Rund um Giengers TSV Künzelsau macht Einigkeit die Turner stark

Der zehnte Teil der Serie Stars und ihre Vereine: Schon vor mehr als 30 Jahren gelangten die Künzelsauer und die benachbarten Nachfahren von Turnvater Jahn zu der Einsicht, dass Turnen nach klassischem Muster mit Vereinsmeierei und Kirchturmspolitik keine Zukunft haben wird.

Leider haben kleine Steinplatten das Rasenstück ersetzt, auf dem Eberhard Gienger als Kind nur einen Steinwurf von seinem Elternhaus in Künzelsau entfernt jede freie Minute verbrachte. Otto Zipplies, der 60 Jahre ältere Lehrmeister und Mentor des späteren Weltklasseturners, hatte auf dem kleinen Grasgeviert einen Barren, ein Pauschenpferd und ein Reck aufgebaut. „Nach der Schule haben wir dort fast jeden Nachmittag trainiert. Auch im Winter, dann wurde eben mit Handschuhen geturnt. Heute ist das für Kinder unvorstellbar“, erinnert sich der 57-Jährige, mit dessen Namen in den 70ern eine ganze Sportart gleichgesetzt wurde.

Unter Zipplies Aufsicht übte an den „Gartengeräten“ damals auch Erwin Bergmann fleißig mit. Sein Freund Eberhard wechselte mit 17 Jahren als deutscher Jugendmeister nach Frankfurt am Main ans frisch gegründete Leistungszentrum des Deutschen Turner-Bundes (DTB). Er wurde später ein berühmter Athlet, kreierte mit dem Gienger-Salto sogar ein neues Element am Reck, sitzt seit 2002 für die CDU im Deutschen Bundestag und avancierte beim Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) zum Vizepräsidenten für Leistungssport. Bergmann indes blieb eine größere sportliche Karriere wegen einer Handgelenksverletzung in jungen Jahren versagt. Der Kaufmann studierte in Mannheim und kehrte nach Hause in die 12.000 Einwohner zählende Kreisstadt am Fluss Kocher im Hohenlohe-Kreis zurück. Seit fünf Jahren lenkt der 54-Jährige die Geschicke des rund 1.400 Mitglieder zählenden Turn- und Sportvereins (TSV) Künzelsau als Erster Vorsitzender. Weit früher stellte er als Abteilungsleiter Turnen die Weichen, um der von ihm geliebten altehrwürdigen Sportart in der Moderne eine Perspektive zu sichern.

„Nur in der Gemeinschaft können wir überleben“

Schon vor mehr als 30 Jahren gelangten die Künzelsauer und die benachbarten Nachfahren von Turnvater Jahn zu der Einsicht, dass Turnen nach klassischem Muster mit Vereinsmeierei und Kirchturmspolitik keine Zukunft haben wird. Folgerichtig starteten keine Vereinsmannschaften mehr. Im Jahr 1978 trat erstmals eine Riege der Kunstturnvereinigung Hohenlohe (KTV) vor die Kampfrichter. Waren an dem von Bergmann wesentlich angekurbelten Modell zu Beginn nur ein paar Vereine beteiligt, so kamen später nach und nach weitere hinzu. Aktuell kooperieren unter dem KTV-Dach neun Vereine. Von Crailsheim, Gaildorf, Ilshofen und Ingelfingen über Markelsheim und Niedernhall bis Öhringen und Weikersheim entsenden sie ihre besten Kräfte in die drei Damen- und zwei Herrenmannschaften der KTV. „Wir sind eine Randsportart. Nur in der Gemeinschaft können wir überleben. Nur gemeinsam sind wir stark“, weiß Bergmann, dass nur im Verbund konkurrenzfähige Teams an den Start geschickt werden können. Ansonsten würde jeder für sich in der sportlichen Bedeutungslosigkeit versinken. Die erste Männer-Riege, die im Kern von den Öhringern gestellt wird, hat es bis in die Regionalliga geschafft. Die erste Frauen-Riege, die vor allem von Turnerinnen des TSV Künzelsau getragen wird, mischt eine Klasse tiefer in der Oberliga mit.

