Rainer Brechtken: Leistung ist nie ein Selbstzweck

Rainer Brechtken, Sprecher der Spitzenverbände im Deutschen Olympischen Sportbund, spricht über die gesellschaftspolitische Verantwortung und die notwendigen Rahmenbedingungen, Talente und Leistung zu fördern.

Rainer Brechtken, Präsident des Deutschen Turner-Bundes, im Interview mit der DOSB-Presse. Foto: Picture Alliance
Rainer Brechtken, Präsident des Deutschen Turner-Bundes, im Interview mit der DOSB-Presse. Foto: Picture Alliance

DOSB-PRESSE: Welche Bedeutung hat für Sie der Spitzensport? Was ist die Motivation, sich im Spitzensport zu engagieren?

Rainer Brechtken: Eine Betätigung im Spitzensport mit Training und Wettkampf ist für mich in erster Linie die Nutzung und Weiterentwicklung einer besonderen persönlichen Begabung, das Talent für besondere Bewegung. Für mich ist deshalb als besonders wichtig festzustellen, dass alle Diskussionen um Medaillenspiegel und Anzahl von Goldmedaillen als gesellschaftliche Begründung für eine Förderung von Spitzensport nur einen sekundären Aspekt haben. Im Vordergrund muss stehen, das ist auch in die Gesellschaft insgesamt hinein von Bedeutung, dass wir Spitzensport treiben, um ein Talent, das eine sportliche oder turnerische Bewegungsbegabung hat, optimal zu fördern und seine Möglichkeiten optimal auszuschöpfen.

Wenn Sie Gesellschaft nennen: Das gilt ja nicht nur für den Sport.

Richtig, nehmen wir die Kultur als Beispiel: Es gibt in der Gesellschaft überhaupt keine Diskussion, dass jemand, der am Klavier, an der Geige hochbegabt ist, selbstverständlich entsprechend gefördert wird. Wir im Sport müssen das immer noch besonders begründen. Und deshalb ist es für mich ganz wichtig zu sagen: Es geht in erster Linie um die Frage, ein Talent optimal zu fördern. Das hat für mich auch einen Anspruch auf öffentliche Förderung. Ebenso ist Leistung gesellschaftlich ein zentraler Begriff. Den brauchen wir. Deshalb ist Förderung und Unterstützung von Leistung meiner Ansicht nach gesellschaftspolitisch notwendig.

Wie muss diese Förderung aus Ihrer Sicht aussehen?


Daraus resultiert zweierlei: Es muss professionell gearbeitet werden. Überhaupt halte ich die Professionalisierung für den Schlüssel für Erfolg im Spitzensport. Das ist auch die Erfahrung in meinem Verband, der im Spitzensport ziemlich weit unten war. Die Professionali-sierung war der Einstieg in die Verbesserung der Situation. Zweitens: Alle Bemühungen haben ein Ziel – die Weltspitze. Das ist in der Kultur nicht anders. Wenn wir also Talente fördern wollen, dann müssen wir sie auch so fördern wollen, dass sie den absoluten Erfolg haben. Deshalb ist die Weltspitze der Maßstab aller Maßnahmen. Und dann ist die Medaille sozusagen der Nebeneffekt.

Hieße das für Sie, sich auf aussichtsreiche Sportarten zu konzentrieren?

Solche Stimmen gibt es ja schon, die sagen: Man müsse sich im Hinblick auf den Medaillenspiegel überlegen, ob man nur noch solche Sportarten fördere, in denen die Goldmedaille wahrscheinlich sei. Das hielte ich für falsch. Denn dieser Begründungsansatz steht im Widerspruch zum oben genannten Grundsatz der Förderung einer persönlichen, individuellen Begabung. Natürlich müssen wir professionell arbeiten, und natürlich müssen wir bestimmte Anforderungen erfüllen. Aber, die Erfahrung habe ich als Turner-Präsident gemacht: Man braucht schon ein Stück Strecke, um Erfolg zu erreichen. Hätte man im Jahre 2000 oder 1998 entschieden, die Turner abzuschreiben, wären die heutigen Erfolge undenkbar. Die Strukturen hat man aufgrund unseres Fördersystems gottseidank erhalten, und heute haben wir Vizeweltmeister, Weltmeister und sind unter den besten drei, vier Mannschaften der Welt. Talentförderung heißt für mich also: Wir müssen eine Breite erhalten, weil wir nicht wissen, wo die Talente von morgen sind.

Das hat für die Frage der Finanzen natürlich Konsequenzen. Das muss man sich leisten können.

Die Finanzmittel sind natürlich immer begrenzt. Aber man muss die vorhandenen Mittel mit Vernunft und Strategie einsetzen. Grundvoraussetzung ist selbstverständlich professionelles Handeln der entsprechenden Verbände mit schlüssigen Konzepten und Zielsetzungen. Dann besteht eine sinnvolle Förderung für mich aus drei Komponenten: Erstens eine Grundförderung, die den Aufbau beziehungsweise Erhalt einer Basis erlaubt. Zweitens eine Orientierung der Förderung an der sich abzeichnenden Perspektive der Athletinnen und Athleten und drittens eine leistungsorientierte Komponente mit Anreizsystem. Mit dem zwischen BMI und DOSB abgestimmten und derzeit praktizierten System der Förderung in den olympischen Sportarten sind wir auf einem guten Weg.

Wie stehen Sie zum Begriff Leistung?

