Olympischer Zweimarsch

Der Einmarsch von Fahnenträger-Duos bei den Spielen kann nicht Symbolik bleiben, sondern sollte der Startschuss für geschlechtergerechte Strukturen sein, sagt Prof. Hans-Jürgen Schulke.

Das deutsche Fahnenträger-Duo Laura Ludwig und Patrick Hausding beim Einmarsch der Nationen ins Tokioer Olympiastadion. Foto: picture-alliance
Das deutsche Fahnenträger-Duo Laura Ludwig und Patrick Hausding beim Einmarsch der Nationen ins Tokioer Olympiastadion. Foto: picture-alliance

Eröffnungszeremonien bei Olympischen Spielen liefern Bilder, die im kollektiven Gedächtnis bleiben. Milliarden Menschen verfolgen sie als Beginn und Botschaft des größten Festes, das die Menschheit je gefeiert hat. Sie dokumentieren Geschichte und Kultur des Gastgebers, Zeitgeist und technischen Fortschritt, Probleme und Perspektiven einer Welt im Wandel, Vielfalt und Enthusiasmus der Aktiven insbesondere beim Einmarsch der Nationen. Letztere symbolisieren den Kosmos Olympia. Er bildet für gut zwei Wochen eine gemeinsame Welt mit für alle gültigen Werten und Regeln.

Das galt auch für die gerade stattgefundene Eröffnung, deren Bildersprache vielschichtig geriet. Jahrtausende alte Bewegungskünste wurden durch digitale Technik zu hybriden Formen, traditionelles Handwerk verband sich mit futuristischer Architektur, kunstvolle Drachentänze wurden von einer himmlischen Welt aus Drohnen abgelöst, ein schwer behinderter Greis bildete als Fackelträger den Kontrapunkt zu jugendlichen Vorgängern und hinterließ die Verletzlichkeit unserer Gesundheit. Es war auch ein Hinweis auf Corona, welches allgegenwärtig die Olympischen Spiele in Tokio verschob und bedroht. Hinter der lodernden Olympischen Flamme waren zehntausende leerer Plätze zu sehen, Reden von den Herrschern der Ringe und Eröffnungs-formel drangen nur gefiltert durch den Mundschutz, fröhlich einmarschierte Aktive erkannten sich kaum beim Maskentanz und verschwanden bald in Katakomben. Ein eigenartiges Vexierbild.

Der Einmarsch der 205 Delegationen aus aller Welt vermittelte dennoch eine Botschaft, die das IOC initiiert hatte. Gefühlt drei Viertel der Nationen trugen ihre nationalen Fahnen zu zweit – Mann und Frau. Das passte zu der Erzählung, dass erstmals bei den Spielen der Frauen- und Männeranteil gleich groß war. Heute sind in allen Sportarten beide Geschlechter vertreten. Ein historisches Ereignis, wenn man in die 125jährige Vergangenheit der Spiele blickt. 30 Jahre waren sie Leerstelle oder Zufall. Es dauerte bis 1992, bis sie wenigstens ein Drittel stellten. Das nach vielen Widerständen. Insofern hat Tokio gewürdigt, dass vor 100 Jahren eine erste Frauenolympiade stattfand.

Olympias Beginn 1896 war eher Randnotiz, 240 junge Männer sollen dabei gewesen sein aus wenigen Ländern und eher wohlhabenden bürgerlichen Kreisen, Athletik mischte sich bei ihnen mit Abenteuer. Als Appendix von monatelangen Weltausstellungen in Paris und St. Louis mit skurillen Sportarten wie Tonnenspringen, Tauziehen und Kirschkernspucken gingen sie ihrem Niedergang entgegen, der erst durch sportliche Nationen mit den Standorten London und Stockholm Struktur und Architektur erhielt. Nicht aber für Frauen, über die ein eisernes Patriarchat herrschte – voran de Coubertin, der in ihnen Dekoration bei den Wettkämpfen sah und dabei bis zu seinem Tod blieb.

Das Ende des ersten Weltkriegs brachte Frauen u.a. mit Wahl-, Vereins- und Heiratsrecht mehr Eigenständigkeit, zugleich breitete sich der Sport und damit die Olympische Idee in nahezu allen gesellschaftlichen Schichten aus, beschleunigt durch Massenmedien. Das allerdings in ganz unterschiedlichen Ausprägungen. So entstanden neben den etablierten Spielen von 1896 in den 20er Jahren „Deaflympics“ für die seinerzeit zahlreichen Gehörlosen, Makkabiaden für jüdische Gläubige, Arbeiterolympiaden mit enormen Teilnehmerzahlen, Universiaden und eben Frauenolympiaden. Letztere fanden mehrfach in Monte Carlo, dann Florenz und Paris statt, blieben bürgerlichen Kreisen vorbehalten, nannten bescheidene Teilnehmerzahlen. Immerhin erreichten sie als „Weltspiele“ Aufmerksamkeit, dass das IOC ab 1928 Frauendisziplinen zuließ und 1934 die eigenständige Olympische Frauenbewegung im IOC aufging. Bei der mächtigen Arbeitersportbewegung sollte es noch bis 1952 dauern. Paralympics und Special Olympics für behinderte Menschen kamen nach 1945 hinzu, bestätigten dem IOC seine „Einheit in Vielfalt“.

