Sarajevo 1984

Der frühere „Südkurier“-Sportredakteur Lutz Rauschnick erinnert an seine olympischen Tage von Sarajevo 1984. Derzeit finden dort das EYOWF statt.

 

Die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 1984 in Sarajevo. Foto: picture-alliance
Die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 1984 in Sarajevo. Foto: picture-alliance

Am Sonntag ist in Sarajevo, der Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina, das Europäische Olympische Jugend-Winterfestival (EYOWF) eröffnet worden. Die jungen Athleten, darunter auch 37 Sportlerinnen und Sportler des Jugend Team Deutschland, sollen olympische Luft schnuppern, die Atmosphäre aufsaugen und Erfahrungen sammeln. Für das rund 300.000 Einwohner zählende Sarajevo ist die Ausrichtung der Spiele umgekehrt Gelegenheit, nach schwierigen Jahren Aufbruchstimmung zu vermitteln. 1984 wurden hier bereits Olympische Winterspiele veranstaltet. Nicht einmal zehn Jahre später war Sarajevo vom jugoslawischen Bürgerkrieg erfasst. Auch Bobbahn und Skisprungschanze waren Ziele und stehen bis heute als Mahnmale in der Landschaft. Als „Symbol des Friedens“ wurde im April 2018 die zerstörte Seilbahn auf den Trebevic, den Hausberg der Hauptstadt, wiederaufgebaut.

Der Ausweis liegt heute noch im Schrank des Arbeitszimmers in der kleinen Holzkiste mit dem Papieraufkleber „Oly – WM“. Der gelbe Aufdruck auf der Pressekarte ist etwas verblasst, aber noch lesbar: „press E02900 – Rauschnick Lutz FRG – NOVINAR“. Dazu das Passbild eines – im Vergleich zu heute – 35 Jahre jüngeren Sportjournalisten, legitimiert für die Olympischen Winterspiele 1984 in Sarajevo.

Und es begann schon so richtig prima. Es muss so um den 3. oder 4. Februar gewesen sein, auf dem Flughafen Zürich startete der – so angekündigte – Direktflug über Sarajevo nach Belgrad. Kaum auf Flughöhe, kam die Durchsage der Stewardess in Englisch, Deutsch und Serbisch: Wer zuerst nach Belgrad wolle, solle die Hand heben. Und siehe da – die meisten wollten: Flugplanänderung, Sarajevo musste noch zwei Stunden warten.

Doch im Pressedorf brannten auch nachts noch die Lichter, sie hatten ein eigenes neues Stadtviertel gebaut für den Medientross, später als Wohnviertel genutzt. Nun ja, wenn der Kollege im Zimmer nebenan einen nächtlichen Hustenanfall bekam, blieb das nicht ungehört – aber es wurde alles überdeckt von der unglaublichen Freundlichkeit und Offenheit der Menschen dort. Eigene Presserestaurants gab es in fast jedem Wohnblock für die tausende Medienmenschen, die orientalische Atmosphäre speziell der Altstadt begeisterte uns, die vielen Moscheen und der berühmte Basar: All das bettete den Sport in ein Wohlfühl-Umfeld ein.

Sport im Wohlfühl-Umfeld

Ja, der Sport. Wir hatten damals „unseren“ Biathleten Peter Angerer, der mit seinem kompletten Gold-Silber-Bronze-Medaillensatz für positive Stimmung sorgte zwischen ansonsten grundsätzlich kritisch eingestellten Journalisten und den DSV-Funktionären. Und mit dem zweiten Gold durch den Rodel-Doppelsitzer der Männer mit Stanggassinger und Wembacher war die sportliche Bilanz aus deutscher Sicht (Achte im Medaillenspiegel) wenigstens halbwegs erträglich. Unvergessen aber bleibt der Abend beim Eiskunstlaufen: Das britische Paar Jayne Torvill und Christopher Dean tanzte zum „Bolero“ mit – so noch nie vergebener – Höchstnote von neun-  mal (!) 6,0 zu Gold: In der Erinnerung läuft mir heute noch ein wohliger Schauer den Rücken hinunter. Einmalig. Sarajevo.

Doch das politische Kribbeln in Serbien war schon 1984 auch für uns Gäste deutlich zu spüren. Unterschiedliche Landesregionen etwa betrieben die verschiedenen Medienrestaurants, wer sich von uns „erlaubte“, mal ein anderes zum Essen aufzusuchen, bekam anderntags deutlich und klar eine „Ansage“, warum man „bei denen da“ („this bad guys“) getafelt habe.

Spektakuläre Rennen bei minus 22 Grad

So wirklich machten wir uns damals keinen Kopf darüber, eher etwa über die deutsche Männer-Langlaufstaffel mit Behle, Dotzler, Schöbel und Peter Zipfel, die in meinem – in vielen Journalistenjahren, WMs und Olympischen Spielen – spektakulärsten Rennen, das ich beschreiben durfte, Sechste wurde: Bei Schneesturm und minus 22 Grad konnte das kleine Häufchen der kälteresistenten deutschen Journalisten sich in Zielnähe in einem Militärzelt um den kleinen Bollerofen mittendrin aufwärmen und schickte immer einen raus zum Gucken, wenn die Aufrechten der Loipe vorbeischoben. Nach diesem Rennen wurde vom Weltskiverband übrigens festgelegt, das es am kältesten Punkt der Strecke höchstens minus 20 Grad haben dürfe, ansonsten muss der Start verschoben werden. Aber ein wenig (!) Schnaps, ein Ofen und geradebrechte englisch-deutsch-serbische Gesprächsbrocken hielten an jenem Tag die Stimmung oben.

So waren sie. Einfache Menschen, die froh und stolz waren, diese Spiele ausrichten zu dürfen. Das merkten wir ständig, die Herzlichkeit, mit der sie alle uns begegneten, war überwältigend. Selbst dem Taxifahrer, mit dem ich nach einem Apothekenbesuch (Oropax-Kauf wegen nächtlicher kollegialer Töne aus dem Nebenzimmer...) verspätet zum Damenrennen fahren wollte und der mich genau am Berg 14 Kilometer entfernt vom richtigen absetzte, konnte ich nicht gram sein. Statt alpinem Rennsport live haben wir es vor dem Fernseher in einer kleinen Kneipe gemeinsam verfolgt. Ging auch. (Für diese Geschichte habe ich damals das einzige Lob unserer obersten Zeitungs-Chefin bekommen, mit grünem Filz geschrieben!).

Schmerzhaft, verstörende Bilder

Und so war es sehr schmerzhaft, verstörend, die TV-Bilder schauen zu müssen von der zerschossenen Bobbahn während der Belagerung Sarajevos, zu lesen von der Bombenexplosion auf dem großen Markt, auf dem wir während unserer wenigen Freistunden so gerne eingekauft und gegessen haben.

Der Bürgerkrieg hatte eine von Landminen zerfressene Region umgewühlt, die sich 1984 den Besuchern von einer wunderbaren Seite, von der menschlichen gezeigt hatte, da waren Gastgeber, die zurecht stolz sein konnten auf das von ihnen Geleistete – wir haben es erleben dürfen und es gewürdigt.

An das Maskottchen Vučko mit seinem „Sarajewouu-Geheul“ habe ich mich oft erinnert und ich bin sehr froh, dass das Flugzeug im Februar 1984 tatsächlich noch in Sarajevo gelandet war.

(Quelle: DOSB-Presse, Ausgabe 7/Lutz Rauschnick)


  • Die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 1984 in Sarajevo. Foto: picture-alliance
    Die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 1984 in Sarajevo. Foto: picture-alliance