Runder Tisch gegen Kindesmissbrauch

Im Bundesjustizministerium fand am Donnerstag (30. September 2010) die zweite Sitzung des Runden Tisches "Sexueller Kindesmissbrauch" statt.

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Den gemeinsamen Vorsitz hatten Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesfamilienministerin Kristina Schröder und Bundesbildungsministerin Annette Schavan.

An dem Treffen nahmen auch die Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs, Christine Bergmann, sowie rund 60 Vertreter aus Politik, Kirche und Gesellschaft teil. Auch der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) war beteiligt, vertreten durch den DOSB-Vizepräsidenten Eberhard Gienger und den Geschäftsführer der Deutschen Sportjugend (dsj) Martin Schönwandt.

Die drei Bundesministerinnen legten dem Runden Tisch Sachstandsberichte der von ihnen geleiteten drei Arbeitsgruppen zur Beratung vor, die bei der ersten Plenumssitzung im April eingesetzt worden waren. Die Unabhängige Beauftragte stellte den Zwischenbericht zu ihrer telefonischen Anlaufstelle und die Kampagne "Sprechen hilft" vor. Darüber hinaus berichteten Vertreterinnen und Vertreter von "Wildwasser" und "Tauwetter" über den Kongress "Aus unserer Sicht", zu dem sich am Wochenende in Berlin Menschen getroffen hatten, denen in ihrer Kindheit und Jugend selbst sexuelle Gewalt angetan worden ist.

Schadensersatzansprüche von Opfern sollen deutlich verlängert werden

"Die Arbeitsgruppe Justiz hat eine Reihe von konkreten Vorschlägen erarbeitet, wie der Gesetzgeber den Schutz des Opfers im Ermittlungs- und Strafverfahren verbessern kann", berichtete Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger dem Runden Tisch. So sollen Mehrfachvernehmungen der Opferzeugen durch den verstärkten Einsatz richterlicher Videovernehmung im Ermittlungsverfahren möglichst vermieden werden. Dem gleichen Zweck dient  eine Neufassung der Vorschriften, welche eine Anklage wegen Sexualdelikten unmittelbar zum Landgericht als dann einziger Tatsacheninstanz ermöglichen. Opfer von Sexualdelikten sollen zudem in weiterem Umfang als bisher einen Opferanwalt auf Staatskosten in Anspruch nehmen können. Eine strafbewehrte gesetzliche Anzeigenpflicht für Menschen, die Kenntnis von Fällen sexuellen Missbrauchs erlangen, lehnten die Rechtsexperten im Interesse der Opfer dagegen ab. "Wir sind vielmehr zu dem Ergebnis gelangt, dass eine Selbstverpflichtung der betroffenen Organisationen, im Verdachtsfall die Staatsanwaltschaft über einen Tatverdacht zu informieren, der bessere Weg ist", so Leutheusser-Schnarrenberger. Deshalb arbeite die AG Justiz derzeit intensiv daran, Leitlinien zur Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zu formulieren. Leutheusser-Schnarrenberger: "So soll verhindert werden, dass Verdachtsfälle auf sexuellen Missbrauch - wie leider in der Vergangenheit allzu häufig geschehen - weiter unter der Decke gehalten werden. Aus meiner Sicht sind die Strafverfolgungsbehörden grundsätzlich immer einzuschalten, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine Sexualstraftat begangen wurde. Ausnahmen hiervon sollten nur in sehr engem Rahmen möglich sein. Die Weitergabe der Information an die Strafverfolgungsbehörden bedeutet natürlich nicht, dass die Verpflichtung der betroffenen Organisation zum Schutz der ihr anvertrauten Kinder und Jugendlichen "abgegeben" würde." Darüber hinaus beabsichtigt das Bundesjustizministerium einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem die zivilrechtliche Verjährungsfrist für alle Schadensersatzansprüche von Opfern sexueller Gewalt von derzeit drei auf 30 Jahre verlängert werde.

Auch Menschen mit pädophilen Neigungen brauchen Anlaufstelle

Der Prävention sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen dient das Präventionsprojekt "Dunkelfeld" des Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Berliner Charité. Es ist eine Anlaufstelle für Menschen, die sich selbst aufgrund ihrer pädophilen Neigungen als Gefahr wahrnehmen und sich deshalb um eine Therapie bemühen.  Das Bundesministerium der Justiz fördert das Projekt seit 2005 mit jährlich 250.000 Euro. In den derzeit laufenden Beratungen des Haushaltsausschusses ist es gelungen, nicht nur die Fortführung dieses Projekts für die nächsten drei Jahre zu beschließen, sondern auch eine Aufstockung der Mittel auf 387.000 Euro jährlich bis 2013.

Auch die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Kristina Schröder, hat aus den Beratungen am Runden Tisch bereits erste Konsequenzen gezogen: Die Ministerin will  dafür sorgen, dass
1.  jede Einrichtung, die mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, bestimmte Standards erfüllt 2. diese Standards mit staatlicher Förderung und Finanzierung verknüpft werden, 3. die Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses durchgesetzt wird, 4. die Selbstverpflichtungen der Institutionen festgelegt werden und 5. eine bundesweite Fortbildungsoffensive startet.