Frauen haben die Olympische Bewegung in den letzten Jahrzehnten mit geprägt. Persönlichkeiten wie Fanny Bankers-Koen („Fliegende Hausfrau“) haben das Mutterbild verändert, Wilma Rudolph die Akzeptanz von schwarzen Frauen erhöht, die sportive Mode (mitunter an die Grenze zum Voyeurismus) befördert, Sport im öffentlichen Raum erleichtert, zur gesundheitlichen Resilienz beigetragen. Das erfolgte nicht von selbst, musste gegen Spott, Ausgrenzung, Ignoranz, herrschende gesellschaftliche Konventionen, nicht zuletzt sexuellen Missbrauch erkämpft werden. Dieser Kampf ist keineswegs beendet. Aber Olympia gibt ihm eine öffentliche Bühne, seit der Agenda 2020 einen festgeschriebenen Rückhalt.

Wie schwer allerdings die Tektonik der Machtverhältnisse im Sport in Bewegung zu bringen ist, wird in der Zahl der sportpolitischen Entscheider sichtbar. Frauen mit Präsidenten(!)amt sind Marginalie in internationalen Fachverbänden. Anders im IOC - im einstiegen „Männerorden“ IOC sind mittlerweile fast 40% Frauen in der Ära Bach hineingewachsen und nehmen Einfluss. Heute machen Frauen 47,8 Prozent der Mitglieder der IOC-Kommissionen aus. Vor der Olympischen Agenda 2020 waren es 20,3 Prozent. 27 Prozent der Direktorposten im IOC besetzen Frauen. Keine Selbstverständlichkeit bei den Rollenbildern arabischer und autokratisch regierter Staaten im IOC.

Ohne Zweifel, auch im deutschen Sport wächst die Zahl weiblicher Führungskräfte – mal mehr, mal weniger und auf jeden Fall zu langsam. Gerade macht Tokio 2020 das deutlich. Der DOSB mit seinen Olympischen Fachverbänden hat keinen Anlass zur Selbstzufriedenheit -– der DFB ist Beispiel. Petra Tzschoppe, Leipziger Sportwissenschaftlerin und Vizepräsidentin des DOSB, hat nachgerechnet.

Bei den letzten vier Olympischen Spielen seit 2010 lag der Anteil der Trainerinnen jeweils bei 10 oder 11 Prozent und der Anteil akkreditierter Trainerinnen für Tokio gerade acht Prozent. Bei den Olympischen Winterspielen 2018 in Pyeongchang waren von den 80 Trainerinnen und Trainern des deutschen Teams nur zwei weiblich. Das gilt ähnlich für Kampf- und Schiedsrichterinnen. Ebenso sind Sportjournalistinnen deutlich in der Unterzahl. Das spiegelt unausgewogene Bericht-erstattung, Frauen erhalten durchschnittlich nur zehn Prozent der medialen Aufmerksamkeit. Ähnlich die Präsenz von Frauen in bundesweiten Spitzenpositionen des Sports.

Der zweifache Einmarsch kann insofern nicht Symbolik bleiben, sondern ist Startschuss um geschlechtergerechte Strukturen zu schaffen. Fortbildung, Mentoring, familienfreundliche Arbeitszeiten, Respekt im Umgang in Gremien, Quoten gehören dazu, werden verschiedentlich erprobt. Das gibt Hoffnung: Die Olympische Bewegung hat gesellschaftliche Herausforderungen wie Weltkriege, politische Spannungen, demokratische Lebensformen, technischen Wandel, Boykotte angenommen. Nicht immer sofort und komplett richtig, keineswegs revolutionär, oft taktierend weil ohne militärische oder finanzielle Macht. Letztlich erfolgreich weil beharrlich, abwägend, verbindend. Das gilt auch für Geschlechtergleichheit im Sport. Trotz Corona: Tokio ist ein Schritt vorwärts.

(Autor: Prof. Hans-Jürgen Schulke)

In jeder Ausgabe der DOSB-Presse, die wöchentlich erscheint, gibt es einen Kommentar zu aktuellen Themen des Sports, den wir hier veröffentlichen. Diese mit Namen gezeichneten Beiträge geben nicht unbedingt die offizielle DOSB-Meinung wieder.


  • Das deutsche Fahnenträger-Duo Laura Ludwig und Patrick Hausding beim Einmarsch der Nationen ins Tokioer Olympiastadion. Foto: picture-alliance
    Einmarsch des Team Deutschland in Tokio mit dem Fahnenträger-Duo Laura Ludwig und Patrick Hausding Foto: picture-alliance