Für dieses Niveau müssen die Akteure mitunter weite Wege auf sich nehmen. Julia Sorg (21) etwa kommt mindestens zweimal pro Woche aus dem rund 30 Kilometer entfernten Ilshofen herüber zum Training nach Künzelsau, Susanne Beck (24) aus Sindeldorf hat immerhin die halb so lange Strecke zu bewältigen. „Wenn man einmal ernsthaft mit diesem Sport beginnt, dann will man natürlich in die Mannschaft und sich nicht mit Pille-Palle-Turnen begnügen. Ansonsten könnte man ja gleich mit 14 wieder aufhören“, erläutern die beiden jungen Frauen ihre Motivation. „Außerdem haben wir eine sehr gute Trainerin.“

Gemeint ist Reneè Weigel, die 1991 aus Leipzig nach Künzelsau kam. Gemeinsam mit ihrem Mann Ralf, der früher beim SC Dynamo Berlin turnte. „Wir hatten gemerkt, dass mit gut ausgebildetem Personal alles steht und fällt und damals per Annonce ein Trainer-Ehepaar gesucht“, berichtet Bergmann. Die frühere Wasserspringerin betreut von den Kleinsten bis zu den Großen sämtliche Turnerinnen und bietet insgesamt vier Mal pro Woche Übungseinheiten an. Ihr Mann kann dieses Pensum bei den Turnern unmöglich leisten, nachdem er für den internationalen Tennissport ein Patent anmeldete. Mit seiner Erfindung, die Netzaufschläge automatisch registriert und die „Fingerprüfung“ am Netz überflüssig macht, reist er nun von einem großen Turnier zum nächsten. Bergmann spricht vor diesem Hintergrund in Bezug auf die fernere Betreuung der TSV-Turner von einem „Umbruch“. Für die Knirpse jedoch wurde eine Lösung erdacht, die langfristig und über Künzelsau hinaus für Nachschub sorgen soll.

Im „Kochertal-Projekt“ wird der Nachwuchs gefördert

Jens Uhlmann heißt der Mann, der momentan rund 60 Kinder vom fünften Lebensjahr an in die Geheimnisse des Geräteturnens einweiht. Bei der KTV mit einem unbefristeten Vertrag angestellt, wirkt der 29-Jährige im Rahmen des „Kochertal-Projektes“ in der Turnhallen sowohl der Künzelsauer sowie nebenan in Ingelfingen und Niedernhall. Seine Schützlinge hat er in zehn Gruppen eingeteilt, mit denen der „Wandertrainer“ pro Woche je zweimal übt. „Eine solche Arbeitsstelle zu bekommen, das ist im Turnen ein außerordentlich seltener Glücksfall. Bei welchen Vereinen werden schon eigene Nachwuchstrainer beschäftigt?“, sagt Uhlmann, der früher in Sindellingen aktiv war. Möglich wurde die Personalie, weil das seit 2005 laufende „Kochertal-Projekt“ aus einem Mix von zwei privaten Stiftungen, den beteiligten Vereinen und den Eltern finanziert wird, die pro Kind monatlich 26 Euro berappen.

Der Idee lag die Erkenntnis zugrunde, dass unter dem Dach der KTV über den Wettkampfbetrieb hinaus dringend etwas für die gemeinsame Nachwuchsentwicklung getan werden muss, wenn der turnerische Boden vor Ort nicht vollends austrocknen soll. „Im Schulsport werden die Geräte kaum noch aufgebaut, da wird nur noch selten geturnt“, weiß Bergmann nur allzu gut und berichtet, dass von seinen rund 500 Mitgliedern in der Turnabteilung nur etwa ein Zehntel auf Giengers Spuren wandelt. Die anderen Turner verteilen sich auf das immer beliebter werdende Rope Skipping, das als moderne Form des Seilspringens gelten kann, auf die Gymnastik- und Seniorengruppen und auf die erfolgreiche Sparte Jazzdance des TSV Künzelsau. Kein Wunder, dass ausgerechnet diese Sportlerinnen sich für die Wettbewerbe beim Deutschen Turnfest vom 30. Mai bis 5. Juni in Frankfurt am Main qualifiziert haben.