Leistungsbereitschaft und Förderung von Talenten geht immer einher mit sozialer Verantwortung. Leistung ist nie ein Selbstzweck. Sie ist immer eingebunden in ethische Verant-wortung. Natürlich wird der Sport gefördert wie andere gesellschaftliche Bereich auch. Aber aus seinem inneren Prinzip heraus ist er angelegt auf Fairness und Einhaltung von Regeln. Ich kann keinen Wettbewerb machen, wenn der andere sich nicht an Regeln hält. Wenn sich jemand nicht an diese Regeln hält, haben wir für diverse Regelverletzungen unsere Mechanismen. Denn der Sport als System ist auf Einhaltung von Regeln angelegt. Also sind wir noch ein Stück sensibler und verpflichten uns, in sauberer Weise damit umzugehen.

Plädieren Sie auch dabei für staatliche Hilfe?

Nein. Uns muss klar sein: Wir sind ein autonomer Bereich in der Gesellschaft, und wir müssen uns das als Freiheit von staatlichen Regelungen erhalten. Sonst können wir eine schnelle und effektive Dopingbekämpfung nicht leisten. Alles staatliche Handeln geht davon, dass zunächst einmal die Schutzrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat zu wahren sind. Also muss im Strafrecht erst einmal die Schuld nachgewiesen werden, gegebenenfalls in einem langen Verfahren über drei Instanzen. Würden wir dies, also einen Straftatbestand Doping im Sport anwenden, wären wir am Ende der Dopingbekämpfung. Das strict-liability-System des Sports, diese ungewöhnliche Umkehr der Beweislast, ist die einzige Chance, die wir haben, Doping zu bekämpfen.

Wie stehen Sie zum Datenschutz im Anti-Doping-Kampf?

Auch hier gilt: Der Staat könnte diese Daten erheben. Er muss das begründen und bestimmte Schutzmaßnahmen ergreifen. Das würde im Sport zu einem erheblichen Rechtsproblem führen. Der Staat müsste zunächst ein Frist setzen, er müsste ankündigen und so weiter.  Wir wissen, was das für eine Dopingprobe hieße. Also muss auch hier die Autonomie, die Eigenregelung des Sports gelten. Der einzelne Athlet, der an Wettbewerben teilnimmt, muss sich diesen Maßnahmen unterwerfen. Es ist keine Willkür des Sports. Ein solches Verfahren ist zwingend notwendig. Sonst würde die Dopingbekämpfung in Frage gestellt. Natürlich müssen wir alle Möglichkeiten des Datenschutzes ausschöpfen. Es darf keine Willkür herrschen, die Daten müssen geschützt sein, sie müssen zu bestimmten Zeiten vernichtet werden. Daran hält sich die NADA. Das hindert uns nicht daran zu sagen: Der Staat hat auch seine Aufgabe. Das gilt für das Arzneimittelrecht, das in diesem Jahr evaluiert wird. Das gilt für Schwerpunktstaatsanwaltschaften, wo bereits sehr gute Erfahrungen gemacht wurden.

Es gibt Stimmen, die den Begründungszusammenhang, den Spitzensport zu fördern, für nicht mehr zeitgemäß halten.

Eine Gesellschaft wie die Bundesrepublik Deutschland steht vor riesigen Herausforderungen. Wir haben das Thema Eurokrise, die ein Symptom für unsere unglaubliche Verflechtung ist. Um das Jahr 2030 herum werden wir mehr Menschen außerhalb des Erwerbslebens als innerhalb haben. Da ist die Trennung in der Gesellschaft programmiert. Wir stehen vor gesellschaftlichen Aufgaben, wo Leistung und Leistungsbereitschaft Schlüsselbegriffe sind. Aber Leistung mit Regeln und sozialer Verantwortung und Respekt voreinander. Insofern glaube ich, dass die Gesellschaft gut beraten ist zu sagen: Auch intern müssen wir Leistung fordern, aber unter dem Aspekt Talent und Verantwortung. Da kann gerade der Spitzensport, wenn er verantwortlich geführt wird, Vorbild weit über den Sport hinaus sein. Zum Beispiel Magdalena Neuner, in der Art, wie sie bei ihren Wettkämpfen auftrat – und auch in der Art, wie sie zurück-getreten ist, indem sie sagte: „Das war für mich ein wichtiger Abschnitt meines Lebens, aber jetzt setze ich andere Prioritäten.“ Ein solches Vorbild ist für mich eine Begründung für staatliche Förderung. Dazu kommt die Außenwirkung, die staatliche Repräsentanz der Bundesrepublik. Das gilt natürlich bei Olympischen Spielen in einer besonderen Weise. Aber da schließe ich ausdrücklich auch die nichtolympischen Sportarten und die World Games mit ein.

Brauchen wir eine neue gesellschaftliche Diskussion über Leistung und Elite?

Ich bin für eine solche gesamtgesellschaftliche Diskussion. Aber es muss ein offenes System geben. Wir sind heute viel stärker in der Situation, dass sich Elite selbst reproduziert. Ich bekenne mich zur Elite, wir brauchen Leistung, damit wir unsere gesellschaftlichen Aufgaben lösen können. Aber das geht nur mit absolutem Engagement jedes Einzelnen, im Beruf, in der Familie, in der Erziehung. Auch da kann der Sport wieder Beispiel sein. Es gibt kein offeneres System als den Sport. Er verlangt kein Abitur, er verlangt keine bestimmten sozialen Voraussetzungen. Ein Talent hat die Chance, entdeckt und gefördert zu werden. Eigentlich müssen wir der Gesellschaft klar machen: Wir dürfen kein Talent verlieren. Eine gesellschaftspolitische Kampagne für mehr Leistung wäre auch für den Sport interessant.


  • Rainer Brechtken, Präsident des Deutschen Turner-Bundes, im Interview mit der DOSB-Presse. Foto: Picture Alliance
    Rainer Brechtken, Präsident des Deutschen Turner-Bundes, im Interview mit der DOSB-Presse. Foto: Picture Alliance