Unterstützung für Ehrenamtliche - kein Generalverdacht

"Die Diskussionen am Runden Tisch haben viele gute und wichtige Empfehlungen auf den Weg gebracht ", sagte Familienministerin Dr. Kristina Schröder. "Es hat sich gezeigt: Diese gemeinsame Kraftanstrengung war richtig und notwendig. Erste Zwischenergebnisse werde ich deshalb bereits in dem Entwurf für das Bundeskinderschutzgesetz aufgreifen können. Der Entwurf wird alle öffentlichen Träger dazu verpflichten, Kinderschutzstandards zu entwickeln, anzuwenden und auch zu überprüfen. Wichtig ist mir dabei: Es darf keinen Generalverdacht gegen Ehrenamtliche geben, sondern wir wollen sie unterstützen und in die Lage versetzen, zu erkennen, wenn mit den Kindern etwas nicht stimmt. Im Kinderschutzgesetz soll außerdem geregelt werden, dass die Vorlage des erweiterten Führungszeugnisses für alle hauptamtlichen Mitarbeiter zur Pflicht wird. Zudem werden wir in den nächsten vier Jahren gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung und -vernachlässigung e.V. eine bundesweite Fortbildungsoffensive starten und dafür drei Millionen Euro bereitstellen. Fachkräfte, die in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten, sollen umfassend zum Thema sexualisierte Gewalt fortgebildet werden."

Tabu des Schweigens über Missbrauchsfälle ist gebrochen

Die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Annette Schavan, gab bekannt, dass ihr Haus insgesamt 32 Millionen Euro für Forschungsprojekte zu Ausmaß, Ursachen und Folgen von Missbrauch und Gewalt im Kindes- und Jugendalter zur Verfügung stellt. In einem interdisziplinären Forschungsnetz "Missbrauch, Vernachlässigung und Gewalt" werden die besten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Deutschlands aus der medizinischen, psychologischen und auch der sozialwissenschaftlichen Forschung zusammenarbeiten. Ziel ist die Entwicklung von Maßnahmen für eine bessere Prävention von Gewalt an Kindern und für eine wirksame Therapie von Betroffenen. Das BMBF wird dieses Forschungsnetz mit rund 20 Millionen Euro ausstatten. Auch für die Förderung bildungswissenschaftlicher Forschung werden zusätzliche Mittel bereitgestellt. Zentrales Ziel im Bereich der Bildungsforschung ist es, Forschungsschwerpunkte abzustimmen und Forschungsverbünde aufzubauen. Durch die Erweiterung der Wissensbasis kann die Aus-, Fort- und Weiterbildung zum Umgang mit Missbrauchsfällen sinnvoll auf- und ausgebaut werden. "Es ist das Tabu gebrochen, über Missbrauchsfälle zu sprechen. Das bietet die Chance, die Forschung zu diesem Thema voranzubringen", sagte Bundesbildungs- und -forschungsministerin Schavan. Um die Datengrundlage zu verbreitern, wird das Bundesministerium für Bildung und Forschung des Weiteren eine Aktualisierung und Erweiterung der einzigen deutschen Repräsentativbefragung aus dem Jahr 1992 zur Thematik des sexuellen Missbrauchs von Kindern fördern. Diese Untersuchung wird vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) durchgeführt. "Wir wollen früher auf Täter aufmerksam werden und dadurch Kindesmissbrauch wirkungsvoll verhindern. Dazu brauchen wir gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse", so Schavan.  

Bei 80 Prozent der Betroffenen liegt Missbrauch mindestens 20 Jahre zurück

Die Unabhängige Beauftragte Christine Bergmann, Bundesministerin a.D., stellte dem Runden Tisch einen Zwischenbericht zu ihrer telefonischen Anlaufstelle sowie erste Reaktionen nach Start der Kampagne "Sprechen hilft" vor. Demnach haben die Unabhängige Beauftragte bis zum Start der Kampagne 2500 Anrufe und Briefe erreicht, seit Start der Kampagne in der vergangenen Woche sind weitere 1450 Anrufe und über 350 Briefe eingegangen. Bei 80% der Betroffenen liegt der Missbrauch mindestens 20 Jahre zurück. Diejenigen, die sich bereits an jemanden gewendet hatten, berichten vielfach, dass ihnen nicht geglaubt wurde oder dass sie sogar dafür bestraft wurden. Fast alle bestätigen, wie wichtig es sei, dass das Thema in der Öffentlichkeit wahrgenommen und das ihnen widerfahrene Unrecht als solches anerkannt werde. Noch vor der Forderung nach Verjährung und Entschädigung stehe bei den Betroffenen die Forderung nach einem umfassenden Ausbau der Beratungs- und Therapieangebote. Es fehle vor allem an speziellen Angeboten für Jungen und Männer sowie an Angeboten in ländlichen Gebieten.

Kampagne "Sprechen hilft" findet gute Resonanz

Am 10. November wird in Zusammenarbeit mit den Bundesministerinnen der Justiz, für Familie und für Bildung ein Gespräch mit Betroffenen und den Mitgliedern des Runden Tisches stattfinden, das von der Unabhängigen Beauftragten vorbereitet und moderiert wird. Die nächste Plenumssitzung des Runden Tisches findet voraussichtlich am 1. Dezember statt. Dann soll auch ein Zwischenbericht an die Bundesregierung beschlossen werden.


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