Die Turner wollen den Leichtathleten aus der Krise helfen

Jens Uhlmann freut sich, dass im vier Kilometer entfernten Ingelfingen bald eine neue Halle entstehen soll. Dort werden Stufenbarren, Pauschenpferd, Schwebebalken und all die anderen Geräte nicht immer erst auf- und abgebaut werden müssen wie bei den Trainingseinheiten der TSV-Turner in der großen Schulsporthalle mit ihrem federnden Schwingboden. Wenn alles gut geht, kann die neue Halle im Nachbarort 2010 öffnen. Der Nachwuchscoach ist froh, dass er dann „etwas mehr Luft“ hat, damit Eltern den Bewegungsdrang ihrer Kinder unter seinen Fittichen ausleben lassen können. Andere Eltern klopfen mit ihren Kleinen bei Uhlmann einfach aus Interesse an der Sportart an, die sie früher selbst ausübten und die zwischen Öhringen und Künzelsau traditionell und keineswegs nur wegen Giengers Glanzleistungen tief verwurzelt ist. 1974 hatte er den WM-Titel am Reck gewonnen und zwischen 1973 und 1981 dreimal EM-Gold, und die 1977 eröffnete Dreifelder-Sporthalle in seiner Heimatstadt wurde nach Gienger benannt. Im Foyer erinnert heute der alte, malträtierte Barren aus Zipplies Garten an diese Glanzzeiten.

 „Heutzutage lernt man das Geräteturnen kaum noch in der Schule. Dafür muss man schon einen Verein finden, der das anbietet“, sagt Uhlmann. „Ohne Kooperationen zwischen den Vereinen und der Finanzierung von gut ausgebildeten Trainern ginge es der Sportart noch weit schlechter“, ergänzt Erwin Bergmann. „Vielleicht wäre dann das Kunstturnen hier schon fast tot.“ Ähnlichen Gefährdungen im Hohenlohe-Kreis ist die Leichtathletik ausgesetzt. Insofern reifte innerhalb der Kunstturnvereinigung der Plan, nach dem Vorbild des „Kochertal-Projekts“ die andere der ehedem großen Kernsportarten zu unterstützen. Im Herbst dieses Jahres soll eine fest angestellte Trainerin beim KTV ihre Tätigkeit aufnehmen. Nach dem Vorbild von Uhlmann soll sie sich für mehrere Vereine um kleine Läufer, Springer und Werfer kümmern. So wollen die Turner die Leichtathletik „wieder zum Leben erwecken“, heißt das erklärte Ziel.

Gemütlichkeit gehört seit eh und je dazu

Dass derlei „Amtshilfe“ einmal notwendig sein werde, muss Waltraut Horlacher (81) und Marga Schereiber (79) einigermaßen  seltsam erscheinen. Die beiden Frauen kommen mit den anderen Mitgliedern der so genannten „grauen Riege“ gerade von ihrem traditionellen Kaffeeklatsch, der stets mittwochs stattfindet. Kürzlich wurden die Beiden, die gemeinsam mit zwei Dutzend anderer betagter „Montagsturnerinnen“ ihrem Sport die ewige Treue halten, für 60-jährige Mitgliedschaft beim TSV Künzelsau ausgezeichnet. „Heute turnen wir nicht mehr an den Geräten, sondern belassen es eher bei Gymnastik“, sagt Waltraut Horlacher. „Anschließend gehen wir zusammen in die Wirtschaft. Der gemütliche Teil gehört dazu. Das war bei uns schon immer so.“

Eine Serie von Andreas Müller