nach der Eingemeindung zeigte sich die Kommune gegenüber den Pöhlaern äußerst entgegenkommend. Schwarzenberg legte sich im vergangenen Jahr für den Continental-Cup ins Zeug, beglich freundlicherweise nachträglich manche Rechnung und berappte rund 30.000 Euro für Arbeiten an der großen Schanze und Restarbeiten an der „Schanzenbaude“ unterhalb des Turms der Pöhlbachschanze.

„Es gibt auch kritische Stimmen“

So sehr sich Kassenwart Andreas Weißflog über das kommunale Wohlwollen freut, so gut weiß der 46 Jahre alte gelernte Betriebswirt: „Es gibt auch kritische Stimmen. Es gibt auch Leute, die fragen, ob diese öffentlichen Haushaltsmittel nicht anders eingesetzt werden sollten.“ Dann könnte Pöhla bald dasselbe Schicksal ereilen wie Königswalde, Mildenau, Markersbach, Breitenbrunn, Zschorlau, Wildenthal, Carlsfeld und Schönheide. Die Schanzen in diesen Gemeinden des Erzgebirgskreises sind allesamt tot wie das frühere Leistungszentrum in Annaberg. In ganz Sachsen gibt es nur noch neun Vereine, die Skispringern eine Heimat bieten. Dank des SV Fortuna, Herbert Neudert und der neuen Kommunalstruktur ist der Absturz bislang am Weißflog-Hügel vorbei gegangen. Damit es so bleibt, muss für den versierten Übungsleiter dringend ein Nachfolger gefunden werden, der das Erbe bewahrt. Denn mit dem Trainer, so ein ungeschriebenes Skispringer-Gesetz, steht und fällt in diesem Sport fast alles.